*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 30165 ***
Transcriber's Note: This book was transcribed from the edition byVerlag von Otto Hendel, Halle a. d. Saale, 1900.Text that was spaced-out in the originalhas been changed to use italics.
Deutsch von H. Hellwag
Vorwort des Autors.
Die meisten der hier erzählten Abenteuer haben sichtatsächlich zugetragen. Das eine oder das andere habeich selbst erlebt, die anderen meine Schulkameraden. HuckFinn ist nach dem Leben gezeichnet, nicht weniger TomSawyer, doch entspricht dieser nicht einer bestimmten Persönlichkeit,sondern wurde mit charakteristischen Zügenmehrerer meiner Altersgenossen ausgestattet und darfdaher jenem gegenüber als einigermaßen kompliziertespsychologisches Problem gelten.
Ich muß hier bemerken, daß zur Zeit meiner Erzählung— vor dreißig bis vierzig Jahren — unter denUnmündigen und Unwissenden des Westens noch dieseltsamsten, unwahrscheinlichsten Vorurteile und Aberglaubenherrschten.
Obwohl dies Buch vor allem zur Unterhaltung derkleinen Welt geschrieben wurde, so darf ich doch wohlhoffen, daß es auch von Erwachsenen nicht ganz unbeachtetgelassen werde, habe ich doch darin versucht, ihnenauf angenehme Weise zu zeigen, was sie einst selbst waren,wie sie fühlten, dachten, sprachen, und welcher Art ihrEhrgeiz und ihre Unternehmungen waren.
Erstes Kapitel.
Tom!“
Keine Antwort.
„Tom!“
Alles still.
„Soll mich doch wundern, wo der Bengel wiedersteckt! Tom!“
Die alte Dame schob ihre Brille hinunter und schautedarüber hinweg; dann schob sie sie auf die Stirn undschaute darunter weg. Selten oder nie schaute sie nacheinem so kleinen Ding, wie ein Knabe ist, durch dieGläser dieser ihrer Staatsbrille, die der Stolz ihresHerzens war und mehr stilvoll als brauchbar; sie würdedurch ein paar Herdringe ebensoviel gesehen haben. Unruhighielt sie einen Augenblick Umschau und sagte, nichtgerade erzürnt, aber doch immer laut genug, um im ganzenZimmer gehört zu werden: „Ich werde strenges Gerichthalten müssen, wenn ich dich erwische, ich werde —“
Hier brach sie ab, denn sie hatte sich inzwischenniedergebeugt und stocherte mit dem Besen unter dem Bettherum, und dann mußte sie wieder Atem holen, um ihremÄrger Ausdruck zu verleihen. Sie hatte nichts als dieKatze aufgestöbert.
„So ein Junge ist mir noch gar nicht vorgekommen!“
Sie ging zur offenen Tür, blieb stehen und spähte zwischenden Weinranken und dem blühenden Unkraut, welchezusammen den „Garten“ ausmachten, hindurch. Kein Tom.So erhob sie denn ihre Stimme und rief in alle Eckenhinein: „Tom, Tom!“ Hinter ihr wurde ein schwachesGeräusch hörbar und sie wandte sich noch eben rechtzeitigum, um einen kleinen Burschen zu erwischen und an derFlucht zu hindern. „Also, da steckst du? An die Speisekammerhabe ich freilich nicht gedacht! Was hast du dennda wieder gemacht, he?“
„Nichts.“
„Nichts! Schau deine Hände an und deinen Mund.Was ist das?“
„Bei Gott, ich weiß es nicht, Tante!“
„Aber ich weiß es, ‘s ist Marmelade. Wie oft habeich dir gesagt, wenn du über die Marmelade gingest, würdeich dich bläuen. Gib mir den Stock her!“
Der Stock zitterte in ihren Händen. Die Gefahr wardringend.
„Holla, Tante, sieh dich mal schnell um!“
Die alte Dame fuhr herum und brachte ihre Röckein Sicherheit, während der Bursche, den Augenblick wahrnehmend,auf den hohen Bretterzaun kletterte und jenseitsverschwand. Tante Polly stand sprachlos, dann begannsie gutmütig zu lächeln. „Der Kuckuck hole denJungen! Werde ich denn das niemals lernen? Hat ermir denn nicht schon Streiche genug gespielt, daß ich immerwieder auf den Leim krieche? Aber alte Torheit ist diegrößte Torheit, und ein alter Hund lernt keine neuenKunststücke mehr. Aber, du lieber Gott, er macht jedenTag neue, und wie kann jemand bei ihm wissen, waskommt! Es scheint, er weiß ganz genau, wie lange ermich quälen kann, bis ich dahinter komme, und ist gar zugerissen, wenn es gilt, etwas ausfindig zu machen, ummich für einen Augenblick zu verblüffen oder mich widerWillen lachen zu machen, es ist immer dieselbe Geschichte,und ich bringe es nicht fertig, ihn zu prügeln. Ich tuemeine Pflicht nicht an dem Knaben, wie ich sollte, Gottweiß es. ‚Spare die Rute, und du verdirbst dein Kind‘,heißt es. Ich begehe vielleicht unrecht und kann es vormir und ihm nicht verantworten, fürcht‘ ich. Er steckt vollerNarrenspossen und allerhand Unsinn — aber einerlei! Erist meiner toten Schwester Kind, ein armes Kind, und ichhabe nicht das Herz, ihn irgendwie am Gängelband zuführen. Wenn ich ihn sich selbst überlasse, drückt michmein Gewissen, und so oft ich ihn schlagen muß, möchtemit das alte Herz brechen. Nun, mag‘s drum sein, derweibgeborene Mensch bleibt halt sein ganzes Leben durchin Zweifel und Irrtum, wie die heilige Schrift sagt,und ich denke, es ist so. Er wird wieder den ganzen AbendBlindekuh spielen, und ich sollte ihn von Rechts wegen, umihn zu strafen, morgen arbeiten lassen. Es ist wohl hartfür ihn, am Samstag stillzusitzen, wenn alle anderen KnabenFeiertag haben, aber er haßt Arbeit mehr als irgendsonst was, und ich will meine Pflicht an ihm tun, oder ichwürde das Kind zu Grunde richten.“
Tom spielte Blindekuh und fühlte sich sehr wohldabei. Zur rechten Zeit kehrte er ganz frech nach Hausezurück, um Jim, dem kleinen, farbigen Bengel, zu helfen,noch vor Tisch das Holz für den nächsten Tag zu sägen undzu spalten — und schließlich hatte er Jim die Abenteuerdes Tages erzählt, während Jim drei Viertel der Arbeitgetan hatte. Toms jüngerer Bruder (oder vielmehrHalbbruder) Sid war bereits fertig mit seinem Anteil ander Arbeit, dem Zusammenlesen des Holzes, denn er warein phlegmatischer Junge und hatte keinerlei Abenteuerund kühne Unternehmungen. Während Tom nun seineSuppe aß und nach Möglichkeit Zuckerstückchen stahl, stellteTante Polly allerhand Fragen an ihn, arglistige und verfänglicheFragen, denn sie brannte darauf, ihn in eineFalle zu locken. Wie so viele gutherzige Geschöpfe, bildetesie sich auf ihr Talent in der höheren Diplomatie nichtwenig ein und betrachtete ihre sehr durchsichtigen Anschlägeals wahre Wunder inquisitorischer Verschlagenheit.
„Tom,“ sagte sie, „es war wohl ziemlich heiß in derSchule?“
„M — ja“
„Sehr heiß, he?“
„M — ja.“
„Hattest du nicht Lust, zum Schwimmen zu gehen?“
Tom stutzte — ein ungemütlicher Verdacht stieg inihm auf. Er schaute forschend in Tante Pollys Gesicht, aberes war nichts darin zu lesen. So sagte er: „Nein —das heißt — nicht so sehr.“
Die alte Dame streckte ihre Hand nach ihm aus, befühlteseinen Kragen und sagte: „Jetzt, scheint mir, kanndir jedenfalls nicht mehr zu warm sein, nicht?“ Auf dieseArt, dachte sie, habe sie sich von der vollkommenen Trockenheitseines Kragens überzeugt, ohne ihre wahre Absichtvon fern merken zu lassen. Aber Tom hatte trotzdembegriffen, woher der Wind wehte. So beeilte er sichwohlweislich, allen etwaigen Fragen zuvorzukommen.
„Einige von uns haben sich den Kopf unter diePumpe gehalten — meiner ist noch feucht — fühl nur.“Tante Polly ärgerte sich, eine so wichtige Indizieübersehen zu haben; so hatte sie von vornherein ihreWaffen aus der Hand gegeben. Dann kam ihr aber einneuer Gedanke.
„Tom, du hast doch wohl nicht den Kragen, den ichdir an die Jacke genäht hatte, beim Unter-die-Pumpe-haltendes Kopfes abgenommen? Mach doch mal dieJacke auf!“
Toms Mienen hellten sich auf. Er öffnete seine Jacke.Sein Kragen saß ganz fest.
„Wirklich. Na ‘s ist gut, du kannst gehen. Ich hättedarauf geschworen, daß du im Wasser gewesen seiest. Nun,dir geht es diesmal wie der gebrannten Katze, ich habe dichzu Unrecht in Verdacht gehabt — diesmal, Tom.“
Sie war halb verdrießlich, so aus dem Felde geschlagenzu sein, und doch freute sie sich, daß Tom dochwirklich mal gehorsam gewesen war. Plötzlich sagteSidney: „Ich hab‘ aber doch gesehen, daß du seinenKragen mit weißem Zwirn genäht hast — und jetzt ist erauf einmal schwarz!“
„Freilich hab‘ ich weißen genommen — Tom!“
Aber Tom hatte sich schon aus dem Staube gemacht.„Na, warte, Sidney, das sollst du mir büßen,“ damit warer aus der Tür.
An einem sicheren Plätzchen beschaute Tom dann zweilange Nadeln, welche unter dem Kragen seines Rockessteckten, die eine mit schwarzem, die andere mit weißemZwirn.
„Sie allein hätte es nie gemerkt,“ dachte er, „ohnediesen Sid. Einmal schwarzen, das andere Mal weißen— zum Teufel, ich wollte, sie entschiede sich für einen, damitich wüßte, woran ich wäre. Und Sid — na, seinePrügel sind ihm sicher; wenn ich‘s nicht tue, soll manmir die Ohren abschneiden.“
Tom war kein Musterknabe, aber er kannte einen undhaßte ihn von Herzen.
Ein Augenblick — und Tom hatte alle seine Kümmernissevergessen. Nicht, daß sie auf einmal geringer gewordenwären oder weniger auf dem Herzen des kleinenMannes gelastet hätten, — aber Tom hatte eine neue,wundervolle Beschäftigung, und die richtete ihn auf undhalf ihm über alles hinweg — für den Augenblick; wieeben ein Mann alles Mißgeschick beim Gedanken an neueTaten verschmerzt. Diese neue Beschäftigung war eineganz neue Art, zu pfeifen, die ihm irgend ein Negerbengelvor kurzem beigebracht hatte, und die jetzt ungestört geübtwerden mußte. Die wichtige Erfindung beruhte auf einemvogelartigen, schmetternden Triller, mit gleichzeitigem,durch Zungenschlag hervorgebrachten Geschwindmarschvon Tönen. Der Leser weiß, wie man diese delikateMusik ausübt — oder er ist niemals jung gewesen. Tomhatte mit Fleiß und Aufmerksamkeit bald den Trickheraus und schlenderte, den Mund voll Harmonie undStolz im Herzen, die Dorfstraße hinunter. Er fühlte sichwie ein Sterngucker, der ein neues Gestirn entdeckt hat.Nur daß keines Sternguckers Freude und Genugtuungso tief und ungetrübt hatte sein können wie die Toms.
Der Sommerabend war lang und noch hell. Plötzlichhörte Tom auf zu pfeifen. Ein Fremder stand vorihm, ein Bursche, kaum größer als er selbst. Eine neueBekanntschaft, einerlei, welchen Alters und Geschlechts,war in dem armseligen, kleinen St. Petersburg schon einEreignis. Dieser Bursche war gut gekleidet — zu gut füreinen Werktag. Sonderbar. Seine Mütze war zierlich, seineenganliegende blaue Jacke neu und sauber, ebenso seineHose. Er hatte Schuhe an, und es war erst Freitag! Erhatte sogar ein Halstuch um, ein wahres Monstrum voneinem Tuch. Überhaupt hatte er etwas an sich, was denNaturmenschen in Tom herausforderte. Je mehr Tomdas neue Weltwunder anstarrte, um so mehr rümpfte erdie Nase über solche Geziertheit, und sein eigenes Äußereerschien ihm immer schäbiger. Beide schwiegen. Wollteeiner ausweichen, so wollte auch der andere ausweichen,natürlich nach derselben Seite. So schauten sie langeeinander herausfordernd in die Augen. Endlich sagteTom: „Soll ich dich prügeln?“
„Das möchte ich doch erst einmal sehen!“
„Das wirst du allerdings sehen!“
„Du kannst es ja gar nicht!“
„Wohl kann ich‘s!“
„Pah!“
„Wohl kann ich‘s!“
„Nicht wahr!“
„Doch wahr!“
Eine ungemütliche Pause. Darauf wieder Tom:„Wie heißt du denn?“
„Das geht dich nichts an, Straßenjunge!“
„Ich will dir schon zeigen, daß mich‘s was angeht!“
„Na, warum tust du‘s denn nicht?“
„Wenn du noch viel sagst, tu ich‘s!“
„Viel — viel — viel, — so, nun tu‘s!“
„Ach, du hältst dich wohl für mehr als mich? Wennich nur wollte, könnte ich dich mit einer Hand unterkriegen!“
„Na, warum tust du‘s denn nicht? Du sagst nurimmer, daß du‘s kannst!“
„Wenn du frech wirst, tu ich‘s!“
„Pah — das kann jeder sagen!“
„Du bist wohl was Rechts, du Windhund!“
„Was du für einen dummen Hut aufhast!“
„Wenn er dir nicht gefällt, kannst du ihn ja herunterschlagen!Schlag ihn doch runter, wenn du ein paar Ohrfeigenhaben willst!“
„Lügner!“
„Selbst Lügner!“
„Prahlhans, du bist ja zu feig!“
„Ach, mach, daß du weiter kommst!“
„Du, wenn du noch lange Blödsinn schwatzt, schmeißich dir ‘nen Stein an den Kopf!“
„Na, so wag‘s doch!“
„Ich tu‘s auch!“
„Warum tust du‘s denn nicht? Du sagst es jaimmer nur. Tu‘s doch mal! Du bist ja zu bange!“
„Ich bin nicht bange!“
„Natürlich bist du bange!“
„Nicht wahr!“
„Doch wahr!“
Wieder eine Pause. Beide starren sich an, gehenumeinander herum und beschnüffeln sich wie junge Hunde.Plötzlich liegen sie in schönster Kampfstellung Schulteran Schulter. Tom schrie: „Scher dich fort!“
„Fällt mir gar nicht ein!“
„Fällt mir auch nicht ein!“
So standen sie, jeder einen Fuß als Stütze zurückgestellt,aus aller Kraft aneinander herumschiebend undsich wütend anstarrend. Aber keiner konnte dem Gegnereinen Vorteil abgewinnen. Von diesem stillen Kampfheiß und atemlos, hielten beide gleichzeitig inne, und Tomsagte: „Du bist doch ein Feigling und ein Aff obendrein!Ich werd‘s meinem großen Bruder sagen, der kann dichmit dem kleinen Finger verhauen, und ich werd‘s ihmsagen, daß er‘s tut!“
„Was schert mich dein Bruder! Ich hab‘ einenBruder, der noch viel stärker ist als deiner. Der wirftdeinen Bruder über den Zaun da!“
Beide Brüder waren natürlich durchaus imaginär.
„Das lügst du!“
„Das weißt du!“
Tom zog mit dem Fuß einen Strich durch den Sandund sagte: „Komm herüber und ich hau dich, daß duliegen bleibst!“
Sofort sprang der andere hinüber und sagte herausfordernd:„So, nun tu‘s!“
„Mach mich nicht wütend, rat ich dir!“
„Beim Deuker, für zwei Penny würd‘ ich‘s wirklichtun!“
Im nächsten Augenblick hatte der feine Junge einZweipennystück aus der Tasche geholt und hielt es Tomherausfordernd vor die Nase. Tom schlug es ihm ausder Hand. Im nächsten Augenblick rollten beide Jungenim Schmutz, ineinander verbissen wie zwei Katzen, undwährend ein paar Minuten rissen und zerrten sie sich anden Haaren und Kleidern, schlugen und zerkratzten sich dieNasen und bedeckten sich mit Staub und Ruhm. Plötzlichklärte sich die Situation, und aus dem Kampfgewühltauchte Tom empor, auf dem andern reitend und ihn mitden Fäusten traktierend.
„Sag: Genug!“
Der Bengel setzte seine krampfhaften Bemühungen,sich zu befreien, fort, vor Wut schreiend.
„Sag: Genug!“ Und Tom prügelte lustig weiter.
Schließlich stieß der andere ein halb ersticktes „Genug“hervor. Tom ließ ihn aufstehen und sagte: „So, nunweißt du‘s! Das nächste Mal sieh dich besser vor, mitwem du anbindest!“
Der Fremde trollte sich, sich den Staub von den Kleidernschlagend, schluchzend, sich die Nase reibend, vonZeit zu Zeit sich umsehend, um Tom zu drohen, daß erihn das nächste Mal verhauen werde, worauf Tom höhnischlachte und seelenvergnügt nach Hause schlenderte.Und sobald er den Rücken gewandt hatte, hob der andereeinen Stein auf, zielte, traf Tom zwischen die Schulternund rannte davon mit der Geschwindigkeit einer Antilope.Tom verfolgte den Verräter bis zu dessen Wohnung undfand so heraus, wo er wohne. Als tapferer Held blieb erdann herausfordernd eine Zeitlang an einem Zaun stehen,um zu warten, ob der Feind es wagen werde, wiederherauszukommen; aber der Feind begnügte sich, ihm durchdie Fenster Gesichter zu schneiden und hütete sich, den neutralenBoden zu verlassen. Schließlich erschien des FeindesMutter und nannte Tom ein schlechtes, lasterhaftes,gemeines Kind und jagte ihn davon. So ging Tom alsofort, aber er sagte, „er hoffe, den Feind doch noch einmalzu erwischen.“
Er kam ein bißchen spät nach Haus, und indem er behutsamin das Fenster kletterte, entdeckte er einen Hinterhaltin Gestalt seiner Tante; und als sie den Zustandseiner Kleider sah, war ihr Entschluß unumstößlich gefaßt,ihn am Samstag in strenge Haft zu nehmen und ordentlichschwitzen zu lassen.
Zweites Kapitel.
Samstag morgen war gekommen, und es war einheller, frischer Sommermorgen und sprühend von Leben.Jedes Herz war voll Gesang, und wessen Herz jung war,der hatte ein Lied auf den Lippen. Freude glänzte aufallen Gesichtern, und die Lust, zu springen, zuckte in allerFüßen. Die Akazien blühten, und ihr süßer Duft erfülltedie Luft.
Cardiff Hill, in der Nähe des Hauses und dasselbeüberragend, war von Grün bedeckt und war gerade entfernt genug,um wie das gelobte Land, träumerisch, ruhevollund unberührt zu erscheinen.
Tom erschien auf der Bildfläche mit einem Eimer vollFarbe und einem großen Pinsel. Er überblickte die Umzäunung— und aller Glanz schwand aus der Natur, undtiefe Schwermut bemächtigte sich seines Geistes. DreißigYards lang und neun Fuß hoch war der unglücklicheZaun! Das Leben erschien ihm traurig. Er empfand seinkleines Dasein als Last. Seufzend tauchte er den Pinselin den Topf und strich einmal über die oberste Planke,wiederholte die Operation, und nochmals, und verglichdas kleine gestrichene Stückchen mit der unendlichen nochzu erledigenden Strecke — und hockte sich entmutigt aufeinen Baumstumpf. Jim kam mit einem Zinneimer ausder Tür, „Buffalo Gals“ singend. Wasser von derPumpe zu holen, war Tom bisher immer als eine derunwürdigsten Verrichtungen erschienen, jetzt schien es ihmanders. Er sagte sich, daß er dort Gesellschaft findenwerde; Weiße, Mulatten und Neger, Knaben und Mädchentraf man immer dort, die, bis an sie die Reihe, zupumpen kam, herumlungerten, irgend ein Spiel trieben,sich zankten, prügelten und Wetten anstellten. Und dannüberlegte er, daß die Pumpe zwar nur einhundertundfünfzigYards entfernt sei, Jim trotzdem aber nie unter einerStunde brauchte, um einen Eimer Wasser zu holen, unddann auch noch gewöhnlich geholt werden mußte. Ersagte also: „Du, Jim, ich will Wasser holen, wenn duinzwischen anstreichen willst.“
Jim schüttelte den Kopf und antwortete: „Es gehtnicht, Master Tom. Alte Dame sagen mir zu gehen undholen Wasser und nix aufhalten mit irgendwem. Siesagen, sie wissen, daß Master Tom werden versuchen zugewinnen mich zu streichen, und so sie sagen, Jim zu gehennach sein eigenes Geschäft und nix zu streichen.“
„Ach was, Jim, laß sie nur reden! So macht sie‘simmer. Gib mir nur den Eimer — du sollst sehen, ichbin gleich wieder da! Sie braucht‘s ja nicht zu wissen.“
„Nein, Master Tom, ich nix tun! Alte Dame wollenihm Kopf abreißen, wenn er tut so. Sicher, MasterTom!“
„Sie? Sie kann ja gar nicht schlagen — sie fährteinem mit dem Fingerhut über den Kopf, und wer machtsich daraus was? Ihre Worte sind gefährlich, hm, —ja, aber sagen, ist doch nicht tun, wenn sie nur nicht soviel dabei weinen wollte. — Du, Jim, ich geb dir auch‘ne Murmel! Oder ‘ne Glaskugel!“
Jim begann zu schwanken.
„Eine weiße Glaskugel, Jim — und horch mal, wasfür ‘nen schönen Klang hat sie!“
„Ach, sein das schöne, wunderschöne Glaskugel! AberMaster Tom, ich haben so furchtbar Angst vor alte Dame!“
Aber Jim war auch nur ein Mensch — diese Verführungskünstewaren zu stark für ihn. Er setzte seinenEimer hin und griff nach der Kugel. Im nächsten Augenblicksauste er die Straße hinunter mit seinem Eimer undeinem Schreckensschrei, — Tom arbeitete mit Vehemenz,und Tante Polly, einen Pantoffel in der Hand undTriumph im Auge, kehrte vom Felde zurück.
Aber Toms Energie hielt nicht lange an. Er begann, anall die Streiche zu denken, die er für heute geplant hatte,und sein Kummer wurde immer größer. Bald würdenseine Spielgefährten, frei und sorglos, vorbeikommen, umauf alle möglichen Expeditionen auszugehen und diewürden ihre Witze reißen über ihn, der dastand undarbeiten mußte — der bloße Gedanke daran brannte wieFeuer. Er kramte seine weltlichen Schätze aus und hieltHeerschau: allerhand selbsterfundenes Spielzeug, Murmelund Plunder — genug, um sich einen Arbeitstausch zu erkaufen,aber nicht genug, um dadurch auch nur für einehalbe Stunde die Freiheit zu bekommen. So steckte er seinearmselige Habe wieder in die Tasche und gab den Gedankenauf, einen Bestechungsversuch bei den Jungen zumachen. Mitten in diese trüben und hoffnungslosen Betrachtungenkam plötzlich ein Einfall über ihn. Durchauskein großer, glänzender Einfall. Er nahm seinen Pinselwieder auf und setzte ruhig die Arbeit fort. Ben Rogerserschien in Sicht, der Junge aller Jungen, der sich über allelustig machen durfte. Bens Gang war springend, tanzend,hüpfend — Beweis genug, daß sein Herz leicht und seineGedanken und Pläne großartig waren. Er knuppertean einem Apfel und ließ ein langes, melodiöses ho! ho!hören, gefolgt von einem gegrunzten: ding, dong, ding!ding, dong, dong! — denn er war in diesem Augenblickein Dampfboot. Als er näher kam, mäßigte er seine GeschwindigKeit,nahm die Mitte der Straße, bog nachSteuerbord über und legte elegant und mit vielem Geschreiund Umstand bei, denn er vertrat hier die Stelle des„Big Missouri“ und hatte neun Fuß Tiefgang. Er warDampfboot, Kapitän, Bemannung zugleich und sah sichselbst auf der Kommandobrücke stehend, Befehle gebendund ihre Ausführung überwachend.
„Stopp!! Ling — a, ling, ling!!“ Die Hauptroutewar zu Ende, und er wandte sich langsam einem Nebenarme des Flusses zu. „Stopp! Zurück!! Ling — a, ling,ling!“ Seine Arme sanken ermüdet herunter. „Steuerbordwenden! Ling — a, ling, ling! Tschschschuh! Tschuh!Tschuuuhhh!!!“ Sein Arm beschrieb jetzt große Kreise,denn er stellte ein Rad von 40 Fuß Durchmesser dar.„Backbord zurück! Ling — a, ling, ling! Tschschuh!Tschuh! Tschuuuhhh!!“ Wieder beschrieb der Arm —diesmal der linke — gewaltige Kreise. „Steuerbordstopp!! Ling — a, ling, ling! Backbord stopp! Halt!Langsam überholen! Ling — a, ling, ling! Tschschuh!Tschuh! Tschuuuhhh!! Heraus mit dem Tau dort!Lustig, hoho! Heraus damit! He — wird‘s bald?! EinTau dort um den Pfeiler — so, nun los, Jungens — los!!Maschine stopp!! Ling — a, ling, ling!!“
„Tschschuh! Schscht! Schscht!!“ (Läßt den Dampfausströmen.)
Tom war ganz vertieft in seine Anstreicherei, er merktenichts von der Ankunft des Dampfbootes! Ben bliebeinen Moment stehen, dann sagte er: „Ho, ho, Strafarbeit,Tom, he?“
Keine Antwort. Tom überschaute seine Arbeit mitdem Auge eines Künstlers. Dann machte er mit demPinsel noch einen eleganten Strich und übte wieder Kritik.Ben rannte zu ihm hin, Tom wässerte der Mund nachdem Apfel, aber er stellte sich ganz vertieft in seine Arbeit.Ben sagte: „Hallo, alter Bursche, Strafarbeit, was?“
„Ach, bist du‘s, Ben. Ich hatte dich nicht bemerkt.“
„Weißt, ich geh‘ grad zum Schwimmen. Würdestdu gern mitgehen können? Aber, natürlich, bleibst dulieber bei deiner Arbeit, nicht?“
Tom schaute den Burschen erstaunt an und sagte:„Was nennst du Arbeit?“
„Na, ist das denn keine Arbeit?“
Tom betrachtete seine Malerei und sagte nachlässig:„Na, vielleicht ist das Arbeit, oder es ist keine Arbeit,jedenfalls macht es Tom Sawyer Spaß.“
„Na, na, du willst doch nicht wirklich sagen, daß dirdas da Spaß macht!?“
Der Pinsel strich und strich.
„Spaß? Warum soll‘s denn kein Spaß sein?Kannst du vielleicht jeden Tag einen Zaun anstreichen?“
Ben erschien die Sache plötzlich in anderem Lichte.Er hörte auf, an seinem Apfel zu knuppern. Tom fuhrmit seinem Pinsel bedächtig hin und her, hin und her,hielt an, um sich von der Wirkung zu überzeugen, half hierund da ein bißchen nach, prüfte wieder, während Benimmer aufmerksamer wurde, immer interessierter. Plötzlichsagte er: „Du, Tom, laß mich ein bißchen streichen!“
Tom überlegte, war nahe daran, einzuwilligen, aberer besann sich: „Ne, ne. Ich würde es herzlich gerntun, Ben. Aber — Tante Polly gibt so viel gerade aufdiesen Zaun, gerade an der Straße — weißt du. Aberwenn es der schwarze Zaun wäre, wär‘s mir rechtund ihr wär‘s auch recht. Ja, sie gibt schrecklich viel aufdiesen Zaun, deshalb muß ich das da sehr sorgfältigmachen! Ich glaube von tausend, was — zweitausendJungen ist vielleicht nicht einer, der‘s ihr recht machen kann,wie sie‘s haben will.“
„Na — wirklich? — Du — gib her, nur mal versuchen,nur ein klein — bißchen versuchen. Ich würdedich lassen, wenn‘s meine Arbeit wäre, Tom.“
„Ben, ich würd‘s wahr — haf — tig gern tun; aberTante Polly — weißt du, Jim wollt‘s auch schon tun,aber sie ließ ihn nicht. Sid wollte es tun, aber sie ließ esihn auch nicht tun! Na, siehst du wohl, daß es nichtgeht? Wenn du den Zaun anstrichest und es passiertewas, Ben —“
„O, Unsinn! Ich will‘s so vorsichtig machen! Nurmal versuchen! Wenn ich dir den Rest von meinemApfel geb‘?“
„Na, dann — ne, Ben, tu‘s nicht, ich hab‘ solcheAngst —!“
„Ich geb‘ dir den ganzen Apfel!“
Tom gab mit betrübter Miene den Pinsel ab — innerlichfrohlockend. Und während der Dampfer „BigMissouri“ in der Sonnenhitze arbeitete und schwitzte, saßder Künstler, ausruhend, auf einem Baumstumpf imSchatten des Zaunes, schlug die Beine übereinander, verzehrteseinen Apfel und grübelte, wie er noch mehr Unschuldigezu seinem Ersatz anlocken könne. Opfer genugwaren vorhanden. Jeden Augenblick schlenderten Knabenvorbei. Sie kamen, um ihn zu verhöhnen und blieben,um zu streichen. Nach einiger Zeit war Ben müde geworden,Tom hatte als Nächsten Billy Fisher ins Augegefaßt, der ihm eine tote Ratte und eine Schnur, um dieRatte daran durch die Luft fliegen zu lassen, anbot; undvon Johnny Miller bekam er eine gut erhaltene Sackpfeife,und so immer weiter — stundenlang. Und als der Nachmittaghalb vergangen war, war aus dem armen, verlassenenTom vom Morgen ein buchstäblich in Reichtumschwimmender Tom geworden. Er besaß außer den angeführtenSachen zwölf Murmel, ein Stück eines Brummeisens, ein Stückblau gefärbtes Glas zum Durchschauen,eine Spielkanone, ein Messer, das gewiß nie jemand Schadengetan hatte oder jemals tun konnte, ein bißchen Kreide,einen Glasstöpsel, einen Zinnsoldaten, den Kopf einesFrosches, sechs Feuerschwärmer, ein Kaninchen mit einemAuge, einen messingnen Türgriff, ein Hundehalsband(aber keinen Hund), den Griff eines Messers, vier Orangeschalenund einen kaputten Fensterrahmen. Er hatte einensorglosen, bequemen, lustigen Tag gehabt, eine MengeGesellschafter — und der Zaun hatte eine dreifache LageFarbe bekommen! Wäre nicht der Zaun jetzt fertig gewesen— Tom hätte noch alle Jungens des Dorfesbankerott gemacht.
Tom dachte bei sich, die Welt wäre schließlich dochwohl nicht so buckelig. Er war, ohne es selbst recht zuwissen, hinter ein wichtiges Gesetz menschlicher Tätigkeitgekommen, das nämlich, daß, um jemand, groß oderklein, nach etwas lüstern zu machen, es nur nötig ist, diesesEtwas schwer erreichbar zu machen. Wäre er ein großerund weiser Philosoph gewesen, gleich dem Verfasser diesesBuches, er würde jetzt begriffen haben, daß, was jemandtun muß, Arbeit, was man freiwillig tut, dagegenVergnügen heißt. Er würde ferner verstanden haben, daßkünstliche Blumen machen oder in der Tretmühle ziehen,„Arbeit“ ist, Kegelschieben aber oder den Mont Blanc besteigen,„Vergnügen“.
Es gibt reiche Engländer, die einen Viererzug zwanzigbis dreißig Meilen in einem Tage laufen lassen, weildieser Spaß sie einen Haufen Geld kostet; würden sie aberdafür bezahlt werden, so würden sie es als „Arbeit“ ansehenund darauf verzichten.
Drittes Kapitel.
Tom präsentierte sich Tante Polly, welche in einemgemütlichen, zugleich als Schlaf-, Frühstücks- und Speisezimmerdienenden Raum am offenen Fenster saß undfleißig mit Handarbeit beschäftigt gewesen war. Die balsamischeSommerluft, die vollkommene Ruhe, Blumenduftund Summen der Bienen, alles hatte seine Wirkunggeübt — sie war über ihrer Beschäftigung eingenickt. Siehatte nur die Katze zur Gesellschaft gehabt, und die schliefin ihrem Korbe. Die Brille hatte sie (Tante Polly) zurVorsicht auf ihren grauen Kopf weiter hinaufgeschoben.Sie mochte geglaubt haben, Tom sei längst wieder flüchtiggeworden und wunderte sich nun, ihn ungeniert neben sichsitzen zu sehen.
„Darf ich jetzt spielen gehen, Tante?“ fragte Tomunschuldig.
„Was, schon wieder? Was hast du denn heut getan?“
„Alles fertig, Tante!“
„Tom, lüg‘ nicht! Ich glaub‘s nicht!“
„Ich lüge aber nicht, Tante. Es ist alles fertig.“
Tante Polly setzte kein besonderes Vertrauen in seineBeteuerungen. Sie ging hinaus, um selbst zu sehen, undsie wäre zufrieden gewesen, hätte sie zwanzig Prozent vonToms Worten wahr gefunden; als sie sah, daß wirklichder ganze Zaun gestrichen und nicht nur leicht gestrichen,sondern gründlich und mehrfach mit Farbe bedeckt, undnoch ein Stück Boden obendrein eine Farbschicht abbekommenhatte, war ihr Erstaunen unaussprechlich. Sie sagte:„Na, das hätt‘ ich nicht für möglich gehalten! Ich sehe,Tom, du kannst arbeiten, wenn du willst.“ Und danndämpfte sie das Kompliment, indem sie hinzufügte: „Aberes ist mächtig selten, daß du willst — leider. ‘s ist gut,geh‘ jetzt und spiel. Schau aber, daß du in einer Wochespätestens wieder hier bist, oder ich hau‘ dich — —“
Sie war so überrascht durch den Glanz seiner Heldentat,daß sie ihn in die Speisekammer zog und einen auserwähltenApfel hervorsuchte und ihn ihm gab — mitdem salbungsvollen Hinweis darauf, wie getane Arbeitjeden Genuß erhöhe und veredele — wenn sie fleißig, ehrlichund ohne Kniffe und Betrügerei getan werde. Undwährend sie mit einer passenden Bibelstelle schloß, hatteer ein Stück Kuchen stibitzt. Dann hüpfte er davon undsah Sid gerade die Außentreppe hinaufklettern, die aufeinen Hinterraum im zweiten Boden führte. Erdklumpenwaren genug vorhanden, und im nächsten Moment sausteneine ganze Menge durch die Luft. Sie fielen wie einHagelwetter um Sid herum nieder. Und bevor TantePolly ihre überraschten Lebensgeister sammeln konnte undzu Hilfe eilen, hatten sechs oder sieben Geschosse ihr Zielerreicht, und Tom war über den Zaun und davon. Eswar zwar eine Tür in demselben, aber wie man sich denkenkann, hatte Tom es viel zu eilig, um da durchzugehen.Er fühlte sich erleichtert, nun er sich mit Sid wegen dessenVerrates auseinandergesetzt und ihm eine tüchtige Lektiongegeben hatte.
Tom umging einen Häuserblock und gelangte in eineschlammige Allee, die zu Tante Pollys Kuhstall führte.Tom machte sich schleunigst aus dem Gebiet, wo Gefangenschaftund Strafe drohten und strebte dem öffentlichenSpielplatz des Dorfes zu, wo sich zwei feindlicheTruppen von Knaben Rendezvous geben sollten — nachvorhergegangener Verabredung. Tom war der Anführerder einen, sein Busenfreund Joe Harper kommandierte dieandere. Diese beiden großen Generale ließen sich nichtherab, selbst zu kämpfen — das schickt sich für den großenHaufen — sondern saßen zusammen auf einem Hügelund leiteten die Operationen durch Befehle an die Unterführer.Toms Armee gewann einen großen Sieg — nacheiner langen, hartnäckigen Schlacht. Dann wurden dieToten beerdigt, die Gefangenen ausgetauscht, die Bestimmungenfür das nächste Zusammentreffen getroffen undder Tag dafür festgesetzt, worauf sich die Armeen in Kolonnenformierten und zurückmarschierten — Tom marschierteallein nach Haus.
Als er an dem Hause des Jeff Thatcher vorbeikam,sah er im Garten ein unbekanntes Mädchen, ein liebliches,kleines, blauäugiges Geschöpf mit hellem, in zwei Zöpfengebundenem Haar, weißem Sommerkleid und gesticktenHöschen. Der ruhmreiche Held fiel, ohne einen Schußgetan zu haben. Eine gewisse Amy Lawrence war miteinem Schlage aus seinem Herzen verstoßen und ließ nichteinmal eine Erinnerung darin zurück. Er hatte sie biszum Wahnsinn zu lieben geglaubt; seine Liebe war ihmals Anbetung erschienen; und nun zeigte es sich, daß esnur eine schwache, unbeständige Neigung gewesen sei. Erhatte durch Monate um sie geseufzt, sie hatte seine Liebevor kaum einer Woche erst mit ihrer Gegenliebe belohnt; erwar vor kurzen sieben Tagen noch der glücklichste und stolzesteBursche der Welt gewesen, und jetzt, in einemAugenblick war sie gleich irgend einer beliebigen Fremden,der man flüchtig begegnet ist, aus seinem Herzen verschwunden.
Er betrachtete diesen neuen Engel mit glänzendenAugen, bis er merkte, daß sie ihn entdeckt habe. Dannstellte er sich, als wisse er gar nichts von ihrer Anwesenheit,und begann dann, nach rechter Jungensmanier, sichzu spreizen, um ihre Bewunderung zu erregen. Diese Torheitentrieb er eine Weile, schielte dann hinüber und sah,daß das kleine Mädchen sich dem Hause zugewandt hatte.Tom kletterte auf den Zaun und balancierte oben herum,machte ein trübseliges Gesicht und hoffte, sie werde sichdadurch zu längerem Verweilen bewegen lassen. Sie bliebauch einen Augenblick stehen, dann ging sie weiter der Türzu. Tom stieß einen tiefen Seufzer aus, als sie die Türschwellebetrat, aber seine Mienen hellten sich auf, leuchtetenvor Vergnügen, denn sie hatte in dem Moment, ehesie verschwand, ein Stiefmütterchcn über den Zaun geworfen.Tom rannte herzu und blieb dicht vor der Blumestehen, beschattete seine Augen und schaute die Straßehinunter, als hätte er dort etwas von größtem Interesseentdeckt. Dann nahm er einen Strohhalm auf und begannihn auf der Nase zu balancieren, indem er den Kopf zurückwarf.So sich rechts und links drehend, kam er der Blumeimmer näher. Schließlich ruhte sein bloßer Fuß darauf,seine Zehen nahmen sie auf, und er hüpfte mit seinemSchatz davon und verschwand um die nächste Ecke. Abernur für eine Minute — bis er die Blume unter seinerJacke versteckt hatte, auf seinem Herzen oder auch auf demBauche, denn er war in der Anatomie nicht sehr bewandertund durchaus nicht kritisch. Dann kehrte er zurück, lungerteauf seinem Zaun herum und ließ seine Augen nach ihrherumspazieren, bis die Nacht anbrach; aber die Kleineließ sich nicht wieder sehen. Tom tröstete sich mit demGedanken, daß sie hinter irgend einem Fenster gestandenund von seinen Aufmerksamkeiten Notiz genommen habe.Endlich ging er nach Hause, den Kopf voll angenehmerVorstellungen.
Während des ganzen Abendessens war er so geistesabwesend,daß sich seine Tante wunderte, was in ihn gefahrensein könne. Er bekam wegen seiner BeschießungSids Schelte und schien sich weiter gar nichts daraus zumachen.
Er versuchte, seiner Tante vor der Nase Zucker zustehlen und bekam was auf die Finger. Er sagte: „Tante,du schlägst Sid nie, wenn er so was macht!“
„Na, Sid treibt‘s auch nicht so arg wie du. Duwürdest den ganzen Tag im Zucker sein, wenn ich nichtaufpaßte.“
Gleich darauf ging sie in die Küche, und Sid, aufseine Unverletzlichkeit pochend, griff nach der Zuckerdose,mit einer Selbstüberhebung gegen Tom, die diesem unerträglichdünkte. Aber Sids Finger glitten aus, und dieZuckerdose fiel auf den Boden und zerbrach. Tom waraußer sich vor Vergnügen, so außer sich, daß er sogarseine Zunge im Zaume hielt und verstummte. Er nahmsich vor, kein Wort zu sagen, auch nicht, wenn seine Tantewieder hereinkomme — solange, bis sie frage, wer diesesVerbrechen begangen habe. Dann wollte er es sagen,und niemand auf der Welt würde so glücklich sein wie er,wenn dieser Musterknabe auch einmal was auf die Pfotenbekam. Er war so voll Erwartung, daß er sich kaumzurückhalten konnte, als die alte Dame dann kam und vorden Scherben stand und Zornesblitze über den Rand ihrerBrille schleuderte. Er sagte zu sich: Jetzt kommt‘s! Undim nächsten Augenblick zappelte er auf dem Fußboden! Einedrohende Hand schwebte über ihm, um ihn nochmals zutreffen; Tom brüllte: „Halt, halt, warum prügelst dumich? Sid hat sie zerbrochen!“
Tante Polly hielt erschrocken inne, und Tom sah sofort,daß sich das Mitleid bei ihr zu regen begann. Aber siesagte nur: „Auf! Ich denke, bei dir schadet kein Schlag.Du hast manches auf dem Kerbholz, wofür du keinePrügel bekommen hast.“
Dann aber empfand sie doch Reue und hätte gerneetwas Liebevolles, Versöhnendes gesagt. Aber sie dachte,das könne als Zugeständnis ihres Unrechts gelten, unddadurch würde die Disziplin leiden. So schwieg sie undging betrübten Herzens ihren Geschäften nach. Tom verkrochsich in einen Winkel und wühlte in seinen Leiden. Erwußte, daß seine Tante innerlich vor ihm auf den Knienlag, und er fühlte wilde Genugtuung bei diesem Gedanken.Er würde sich nichts merken lassen und „nicht dergleichentun.“ Er wußte, daß liebevolle Blicke auf ihm ruhten,aber er spielte den Gleichgültigen. Er stellte sich vor, wie erkrank oder tot daliege und seine Tante händeringend überihm, um ein verzeihendes Wort bettelnd; aber er würdesich abwenden und sterben, ohne das Wort zu sagen.Was würde sie dann wohl empfinden? Dann wieder saher sich, vom Fluß nach Hause getragen, tot, mit triefendenHaaren, steifen Gliedern und für immer erstarrtem Herzen.O, wie würde sie sich über ihn werfen, wie würden ihreTränen fließen und wie würde sie zu Gott flehen, ihnihr wiederzugeben, und sie würde ihn nie, nie wiedermißhandeln! Aber er würde kalt und blaß daliegen undsich nicht regen, ein kleiner Märtyrer, dessen Leiden fürimmer zu Ende sind. So schraubte er seine Gefühle durcheingebildetes Elend künstlich in die Höhe, daß er fast daranerstickt wäre — er war so leicht gerührt! Seine Augenschwammen in einem trüben Nebel, welcher zu Tränenwurde, sobald er blinzelte, und herabrann und von derSpitze seiner Nase troff. Und solche Wollust bereitete ihmsein Kummer, daß er sich nicht um die Welt von irgendjemand hätte trösten oder aufheitern lassen; er war vielzu zart für eine solche Berührung mit der Außenwelt. Undals seine Cousine Mary nach einem eine ganze Wochelangen Besuch auf dem Lande lustig und guter Dingehereinhüpfte, sprang er auf und schlich in Einsamkeit undKälte zu einer Tür hinaus, während sie Gesang undSonnenschein zur anderen hereinbrachte. Er vermieddie Orte, an denen sich seine Freunde herumzutreibenpflegten und suchte vielmehr trostlos-verlassene Gegenden,die mit seiner Stimmung mehr im Einklang wären.
Ein Holzfloß auf dem Flusse lud ihn ein; er setztesich ans äußerste Ende und versenkte sich in die traurigeEintönigkeit um ihn her und wünschte nichts anderes,als tot und ertrunken zu sein — aber ohne vorher einenhäßlichen Todeskampf durchmachen zu müssen. Danachzog er seine Blume hervor. Sie war zerknittert undverwelkt und erhöhte noch das süße Gefühl der Selbstbemitleidung.
Ob sie Mitleid mit ihm haben würde, wenn siewüßte? Würde sie weinen und sich danach sehnen, dieArme um ihn zu schlingen und ihn wieder zu erwärmen?Oder würde sie sich gleich der übrigen Welt kalt abwenden?Dieses Bild schien ihm so rührend, daß er es sich immer undimmer wieder ausmalte und ausschmückte, bis er es greifbarvor sich sah. Schließlich stand er seufzend auf undschlich in die Finsternis hinaus. Um halb zehn oder zehnUhr gelangte er in die Straße, in welcher die angebeteteUnbekannte wohnte. Er blieb einen Augenblick stehen;kein Ton traf sein lauschendes Ohr; aus einem Fensterdes zweiten Stockes fiel ein schwacher Lichtschimmer. Wardieser Raum durch ihre Anwesenheit geheiligt? Ererkletterte den Zaun und bahnte sich seinen eigenen Wegdurch das Buschwerk, bis er unter dem Fenster stand.Lange und aufmerksam spähte er hinauf. Dann legte ersich auf die Erde nieder, die Hände über der Brust gefaltetund in den Händen seine arme, verwelkte Blume. Und sowollte er sterben — draußen, in der kalten Welt, keinDach über sich, ohne eine freundliche Hand, die ihm denTodesschweiß von der Stirn wischen würde, ohne einmitleidiges Gesicht, das sich, wenn der Todeskampf kam,über ihn beugen würde — und würde sie wohl eineTräne weinen über seinen armen toten Leib, würde esihr weh tun, ein blühendes, junges Leben so grausamgeknickt, so nutzlos vernichtet zu sehen?
Das Fenster ging auf; eines Dienstmädchens mißtönendeStimme entweihte die stille Ruhe und ein StromWasser überschüttete die Überreste des Märtyrers. Halberstickt sprang unser Held auf, prustend und sich schüttelnd.Ein Wurfgeschoß durchsauste die Luft, ein unterdrückterFluch, das Klirren einer zerbrochenen Fensterscheibe —und eine kleine unbestimmte Gestalt kroch über den Zaunund verschwand in der Dunkelheit.
Nicht lange danach, als Tom bereits zum Schlafengehenentkleidet, seine durchnäßten Sachen beim Scheineeines Talglichtes besichtigte, erwachte Sid. Er wollteseine Glossen dazu machen, hielt es aber doch für besser,zu schweigen, denn aus Toms Augen schossen Blitze. Tomkroch ins Bett, ohne sich lange mit Beten aufzuhalten, undSid merkte sich das gehörig, um gelegentlich Gebrauchdavon zu machen.
Viertes Kapitel.
Die Sonne ging über einer ruhigen Welt auf undschien über das Dorf wie ein Segensspruch. Nach demFrühstück hielt Tante Polly Hausandacht. Sie begannmit einem aus den kräftigsten Bibelstellen bestehenden,mit ein bißchen eigenen Gedanken verbrämten Gebet. Undvon dieser Höhe aus gab sie ein grimmiges Kapiteldes mosaischen Gesetzes zum besten — wie vom Sinaiherab. Danach gürtete Tom, um diesen Ausdruck zu gebrauchen,seine Lenden und machte sich ans Werk, sichseine Bibelverse einzutrichtern. Sid hatte die natürlichschon am Tage vorher gelernt. Tom brachte es mit Aufbietungaller Energie auf fünf Verse — die er ausder Bergpredigt gewählt hatte, da er keine kürzeren findenkonnte.
Nach einer halben Stunde hatte Tom eine unbestimmte,allgemeine Idee von seiner Lektion. Weiterkam er nicht, denn seine Gedanken spazierten durch dasganze Gebiet menschlichen Denkens, und seine Fingerhatten allerhand zerstreuende Nebenbeschäftigungen.Schließlich nahm Mary sein Buch, um ihn zu überhören,und er machte krampfhafte Anstrengungen, umseinen Weg durch den Nebel zu finden.
„Selig sind die — ä — ä — ä —“
„Die da arm sind —“
„Ja — arm sind; selig sind, die da arm sind — ä — ä— ä —“
„Im Geiste —“
„Im Geiste; selig sind, die da arm sind im Geiste,denn sie — sie —“
„Ihrer —“
„Denn ihrer; selig sind, die da arm sind im Geiste,denn ihrer — ist das Himmelsreich!“
„Selig sind, die da Leid tragen, denn sie — sie — ä— ä —“
„So — —“
„Denn sie s — o —“
„S — o — l — l —?“
„Denn sie soll —. Ach was, ich weiß nichts weiter!“
„Sollen —“
„Ach so: sollen! Denn sie sollen — denn sie sollen — ä—ä — sollen Leid tragen —, denn sie sollen — ä — sollen— was? Warum sagst du mir‘s nicht. Mary! Sei dochnicht so eklig!“
„Ach, Tom, du armer, dickköpfiger Kerl, ich quäl‘ dichja nicht. Das fällt mir gar nicht ein. Du mußt dich haltnochmal dahinter setzen. Nur nicht mutlos. Tom, du wirstes schon zwingen — und wenn du‘s kannst, Tom, geb ichdir ganz, ganz was Schönes! Na also, sei ein braverJunge!“
„Meinetwegen. — Du, Mary, was ist es denn?“„Jetzt noch nicht, Tom. Wenn ich sage, ‘s ist wasSchönes, dann ist‘s was Schönes!“
„Da hast du recht, Mary. Na also, ich werd‘s nochmal tun!“
Und er machte sich nochmal darüber. Und unter demdoppelten Ansporn der Neugier und der Erwartung desGewinnes machte er sich mit solcher Vehemenz darüber,daß er einen schönen Erfolg hatte.
Mary gab ihm ein nagelneues Taschenmesser, zwölfund einen halben Pence mindestens im Wert; ein Schauerdes Entzückens fuhr ihm durch die Glieder. Es ist wahr,zum Schneiden war das Messer nicht gerade zu brauchen,aber es war ein echtes „Barlow“ und von unaussprechlicherPracht; und wenn unter den Burschen des „Wild-West“die Behauptung aufgestellt worden ist, dieses Messertrage seine Bezeichnung als „Waffe“ durchaus zu Unrecht,so ist das eine kolossale Lüge; so ist‘s, mögen sie sagen,was sie wollen. Tom versuchte die Tischkante damit anzuschneiden,und war eben in voller Tätigkeit, als man ihnabrief, um zur Sonntagsschule Staat zu machen.
Mary gab ihm einen Zinneimer und Seife, und erging zur Tür hinaus und setzte den Eimer auf eine kleineBank; dann tauchte er die Seife ins Wasser und legte siedaneben; krempelte sich die Ärmel auf, ließ das Wasserauslaufen, ging in die Küche zurück und begann hinter derTür sich das Gesicht mit dem Tuch eifrig abzutrocknen.
Aber Mary entriß ihm das Tuch und sagte: „Schämstdu dich nicht, Tom? Du sollst nicht immer so schlecht sein.Ein bißchen Wasser schadet dir wahrhaftig nicht.“
Tom war einen Augenblick in Verwirrung. DerEimer wurde wieder gefüllt, und diesmal blieb er eineWeile darüber gebeugt stehen, Mut sammelnd. Ein tieferSeufzer — und los! Als er dann wieder in die Küchezurückkam, beide Augen geschlossen, und nach dem Tuchgriff, tropften Schmutz und Wasser von seinem Gesichtherunter — ein ehrenvolles Zeichen seines Mutes. Aberals er hinter dem Tuche wieder auftauchte, sah er durchausnoch nicht einwandfrei aus; das reine Gebiet hörte anMund und Ohren auf. Jenseits dieser Linie breitete sicheine undurchdringlich schwarze Fläche bis in den Nackenaus. Mary nahm ihn jetzt in die Mache und als sie mitihm fertig war, sah er wie ein tadelloser Gentleman aus,fleckenlos und mit hübschen Sonntagslocken in gleichmäßigerVerteilung. (Er selbst haßte diese Locken vonHerzen und versuchte, sie auf den Kopf niederzubürsten;denn er hielt Locken für weibisch, und sie erfüllten seinLeben mit Bitterkeit.) Dann kam Mary mit einem Anzuge,den er während zweier Jahre nur an Sonntagengetragen hatte und der allgemein nur als die „anderenKleider“ bezeichnet wurde — woraus man auf den Standseiner Garderobe schließen kann. Das Mädchen schubsteihn noch ein bißchen zurecht, nachdem er sich selbständigangezogen hatte. Sie verlieh ihm einen gewissen (ganzungewohnten) Schein von Zierlichkeit, zog den Hemdkragenherunter, bürstete ihn ab und krönte ihn mit seinemfarbigen Strohhut. So sah er außerordentlich sanftmütigund behaglich aus. Und er fühlte sich auch so. SeinWiderwillen gegen ganze und saubere Kleider war unverwüstlich.Er hoffte, Mary werde wenigstens die Stiefelvergessen, aber diese Hoffnung wurde zunichte. Sie bestrichsie, wie es sich gehört, mit Talg und brachte sie ihm.Jetzt verlor er die Geduld und sagte, er solle immer tun,was er nicht möchte. Aber Mary sagte überredend: „Na,komm, Tom, sei ein braver Bursche!“ So fuhr er brummendin seine Stiefel. Mary war bald fertig, und diedrei Kinder gingen zur Sonntagsschule, ein Ort, der Tomgründlich verhaßt war. Aber Sid und Mary gingen sehrgern hin.
Die Zeit der Sonntagsschule war von neun bis halbzehn Uhr; dann kam der Gottesdienst. Zwei der Kinderblieben stets mit Vergnügen zur Predigt da, das dritteblieb auch — ja, aber aus anderen Gründen. Die hochlehnigen,schmucken Kirchenstühle konnten über dreihundertPersonen fassen; das Gebäude selbst war klein, vollgestopft— mit einer Art fichtenem Kasten als Turm darauf.
An der Tür blieb Tom ein bißchen zurück und hielteinen sonntäglich gekleideten Kameraden an: „Sag, Bill,hast du ein gelbes Billett?“
„M — ja!“
„Was willst du dafür haben?“
„Was willst du geben?“
„Ein Stück Zuckerstange und einen Angelhaken.“
„Zeig her.“
Tom zeigte seine Tauschobjekte. Sie waren befriedigend,und das Geschäft wurde gemacht. Dann erhandelteTom einige blaue und rote Zettel gegen ähnlicheKleinigkeiten. Er stellte die anderen Jungen, wie sie ihmin den Weg kamen, und verkaufte, indem er Zettel derverschiedenen Farben dagegen kaufte. Dann ging er indie Kirche, inmitten eines Schwarmes geputzter, lärmenderKnaben und Mädchen, schlängelte sich auf seinen Platzund fing mit dem ersten besten Streit an. Der Lehrer, einwürdiger, bejahrter Mann, trat dazwischen. Dann wandteer sich einen Augenblick um, und Tom riß einen Knabenin der vorderen Bank an den Haaren und war vertieft insein Buch, als der Knabe herumfuhr. Darauf stach ereinen anderen mit einer Nadel, dieser schrie auf, und Tomerhielt abermals einen Verweis. Toms ganze Klasse wareine Musterklasse — nach seinem Muster — unruhig,vorlaut und lärmend. Als es ans Aufsagen der Lektionging, wußte nicht ein einziger seine Verse gründlich, allesstümperte und war unsicher. Indessen — sie kamen durch,und jeder erhielt seine Bestätigung in Form eines blauenZettels, jeder mit einem Bibelspruch darauf; jeder solcherZettel galt für zwei aufgesagte Verse. Zehn blaue Zettelwaren gleich einem roten und konnten gegen einen solchenumgetauscht werden; zehn rote machten einen gelben aus,und für diesen gab der Superintendent eine sehr einfachgebundene Bibel (heutzutage gewiß vierzig Cents wert).
Wie viele meiner Leser würden Fleiß und Aufmerksamkeitgenug haben, um zweitausend Verse auswendigzu lernen, und handelte es sich um eine Doréesche Bibel?Und doch hatte Mary auf diese Weise zwei Bibeln erworben;es war das Werk zweier Jahre; ein Knabe deutscherAbkunft hatte es gar auf vier oder fünf gebracht. Einmalhatte er dreitausend Verse hergesagt, ohne zu stocken.Aber die geistige Anstrengung war zu groß gewesen, under war von dem Tage an nicht viel besser als ein Idiot— ein böses Mißgeschick für die Schule, denn vor diesemEreignis hatte der Superintendent bei besonderen Gelegenheitenden Knaben vortreten und „sich blähen“ lassen(wie Tom das nannte). Nur die gesetzteren Schüler gabensich die Mühe, ihre Zettel aufzubewahren, und ihr langweiligesWerk solange fortzusetzen, bis sie Anspruch aufeine Bibel hatten. So war die Erlangung eines solchenPreises ein seltenes und bemerkenswertes Ereignis; derSieger war an seinem Ehrentage eine so große, hervorragendePerson, daß heiliger Ehrgeiz die Brust einesjeden Schülers erfüllte und oft mehrere Wochen anhielt.Es ist möglich, daß Toms Streben niemals auf einensolchen Preis gerichtet war, zweifellos aber sehnte sich seinganzes Sein nach dem Ruhm und Aufsehen, die ein solchesEreignis mit sich brachten.
Der Geistliche stand jetzt vor der Versammlung, einengeschlossenen Psalter in der Hand und den vierten Fingerzwischen die Blätter geschoben. Er befahl Ruhe. Wennnämlich ein Sonntagsschullehrer seine gewohnte kleineRede vom Stapel lassen will, ist ein Psalterbuch in seinerHand so notwendig, wie die Notenblätter in der Handeines Sängers, der im Konzert vom Podium aus einSolo vortragen soll — wer weiß, warum? Denn niemalswerden Psalterbuch oder Notenblätter beim Vortraggeöffnet.
Der Superintendent war ein schmächtiger Mann vonfünfunddreißig Jahren, mit sandgelbem Ziegenbart undkurzgeschorenem sandgelbem Haar. Er trug einen steifenStehkragen, dessen oberer Rand seine Ohren streifte unddessen scharfe Ecken bis zu den Mundwinkeln vorsprangen— eine Planke, die ihn zwang, den Kopf stets vorzustreckenund den ganzen Körper zu drehen, wenn er zurSeite blicken wollte. Sein Kinn war in eine riesigeKrawatte gezwängt, die so breit und lang war, wie eineBanknote und spitze Enden hatte. Mr. Walter waräußerst ernsthaft von Aussehen und sehr gutmütig undehrenhaft von Charakter. Und er hielt geistige Dinge undAngelegenheiten so sehr in Ehren und wußte sie so strengvon allem Weltlichen zu trennen, daß seine Sonntagsschulstimmeihm selbst unbewußt einen gewissen Klangangenommen hatte, von dem sie an Wochentagen vollkommenfrei war.
Er begann also: „Nun, Kinder, sitzt einmal so ruhigund gesittet, als es euch nur immer möglich ist, und paßteinmal ein paar Minuten tüchtig auf, denn daraufkommt es vor allem an! Das sollten alle braven Knabenund Mädchen stets tun! Ich sehe ein kleines Mädchen,das zum Fenster hinausschaut — ich fürchte, sie bildetsich ein, ich wäre irgendwo draußen, vielleicht in einemBaum und hielte den Vögeln meine Rede?! (UnterdrücktesKichern.) Ich möchte euch sagen, daß es mich glücklichmacht, so viele frische, helle Kindergesichter an diesem Ortversammelt zu sehen, um zu lernen, recht tun undgut sein.“
In diesem Stil ging‘s immer weiter. Es ist nichtnötig, den Rest der Rede hierherzusetzen. Sie war ganznach bekanntem Muster — wir alle haben sie malgehört.
Das letzte Drittel der Rede wurde durch die Wiederaufnahmedes Kampfes zwischen gewissen bösen Bubengestört und durch Unruhe und Geschwätz hier und dort,deren Wellen sogar an den Grundlagen solcher Felsen derFolgsamkeit und Bravheit, wie Sid und Mary, nagten.Aber mit dem Schwächerwerden von Mr. WaltersStimme wurde auch das allgemeine Summen schwächer,und der Schluß der Rede wurde mit stiller Heiterkeitbegrüßt.
Zum guten Teil war die Unaufmerksamkeit hervorgerufenworden durch ein ziemlich seltenes Vorkommnis:das Erscheinen von Besuchern: Richter Thatcher, begleitetvon einem sehr schwachen, alten Mann, einem vornehmen,mittelalterlichen Gentleman mit eisengrauemHaar, und einer würdevollen Dame, zweifellos der Fraudes letzteren. Die Dame führte ein Kind an der Hand.Tom war bis dahin unruhig und schuldbewußt gewesen— er konnte den Blick aus Amy Lawrences Augen nicht ertragen— es sprach zu viel Liebe aus diesem Blick!Aber als er diesen kleinen Ankömmling sah, war seineBeklommenheit auf einmal vorbei. Im nächsten Augenblickließ er wieder seine Künste spielen — er knuffteandere Knaben, riß sie an den Haaren, schnitt Fratzen,mit einem Wort, tat alles, was nur irgend eines MädchensAufmerksamkeit erregen und ihren Beifall gewinnenkann. Aber seine Exaltation wurde rasch gedämpft, ererinnerte sich seiner Erlebnisse im Garten dieses Engels;aber diese Erinnerung wurde rasch durch das Glücksgefühl,von dem sein Herz plötzlich erfüllt war, fortgeschwemmt.
Den Besuchern wurden die höchsten Ehrenbezeugungenerwiesen, und nach Beendigung von Mr. WaltersAnrede führte er sie in der Schule herum. Der mittelalterlicheMann schien ein bedeutender Mann zu sein. Er warder oberste Richter des Kreises — gewiß die erhabenstePersönlichkeit, die diese Kinder bis jetzt gesehen hatten;und sie grübelten darüber, aus welchem Stoff der wohlgemacht sein könne; und dann waren sie begierig auf seineStimme und dann zitterten sie wieder davor, sie zu hören.Er war aus Konstantinopel — zwölf Meilen entfernt, —er war also durch die ganze Welt gekommen und hattealles gesehen; diese Augen hatten das Staatshaus gesehen,von dem man sagte, es habe ein wirkliches Zinndach!Die scheue Ehrfurcht, welche diese Vorstellungenhervorriefen, war aus dem absoluten Schweigen und denstarr auf ihn gerichteten Augen deutlich zu lesen.
Das also war der große Richter Thatcher, der Bruderihres Bürgermeisters.
Von Jeff Thatcher hieß es sogleich, er sei mit demgroßen Mann verwandt, und den beherbergte dieSchule! Es würde Musik für Jeffs Ohren gewesen sein,hätte er gehört, was man von ihm flüsterte.
„Sieh nur, Jim, er ist wahrhaftig vorgegangen!Donnerwetter, er will ihm die Hand geben. Er hat ihmdie Hand gegeben. Bei Jingo, möchtet wohl auch Jeffsein, he?“
Mr. Walter suchte sich jetzt in Geltung zu bringendurch möglichste Geschäftigkeit, erteilte Befehle, fällte Urteile,gab Winke hier und dort und überall, und zeigte, daßer am rechten Platz sei. Darauf „zeigte“ sich der Bücherverwalter, rannte mit Stößen von Büchern herum, klappertemit den Bücherbrettern und vollführte einen Spektakel,daß es für jeden Vorgesetzten eine wahre Lust seinmußte. Die jungen Lehrerinnen „zeigten“ sich auch, tatenschön mit Kindern, die sie eben geprügelt hatten, hobenwarnend ihre niedlichen Finger gegen böse Buben undstreichelten brave, kleine Mädchen. Die jungen Lehrer„zeigten“ sich mit kleinen Ermahnungen und anderenBeweisen ihrer Autorität und ihrer Sorgfalt. Und alleLehrenden beiderlei Geschlechts machten sich mit Vorliebeam Klassenpult zu tun, und es schienen Geschäfte zu sein,die fortwährend wiederholt werden mußten (und wie siedabei ärgerlich waren!). Die kleinen Mädchen „zeigten“sich auf verschiedene Weise, und die Knaben „zeigten“ sichmit solchem Nachdruck, daß die Luft mit Papierkugeln undhalb unterdrücktem Gezänk angefüllt war. Und bei alledemsaß der große Mann da, hatte ein erhabenes Richterlächelnfür die ganze Schule und wärmte sich im Glanzeseiner eigenen Größe, denn er „zeigte“ sich erst recht. Abereins fehlte, was Mr. Walters Glück vollgemacht hätte,das war die Gelegenheit, einen Bibelpreis auszuteilenund eins seiner Wunderkinder zu zeigen. Mehrere Schülerhatten eine Menge kleinerer Zettel, aber niemand hattegenug. Er hätte die Welt darum gegeben, seinen kleinenDeutschen für eine einzige Stunde wiederzuhaben.
Da — trat Tom Sawyer vor, neun gelbe Zettel, neunrote und zehn blaue, und verlangte eine Bibel! Daswirkte wie ein Blitz aus heiterm Himmel! So etwashätte Walter nicht erwartet — in den nächsten zehn Jahrensicher nicht. Aber es war nichts auszusetzen — dalagen die nötigen Zettel beisammen und nahmen sichhübsch genug aus. Tom erhielt also seinen Platz beimRichter und den anderen Auserwählten, und die unerhörteNeuigkeit wurde nach allen Himmelsgegenden ausposaunt.
Es war zweifellos die staunenswerteste Tatsache desJahrzehnts; und so tief war die Erregung, daß sie denneuen Helden auf die Höhe des Kreisrichters hob unddie Schule zwei Weltwunder aus einmal zu bestaunenhatte. Die Jungen waren durch die Bank von Neid erfüllt.Aber die am tiefsten Beleidigten waren diejenigen,welche zu spät einsahen, daß sie selbst zu diesem unerhörtenGlanz beigetragen hatten, indem sie Tom Billetts verkauftenfür die Schätze, welche er durch Übertragung derAnstreich-Gerechtsame erworben hatte. Sie verachtetensich selbst, da sie sich durch einen listigen Betrüger hattenanführen lassen.
Der Preis wurde Tom überreicht, mit so viel Salbung,als der Superintendent unter solchen Umständenauftreiben konnte. Aber es war doch nicht der rechteSchwung darin, denn sein Instinkt sagte ihm, hierbeimüsse ein Geheimnis walten, das wohl nicht ganz gut dasLicht der Sonne vertragen würde. Es war ganz einfachunglaublich, daß dieser Knabe zweitausend Bibelversein seinem Kopfe aufgespeichert haben sollte — ein Dutzendschon hätte zweifellos seine Kräfte überstiegen. AmyLawrence war ganz rot vor Stolz und versuchte, es Tomzu zeigen, aber er wollte nicht sehen. Sie wundertesich; dann grämte sie sich ein bißchen; schließlich stieg einleiser Verdacht in ihr auf und verflog und kam wieder.Sie paßte auf. Ein heimlicher Blick verriet ihr Welten,und dann brach ihr Herz, und sie wurde eifersüchtig undwütend, und die Tränen kamen, und sie haßte alle, alle,Tom natürlich am meisten.
Tom wurde vor den Richter geführt. Aber seineZunge klebte am Gaumen, der Schweiß trat ihm auf dieStirn, sein Herz klopfte — teils infolge der Größe desMannes, aber mehr noch, weil er ihr Vater war. Erhätte, wäre es dunkel gewesen, vor ihm niederfallen undihn anbeten mögen. Der Richter legte die Hand aufToms Kopf und nannte ihn einen tüchtigen, kleinen Mannund fragte ihn nach seinem Namen. Der Junge stammelte,hustete und stieß endlich mühsam heraus: „Tom!“
„O nein — nicht Tom, sondern —“
„Thomas.“
„Richtig. Ich dachte mir doch, daß noch etwas fehlte.Gut. Aber ich glaube, du hast noch einen Namen, unddu wirst ihn mir nennen, nicht?“
„Nenne dem Herrn deinen anderen Namen, Thomas,und sage: Herr! Nicht vergessen, was sich schickt!“
„Thomas Sawyer — Herr!“
„So — so ist‘s recht! Ein guter Junge. Ein braverJunge. Ein braver, kleiner Junge. Zweitausend Versesind viel — sehr, sehr viel! Und Sie brauchen die Mühe,die es Ihnen bereitet hat, es ihm beizubringen, sichernicht zu bereuen; denn Kenntnisse sind gewiß mehr wert,als irgend etwas anderes in der Welt. Sie machen großeMänner und große Menschen. — Du wirst eines Tagesein großer Mann sein und ein großer Mensch, Thomas,und dann wirst du zurückblicken und sagen: Das alles verdankeich der herrlichen Sonntagsschule meines Heimatsdorfes;alles meinen lieben Lehrern, die mich angehaltenhaben, zu lernen; alles dem guten Superintendenten, dermich anfeuerte und über mir wachte und mir eine wundervolleBibel schenkte, eine herrliche, prächtige Bibel, damit ichsie immer, immer bei mir haben möge; alles meiner Erziehung!Das wirst du sagen, Thomas! Und du würdest dirmit keinem Geld deinen Schatz von zweitausend Versenbezahlen lassen — nein, wahrhaftig nicht! — Und jetztkannst du mir und dieser Dame eine große Freude machenund uns einige deiner Verse aufsagen — du wirst esgern tun, denn wir freuen uns ja so sehr über einenfleißigen Knaben. Ohne Zweifel kennst du die Namenaller zwölf Jünger. Willst du uns also die Namen derbeiden zuerst erwählten Jünger nennen?“
Tom zupfte an einem Knopf und sah möglichst einfältigaus. Er wurde rot und senkte die Augen. Mr.Walters Herz sank mit. Er sagte sich, es sei gar nichtmöglich, von diesem Jungen Antwort auf die einfachsteFrage zu bekommen — und den gerade mußte der Richterfragen! Doch fühlte er sich veranlaßt, zu Hilfe zukommen und sagte: „Antworte dem Herrn, Thomas, —fürchte dich nicht!“
Tom wurde immer röter.
„Nun, ich weiß, mir wirst du es sagen,“ mischtesich hier die Dame ein. „Die Namen der zwei erstenJünger waren —“
„David und Goliath!“
Decken wir den Schleier der Nächstenliebe über das,was nun folgte!
Fünftes Kapitel.
Ungefähr um halb zehn Uhr begann die kleine Glockeder Kirche zu läuten, und sogleich begann das Volk zurMorgenpredigt herbeizuströmen. Die Sonntagsschulkinderzerstreuten sich durchs ganze Haus und nahmenPlätze bei ihren Eltern ein, um unter Aufsicht zu sein.Tante Polly kam, und Tom, Sid und Mary saßen bei ihr.Tom wurde zunächst der Kanzel plaziert, um so weit wiemöglich vom offenen Fenster und dem Sommer draußenentfernt zu sein.
Das Volk füllte die Kirche. Der alte, gichtbrüchigePostmeister, der bessere Tage gesehen hatte, der Mayorund seine Frau — denn es gab einen Mayor, neben vielenanderen unnützen Dingen, — der Ortsrichter, die WitweDouglas, zart, klein und lebhaft, eine edle, gutherzigeSeele und immer obenauf (ihr Haus war das einzigesteinerne im Dorf, und das gastfreieste und bei Festlichkeitenverschwenderischste, das St. Petersburg aufweisenkonnte); Lawyer Riverson; dann die Schönheit des Dorfes,gefolgt von einem Haufen elegant gekleideter, mit allerhandFirlefanz behangener junger Herzensbrecher; dannall die jungen Ladendiener des Dorfes, alle gleichzeitig,denn sie hatten im Vestibül gestanden, Süßholz raspelnd— eine öltriefende, einfältige Schutztruppe — bis das letzteMädchen Spießruten gelaufen war. Und zuletzt vonallen kam der Musterknabe, Willie Mufferson, seine Mutterso sorgsam an der Hand führend, als wäre sie ausGlas. Er brachte seine Mutter stets zur Kirche und warder Liebling aller alten Damen. Das junge Volk haßteihn — er war zu gut; und dann war er ihnen gar zu oftals Muster vorgehalten worden. Sein weißes Taschentuchhing ihm aus der Tasche — so war es damals amSonntag Mode. Tom hatte kein Taschentuch und verachtetejeden Jungen, der eins hatte. Da die Versammlungjetzt so ziemlich vollzählig war, läutete die Glockenochmals, zur Mahnung für Nachzügler und Müßige,und dann senkte sich eine große Stille auf die Kirche, nurunterbrochen durch das Kichern und Wispern auf demChor. Der Chor kicherte und wisperte immer und überallwährend des ganzen Gottesdienstes. Es hat einmal einenKirchenchor gegeben, der nicht schlecht erzogen war, aberich weiß nicht mehr wo. Es ist schon eine ganze Reihevon Jahren her, und ich kann mich wahrhaftig nicht mehran die Einzelheiten erinnern — aber ich glaube, es war ineinem fremden Lande.
Der Geistliche gab das Lied an und las es nach einerganz besonderen, in dieser Gegend sehr beliebten Manierin singendem Ton herunter. Seine Stimme begann mitschwachem Flüstern, wuchs beständig an, bis sie einenPunkt erreichte, wo sie unter Herausstoßung des letztenWortes plötzlich abbrach und wie ein Springbrunnenherunterplumpste.
Er galt als wundervoller Vorleser. Bei allen kirchlichenVersammlungen wurde er aufgefordert, Verse vorzutragen,und wenn er damit fertig war, hoben die Ladiesihre Hände und ließen sie wieder in den Schoß fallen undverdrehten die Augen und schüttelten die Köpfe, als wolltensie sagen: Worte können hier nichts sagen, es ist zuwundervoll, zu wundervoll für diese Erde!
Nach dem Liede begann der Reverend Mr. Spragueeine Art Tagesbericht, indem er sich über Nachrichten vonMeetings und Versammlungen und tausenderlei Dinge verbreitete,bis alle Weltlust aus dem heiligen Hause gewichenzu sein schien — eine seltsame Mode, die überallin Amerika zu finden ist, sogar in den großen Städten undbis in unser Zeitalter des Zeitungs-Überflusses hinein.
Und jetzt kam die Predigt. Es war eine gute, leutseligePredigt und ging bis ins einzelne. Sie beschäftigtesich mit der Kirche und mit den Kindern der Kirche; mitden anderen Kirchen des Dorfes; mit dem Dorfe selbst;mit dem Lande; mit dem Staat; mit den Behörden dereinzelnen Staaten; mit den Vereinigten Staaten; mit demKongreß; mit dem Präsidenten; mit den Staatsdienern;mit den armen, sturmumtosten Seefahrern; mit den unterdem Joch ihrer Monarchen seufzenden Millionen Europasund des Orients; mit den Glücklichen und Reichen, dienicht Augen haben, zu sehen und Ohren, zu hören; mitden armen Seelen auf fernen Inseln; und schloß mit derBitte, daß seine Worte auf guten Boden fallen und dereinsthundertfältige Frucht tragen möchten. Amen.
Darauf folgte Kleiderrascheln, und die Versammlungsetzte sich. Der Knabe, dessen Geschichte dieses Buch enthält,hatte keine Freude an dieser Predigt, er hörte sieeinfach an — und vielleicht auch das nicht. Doch merkteer sich einzelne Details daraus, ganz unbewußt, denn, wiegesagt, er achtete kaum darauf, aber er kannte den Sermondes Geistlichen schon längst und bemerkte es sofort, wennmal irgend ein neuer Passus eingeschoben war, und dasempfand er dann unangenehm; er hielt Beisätze und Abweichungenvon dem Althergebrachten für unnobel undunrecht.
Während der Predigt setzt sich eine Fliege auf denSitz des Kirchenstuhls vor ihm und marterte ihn durchdas fortwährende Aneinanderreiben ihrer Beine. Dannumarmte sie ihren eigenen Kopf und drückte ihn so stark,daß die Glieder am Kopfe angewachsen zu sein schienen,fesselte ihre Flügel mit den Hinterbeinen und preßte siean den Körper, wie einen Überrock und verrichtete ihreganze Toilette mit einer Ruhe, als fühle sie sich vollkommensicher. Und so war es auch. Denn als sich TomsHand ihr näherte, um sie zu erwischen, blieb sie ruhig sitzen.— Tom dachte, wenn sich ihm diese Beschäftigung bei Beginnder Predigt geboten hätte, würde es ein angenehmerZeitvertreib für seinen Geist gewesen sein. — Aber beimSchlußsatz begann seine Hand sich zu krümmen und sichvorwärts zu bewegen; und im Augenblick, da das „Amen“gesprochen wurde, war die Fliege eine Kriegsgefangene.Seine Tante sah es und veranlaßte ihre Befreiung.
Der Geistliche gab seinen Text an und behandelte denersten Teil mit so gründlicher Langweile, daß manchein Kopf zu nicken begann; ein anderer Teil wieder warso voll Feuer und Schwefel und setzte der Versammlungso zu, daß sie ganz geknickt und so klein und nichtig erschien,daß es kaum der Erwähnung wert ist.
Tom zählte die Seiten der Predigt, und nach demGottesdienst wußte er stets ganz genau, wie viel es gewesenwaren, aber über die Predigt selbst wußte er seltenetwas anzugeben. Diesmal indessen gab er doch für einekleine Weile Obacht. Der Geistliche gab eine lange undrührende Schilderung vom Wiedersehen irdischer Schafeim Paradiese, wenn Löwe und Lamm beieinander liegenwürden und ein kleines Kind sie am Gängelbande führenkönnte. Aber Pathos, Eifer, Moral — alles war verlorenan dem kleinen Burschen; er dachte bloß an die Herrlichkeitdieses Heldendarstellers unter den unsichtbarenWesen; und er stellte sich vor, wie schön es sein müsse,dieses Kind darzustellen — wenn der Löwe ein zahmerLöwe sein würde.
Bei der Schlußbetrachtung geriet er dann wieder intiefe Leiden. Er erinnerte sich plötzlich eines Schatzes,den er besaß und zog ihn hervor. Es war ein großes,schwarzes Ungeheuer, mit schrecklichen Kinnbacken —Kneifzangen, sagte Tom. Es befand sich in einer Zündholzschachtel.Das erste, was das Tier tat, war, ihn inden Finger zu beißen. Ein tüchtiger Nasenstüber folgte,und das Tier flog in einen Kirchenstuhl, wo es liegenblieb — der verwundete Finger wanderte in Toms Mund.Das Tier lag auf dem Rücken, hilflos mit den Beinenstrampelnd, unfähig, aufzustehen. Tom sah es und griffdanach, aber es befand sich außerhalb seines Bereiches.Irgend jemand wollte sich auf den Stuhl niederlassen, sahdas Tier ebenfalls und warf es kurzerhand herunter.
Plötzlich kam ein herrenloser Pudel des Weges, trübselig,faul infolge der Sommerhitze, gelangweilt durch dieGefangenschaft, und sich nach einem Abenteuer umsehend.Er entdeckte das Tier. Sein Schwanz richtete sich emporund begann zu wedeln. Er betrachtete seinen Fund, gingum ihn herum, beschnüffelte ihn aus sicherer Entfernung,ging wieder im Kreis herum, kam näher und beschnüffelteihn dreister, hob dann die Lefzen, schnappte nach ihm, ohneihn zu fassen, wiederholte diese Prozedur mehrmals, begannzu spielen, legte sich, das Tier zwischen den Pfoten,und setzte seine Untersuchungen fort, wurde bald müde,gleichgültig und vergaß schließlich sein Spielzeug. SeinKopf sank herab, und sein Kinn drückte immer mehr aufden Feind, welcher ihn plötzlich gepackt hielt. Es ertönteein scharfes Geheul, des Pudels Kopf schnellte in die Höhe,und das Tier flog ein paar Meter weit fort und lag nunwieder hilflos auf dem Rücken. Die nächstsitzenden Zuschauerstießen sich mit geheimem Vergnügen an, einzelneGesichter verschwanden hinter Fächern und Taschentüchern,und Tom war ganz glücklich. Der Hund machte ein bösesGesicht und war wohl auch so gestimmt. Er war imHerzen gekränkt und brütete Rache. So ging er wiederzu dem Tier und machte einen neuen, heftigen Angriff,indem er von verschiedenen Punkten eines Kreises aus,dessen Mittelpunkt sein Opfer bildete, auf dieses zusprang,mit den Vorderpfoten dicht vor seinen Augen fuchtelte, mitden Zähnen nach ihm schnappte und den Kopf dicht vorihm schüttelte, daß die Ohren flogen. Nach einer Weilewurde es ihm wieder langweilig. Er begann ein Spielmit einer Fliege, aber das bot keinen rechten Ersatz. Darauflief er ein paarmal im Kreis herum, die Schnauze dichtan der Erde und bekam auch das satt. Er gähnte, seufzte,vergaß das Tier völlig und setzte sich gerade darauf.Wieder ein durchdringender Schrei, und der Pudel spranghilfesuchend auf einen Stuhl. Das Geschrei dauerte fort,und der Pudel tanzte dicht vor dem Altar herum, lief einenGang hinunter, sprang an der Tür in die Höhe und flehteum menschliche Hilfe. Seine Angst nahm fortwährendzu, bis er plötzlich wie ein behaarter Komet in seinemWeltenraum herumfuhr. Schließlich verließ der zumWahnsinn getriebene Dulder seine Bahn und sprang aufden Schoß seines Herrn. Dieser warf ihn aus demFenster, und die Stimme des unglücklichen Geschöpfes entferntesich und erstarb in der Ferne.
Inzwischen saß die ganze Versammlung, rot vorunterdrücktem Lachen, und die Predigt hatte völlig aufgehört.Jetzt wurde sie wieder aufgenommen, aber sieging stockend und abgerissen vor sich, und mit der Aufmerksamkeitwar es nichts mehr. Denn selbst die heiligsteAndacht war beeinflußt durch schlecht unterdrückte höchstunheilige Heiterkeit, als wenn der arme Geistliche irgendeinen schlechten Witz gemacht hätte. Es bedeutete einewahre Erleichterung für die Versammlung, als der Gottesdienstzu Ende und der Segen gesprochen war.
Tom schlenderte höchst gemütlich heim und dachtebei sich, so ein Gottesdienst wäre doch ganz nett, wennein bißchen Abwechselung dabei sei. Nur ein Gedankequälte ihn; er hatte allerdings die Absicht gehabt, denHund mit seiner „Beißzange“ spielen zu lassen, aber erhätte sie nicht fortschleppen sollen.
Sechstes Kapitel.
Der Montagmorgen fand Tom höchst übler Laune.Jeder Montagmorgen fand ihn so, denn er eröffnete eineneue Woche voll von Schul-Leiden und -Sorgen.
Stets wurde dieser Tag mit Seufzen begonnen; erhätte in diesem Augenblick gewünscht, daß es gar keinedie Woche unterbrechenden Feiertage geben möge; denndoppelt schwer war es danach, sich in neue Sklaverei undFronarbeit zu begeben.
Tom lag und dachte nach. Plötzlich kam ihm dannder Wunsch, krank zu sein, um zu Hause bleiben zu können.Das war ein Gedanke. Er überlegte sich die Sache. Aberer konnte keine Krankheit finden und grübelte und grübelte.Einmal glaubte er Anzeichen von Kolik zu entdecken undfing bereits an, sich trügerischen Hoffnungen hinzugeben.Aber bald wurden diese Symptome wieder schwächer, umendlich ganz zu verschwinden. Also mußte er weiterdenken. Plötzlich entdeckte er etwas. Einer seiner Oberzähnewar locker. Das war ein Glücksfall. Er war imBegriff, anzufangen zu stöhnen („Starter“ pflegte er einesolche Improvisation zu nennen), als ihm noch rechtzeitigeinfiel, daß seine Tante, wenn er damit zutage trat, denZahn ganz einfach ausziehen würde, und das würde wehtun. So nahm er sich vor, die Sache mit dem Zahn inReserve zu halten und nach etwas anderem zu suchen.Während einiger Zeit wollte ihm nichts einfallen, dannaber entsann er sich, den Doktor von einem gewissen„Etwas“ reden gehört zu haben, das zwei oder dreiWochen auf einem Patienten gelastet und ihn beinaheeinen Finger gekostet habe. So zog er seine wunde Zeheunter der Bettdecke hervor und unterzog sie einer genauenUntersuchung. Jetzt aber wußte er nicht, welches dienötigen Symptome seien. Immerhin schien sich hier eineAussicht zu bieten, er fing also voll Geistesgegenwart an,zu stöhnen.
Aber Sid schlief felsenfest.
Tom stöhnte lauter und bildete sich ein, in seiner Zehewirklich Schmerz zu empfinden.
Keine Wirkung auf Sid.
Tom fing an, vor Anstrengung Herzklopfen zu bekommen.Er machte einen letzten Versuch, sog sich vollLuft und stieß eine Reihe wundervoller Seufzer heraus.
Sid schnarchte weiter.
Tom wurde schlimm. „Sid, Sid,“ sagte er undstieß ihn an. Der Stoß wirkte, und Tom konnte wiederanfangen, zu stöhnen. Sid gähnte, streckte sich, richtete sichauf einem Ellbogen auf und begann Tom anzustarren.Tom stöhnte aus Leibeskräften.
Sid sagte: „Tom, du, Tom!“
Keine Antwort.
„So hör doch, Tom, Tom! Was hast du, Tom?“
Und er stieß ihn an und schaute ihm ängstlich insGesicht.
Tom mit kläglicher Stimme: „Tu‘s nicht, Sid.Stoß mich nicht!“
„Warum — was gibt‘s, Tom? Ich will Tanterufen.“
„Nein, nein! Es wird schon allmählich vorübergehen.Ruf niemand.“
„Aber, ich muß es tun! Stöhn‘ nicht so, Tom, es istgräßlich! Wie lange dauert das schon?“
„Stundenlang! Au, au!! Stör‘ mich nicht, Sid, duwirst mich töten!“
„Tom, warum hast du mich nicht früher geweckt?Nicht, Tom, tu‘s nicht! Es geht mir durch und durch, daszu hören! — Sag, Tom!?“
„Ich vergebe dir alles, Sid. (Stöhnen.) Alles, wasdu mir mal getan hast. Wenn ich tot bin —“
„Tom, du bist verrückt, glaub‘ ich! Du sollst nichtsterben — nicht, Tom?“
„Ich vergebe allen, Sid. (Stöhnen.) Sag‘sihnen, Sid. — Und Sid, meine gelbe Türklinke und meineKatze — die mit dem einen Auge — sollst du dem neuenMädchen geben, das gestern gekommen ist, und sag‘ihr —“
Aber Sid war in seine Kleider gefahren und war fortgelaufen.Tom stöhnte jetzt wirklich, so lebhaft hatte ersich alles eingebildet; so hatte sein Stöhnen einen ganznatürlichen Ton bekommen.
Sid flog hinunter und schrie: „O, Tante Polly,komm, Tom stirbt!“
„Stirbt?!“
„Ja doch! Komm doch nur schnell!“
„Ach Unsinn! Ich glaub‘s nicht.“
Trotzdem rannte sie die Treppe hinauf, Sid undMary hinter ihr drein. Ihr Gesicht war ganz weiß, unddie Lippen bebten. Am Bett angekommen, stieß sie aus:
„Tom, Tom! Was ist das mit dir?“
„Ach, Tante, ich —“
„Was ist mit dir? Was ist mit dir, Kind?“
„Ach, Tante, meine wehe Zehe tut so schrecklich weh!“
Die alte Dame fiel in einen Stuhl, lachte ein wenig,weinte ein wenig, dann beides gleichzeitig. Das erleichtertesie, und sie sagte: „Tom, wie hast du mich erschreckt!Aber nun fertig mit dem Unsinn, aufstehen!“
Das Stöhnen hörte auf, und der Schmerz wich ausder Zehe. Tom kam sich ein bißchen töricht vor und sagtekleinlaut: „Tante Polly, es schien schrecklich und tat soweh, daß ich sogar meinen Zahn darüber vergessen hatte.“
„So, deinen Zahn! Was ist denn mit deinemZahn?“
„Einer ist lose und tut ganz schrecklich weh!“
„Na, schon gut, schon gut! Fang nur nicht wiederan zu stöhnen! Mund auf! Ja, der Zahn ist lose, aberdu wirst nicht dran sterben. Mary, gib mir ein StückFaden und eine glühende Kohle aus dem Ofen!“
„Ach, bitte, bitte, Tante,“ bettelte Tom, „nicht ausziehen,‘s tut gar nicht mehr weh! Ich will nicht mehraufstehen können, wenn‘s noch weh tut! Bitte, tu‘s nicht,Tante! Ich will ja gar nicht mehr aus der Schule bleiben!“
„Wirklich nicht? Also all der Lärm, weil du aus derSchule bleiben wolltest und fischen gehen, wahrscheinlich?Tom, Tom, ich habe dich so lieb, und du scheinst keinenanderen Wunsch zu haben, als mein altes Herz zu brechenmit deinen Torheiten!“
Inzwischen waren die zahnärztlichen Marterwerkzeugegekommen. Die alte Dame legte das eine Ende derSchnur um Toms Zahn, das andere um den Bettpfosten.Dann nahm sie die Kohle und hielt sie plötzlich dicht vorToms Gesicht. Im nächsten Augenblick hing der Zahnam Bettpfosten.
Aber jedes Unglück hat sein Gutes. Als Tom nachdem Frühstück zur Schule bummelte, war er der Gegenstanddes Neides bei allen Jungen, denn die Lücke inseiner Zahnreihe befähigte ihn, auf ganz neue und wunderbareWeise auszuspucken. Bald hatte er ein ganzesGefolge, das seinen Vorführungen mit höchstem Interessebeiwohnte. Und einer mit einem geschnittenen Finger,der bisher der Mittelpunkt der Verehrung und Bewunderunggewesen war, sah sich auf einmal ohne Anhängerund seines Glanzes beraubt. Das Herz wurde ihmschwer und eine Verachtung heuchelnd, die er nicht fühlte,meinte er, es wäre wohl was Rechtes, ausspucken zukönnen wie Tom Sawyer. Aber die anderen riefen ihmzu: „Saure Trauben!“ und er ging davon — ein gestürzterHeld.
Kurz darauf begegnete Tom dem jugendlichen Pariades Dorfes, Huckleberry Finn, dem Sohn des Dorf-Trunkenboldes.Huckleberry war riesig verhaßt und gefürchtetbei allen Müttern des Ortes, denn er war unerzogen,ruchlos, gemein und schlecht — und deswegenvon allen Kindern so bewundert und seine Gesellschaft sogesucht und ihr Wunsch so heiß, zu sein wie er. Tom war,wie alle wohlerzogenen Knaben, neidisch auf Huckleberrysfreies, ungehindertes Leben und hatte strengen Befehl,nicht mit ihm zu spielen. Natürlich spielte er darum erstrecht mit ihm, wo sich‘s tun ließ.
Huckleberry war stets in abgelegte Kleider Erwachsenergekleidet, und diese Kleider mußten jahrelang aushaltenund flogen in Fetzen um ihn herum.
Sein Hut war eine trostlose Ruine, mit großen Lückenin dem herunterhängenden Rande. Sein Rock — wenner einen hatte — baumelte ihm fast bis auf die Hackenund hatte die hinteren Knöpfe in der Höhe des Knies.Ein Tragband hielt seine Hosen. Der Hosenboden hingsackartig hinunter — ein luftleerer Raum, sozusagen.Huckleberry kam und ging, wie er mochte. Er schlief aufTürschwellen bei schönem Wetter und in Regentonnenbei schlechtem; er brauchte weder zur Schule zu gehen, nochzur Kirche, keinen Herrn anzuerkennen und niemand zugehorchen. Er konnte fischen und schwimmen, wann undwo er nur wollte, und sich dabei solange aufhalten, wiees ihm beliebte. Im Frühling war er stets der erste,der barfuß lief und der letzte, der im Herbst sich wiederin das dumme Leder bequemte. Er brauchte sich wederzu waschen, noch reine Kleider anzuziehen. Fluchen konnteer herrlich. Mit einem Worte — was das Leben kostbarmachte — er hatte es. So dachten alle die wohlerzogenen,sittsamen, respektablen Buben in St. Petersburg.
Tom rief den romantischen Helden sofort an: „Holla,Huckleberry!“
„Holla, du, wie geht‘s dir?“
„Was hast du da?“
„Ne tote Katze.“
„Laß sehen, Huck. Donnerwetter, wie steif sie ist!Woher hast du die?“
„Von ‘nem Jungen gekauft.“
„Was hast du dafür gegeben?“
„Einen blauen Zettel und eine Schweinsblase ausdem Schlachthaus.“
„Und woher hattest du den blauen Zettel?“
„Vor zwei Wochen von Ben Rogers für einen Stockgekauft.“
„Sag — was machst du mit der toten Katze?“
„Was? Warzen heilen.“
„So. Wirklich? Ich weiß was Besseres.“
„Wird was sein! Was ist‘s denn?“
„Na — faules Wasser!“
„Faules Wasser! Geb dir keinen Heller für deinfaules Wasser!“
„So, nicht? Hast du‘s vielleicht probiert?“
„Ich nicht, Bob Tanner.“
„Wer hat dir das gesagt?“
„Na, er hat‘s Jeff Thatcher gesagt, und Jeff hat‘sJohnny Baker gesagt, und Johnny dem Jim Hollis, undJim Hollis dem Ben Rogers, und Ben sagte‘s ‘nemNeger, und der hat‘s mir gesagt. So, nun weißt du‘s!“
„Na, weißt du, die haben alle gelogen. Alle, bis aufden Neger, den kenn ich nicht. Aber ich hab‘ nie einenNeger gesehen, der nicht gelogen hätte. Aber sag‘ doch,wie macht‘s Bob Tanner denn, Huck?“
„Na, er nimmt seine Hand und taucht sie in einenverfaulten Baumstumpf, worin faules Wasser ist.“
„Am Tage?“
„Natürlich!“
„Mit dem Gesicht nach dem Baum?“
„Ja — das heißt, ich glaube.“
„Sagte er was?“
„Ich glaube nicht — aber ich weiß nicht.“
„Na — der will darüber sprechen, wie man Warzenheilt — so ein alter Schafskopf! Da hätt‘ er auch sonstwas tun können! Also, du mußt mitten in den Waldgehen, wo du weißt, daß ein Baumstamm mit faulemWasser ist, und gerade um Mitternacht mußt du das Gesichtgegen den Baum wenden und die Hand hineinstecken,und dann sagst du:
‚Ist das Wasser faul und dumpf —
Frißt‘s die Warz‘ mit Stiel und Stumpf!‘
und dann trittst du langsam zurück, elf Schritt, mit geschlossenenAugen, und dann drehst du dich dreimal herumund gehst nach Hause, ohne mit jemand zu sprechen.Denn sonst hilft‘s nichts.“
„Ja, das kann sein; aber Bob Tanner hat‘s andersgesagt.“
„Na, weißt du, dann versteht er‘s halt nicht. Darumhat er auch am meisten Warzen von allen im Dorf, under hätte nicht eine, wenn er das mit dem faulen Wasserwüßte, wie‘s ist. Ich hab‘ auf diese Weise tausend Warzenfortgekriegt, Huck. Ich bekomme so viel Frösche indie Hand, daß ich immer eine Masse Warzen habe. —Zuweilen mach‘ ich sie mit ‘ner Bohne ab.“
„Ja, Bohne ist gut, damit hab‘ ich‘s auch schon gemacht.“
„So? Wie machst du‘s denn?“
„Na, man nimmt die Bohne und schneidet sie durch,und dann schneidet man die Warze, bis Blut herauskommt,und dann läßt man das auf die eine Hälfte der Bohnetropfen, und dann nimmt man die und gräbt bei Vollmondam Kreuzweg ein Grab, und da tut man sie dannhinein. Dann, weißt du, zieht die eine Hälfte der Bohne,wo das Blut darauf ist, die andere Hälfte an, und so hilftdas Blut, um die Warze fortzuziehen, so lang, bis siefort ist.“
„Ja, Huck, das ist ganz richtig. Nur, wenn du siebegräbst und dazu sagst: ‚Bohne fort — komm nicht mehran diesen Ort,‘ ist‘s noch besser. So macht‘s John Harper,und der ist schon mal bis Coonville und überall gewesen.Aber sag‘ — wie heilst du sie denn mit ‘nertoten Katze?“
„Weißt du, du nimmst die Katze und gehst auf denKirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloser begrabenist. Wenn‘s dann Mitternacht ist, kommt ein Teufel— oder auch zwei oder drei — du kannst ihn abernicht sehen, sondern hörst nur so was wie den Wind, oderhörst ihn sprechen. Und wenn sie dann den Kerl fortschleppen,wirfst du die Katze hinterher und rufst:
‚Teufel hinterm Leichnam her,
Katze hinterm Teufel her,
Warze hinter der Katze her —
Seh‘ euch alle drei nicht mehr!‘
Das heilt jede Warze.“
„Das läßt sich hören. Hast du‘s schon mal versucht,Huck?“
„Nein, aber die alte Hopkins hat‘s mir erzählt.“
„Ja, ich glaub‘, ‘s ist so, denn die sieht aus wie ‘neHexe.“
„Das glaub‘ ich! Weißt du, Tom, sie ist eine Hexe!Sie hat meinen Alten behext. Er hat‘s selbst gesagt. Erbegegnete ihr mal ganz allein und sah, daß sie ihn behexenwollte, da hob er einen Stein auf, und wenn sie sichnicht gebückt hätte, hätt‘ er sie geworfen. Na, in der Nachtdarauf fiel er von einem Schuppen, auf dem er besoffengelegen hatte, und brach den Arm.“
„Das ist ja schrecklich! Woher wußte er, daß sieihn behext hatte?“
„Gott, das weiß mein Alter halt. Er sagt, wenndie dich recht steif anschaut, behext sie dich, besonders wennsie dabei murmelt. Dann spricht sie nämlich das Vaterunserrückwärts.“
„Sag, Huck, wann willst du das mit der Katze probieren?“
„Diese Nacht. Ich denke, sie werden diese Nacht denalten Hoss Williams holen.“
„Aber der ist doch am Samstag schon beerdigt, Huck.Haben sie ihn nicht schon Samstag nacht geholt?“
„Ach, Unsinn! Wie konnten sie‘s denn vor Mitternacht?Und dann war‘s Sonntag. Am Sonntagkommen doch die Teufel nicht herauf!“
„Daran hab‘ ich nicht gedacht. Dann ist‘s richtig.Darf ich mitgehen?“
„Meinetwegen — wenn du dich nicht fürchtest?“
„Fürchten? Das ist das wenigste. Willst dumiauen?“
„Ja, und du mußt auch miauen, wenn du kommenkannst. Letztes Mal hast du mich so lange warten lassen,bis der alte Hays einen Stein nach mit warf und schrie:‚Der Teufel hol‘ die Katz!‘ Da hab‘ ich ihm einen Steinins Fenster geschmissen — aber sag‘s nicht weiter!“
„Bewahre! Damals konnte ich nicht miauen, weilmir meine Tante aufpaßte; aber diesmal werde ich bestimmtmiauen. — Du, Huck, was ist das?“
„Das? Ach, nur ‘ne Baumwanze.“
„Woher hast du die?“
„Aus dem Wald mitgebracht“
„Was willst du dafür haben?“
„Ich — ich weiß nicht. Ich will sie gar nicht verkaufen.“
„Na ja, ‘s ist ja auch nur ‘ne lump‘ge Wanze.“
„Oho, nach so ‘ner Wanze kannst du lange laufen.Mir gefällt sie schon.“
„‘s gibt ‘ne Menge solcher Wanzen. Wenn ichwollte, könnt ich tausend solche haben.“
„So, warum willst du denn nicht? Weil du ganz gutweißt, daß du‘s nicht kannst! Dies ist eine ganz besondereWanze. Es ist die erste, die ich dies Jahr gesehenhab‘.“
„Du, Huck, ich geb‘ dir meinen Zahn dafür.“
„Laß sehen.“
Tom holte ein Papier hervor und rollte es sorgfältigauf. Huckleberry untersuchte es genau. Dann sagte er:
„Ist er auch echt?“
Tom machte den Mund auf und zeigte seine Zahnlücke.
„Gut.“ sagte Huckleberry, „er ist echt.“
Tom verschloß die Wanze in der Schachtel, die vorherdas Gefängnis der „Kneifzange“ gewesen war, unddie beiden trennten sich, jeder höchlichst zufrieden mitseinem Tausch.
Als Tom das kleine, einsam gelegene Schulhaus erreichthatte, ging er ganz lustig, wie einer, der sich möglichstbeeilt hat, hinein. Er hängte seine Mütze auf undsetzte sich mit geschäftiger Eile auf seinen Platz. Der Lehrer,auf einem großen Lehnstuhl thronend, hatte ein bißchengeschlafen und fuhr bei Toms Anstalten in die Höhe.
„Thomas Sawyer!“
Tom wußte, daß, wenn sein Name ganz gesprochenwurde, die Situation kritisch war.
„Herr!“
„Komm vor! Wo bist du denn wieder mal so langegewesen?“
Tom wollte seine Zuflucht zu einer Lüge nehmen, alser zwei lange, helle Zöpfe einen Rücken herabhängen sahund sie infolge geheimer Sympathie erkannte. Und daneben,auf der Mädchen-Seite, war der einzigste Freiplatz!Sofort entgegnete er: „Ich mußte mit HuckleberryFinn etwas besprechen.“
Des Lehrers Pulse stockten, er starrte hilflos um sich.Alles Geräusch der Arbeitenden verstummte. Die Schülerglaubten, dieser kühne Bursche habe den Verstand verloren.
Der Lehrer fragte nochmals: „Du — du mußtestwas?“
„Mit Huckleberry Finn sprechen.“
Ein Irrtum war nicht mehr denkbar.
„Thomas Sawyer, das ist die staunenerregendsteAntwort, die ich je erhalten habe. Darauf kann nurdie Rute antworten. Zieh die Jacke aus!“
Des Lehrers Arm arbeitete, bis er völlig ermattetund die Rute kaput war. Dann hieß es: „So, nun geh,und setz dich zu den Mädchen! Und laß dir das zurWarnung dienen!“
Das Kichern, welches jetzt durch das Schulzimmerging, schien Tom in Verlegenheit zu bringen, in Wahrheitaber war es vielmehr die wundervolle Nähe seines unbekanntenIdols und die mit Ehrfurcht gemischte Freudedieses Glücksfalls. Er ließ sich auf dem Ende der Banknieder, und das Mädchen wandte sich ab, indem es ostentativden Kopf drehte. Kichern, Flüstern und Tuschelnerfüllten das Zimmer, aber Tom saß mäuschenstill, dieArme auf das lange Pult vor sich gelegt, und schien eifrigzu lernen. Nach und nach legte sich die allgemeine Beschäftigungmit ihm, und das gewöhnliche Schulsummen fülltewieder die Luft. Sofort begann Tom verstohlen glänzendeBlicke auf das Mädchen zu werfen. Dieses merktees, schnitt ihm ‘ne Grimasse und drehte für die Zeit einerMinute den Kopf von ihm ab. Als sie vorsichtig wiederherumsah, lag ein Pfirsich vor ihr. Sie stieß ihn weg.Tom schob ihn ihr liebenswürdig wieder zu; sie schob ihnnochmals fort, aber weniger heftig. Tom legte ihn geduldigzum dritten Mal auf ihren Platz. „Bitte — nimm,ich hab‘ noch mehr!“ Das Mädchen lächelte bei dieserAnrede, machte aber sonst kein Zeichen des Einverständnisses.Nun begann der Bursche etwas auf seine Tafelzu zeichnen, wobei er sein Werk sorgfältig mit der Handbedeckte. Eine Zeitlang tat das Mädel gleichgültig; aberihre Neugier begann sich doch bald bemerkbar zu machendurch begehrliche Blicke. Tom arbeitete weiter, ohne eineAhnung davon. Das Mädel bewerkstelligte eine ArtVerrenkung, um einen Blick auf Toms Werk werfen zukönnen, der aber merkte noch immer nichts.
Schließlich gab sie nach und flüsterte zögernd: „Laßmich sehen!“
Tom enthüllte sofort eine klägliche Karikatur einesHauses mit zwei schiefen Giebeln und korkzieherförmigemRauch über dem Schornstein. Das Interesse der Kleinenan dem Werk wurde immer lebhafter, sie vergaß allesdarüber. Als es beendet war, betrachtete sie es einenMoment und flüsterte dann: „Zu niedlich! Mach einenMann!“
Der Künstler errichtete im Vordergrund einen Mann,einen wahren Mastbaum. Er hätte mit Leichtigkeit überdas Haus wegsteigen können; aber die Kleine war nichtkritisch. Sie war zufrieden mit dem Monstrum.
„Ein wundervoller Mann — jetzt mach mich, wie ichdaher komme!“
Tom malte so etwas wie ein Zifferblatt, darübereinen Vollmond auf einem Strohhalm von Hals, undArme, in deren ausgespreizten Fingern ein mächtigerFächer steckte. Das Mädchen sagte: „Reizend, Tom.Ich wollte, ich könnte auch zeichnen.“
„‘s ist ganz leicht,“ flüsterte Tom, „ich will‘s dichlehren.“
„Ja, willst du? Wann?“
„Am Mittag. Gehst du zum Essen nach Haus?“
„Wenn du bleibst, bleib ich auch.“
„Na, gut also. — Wie heißt du denn?“
„Becky Thatcher. — Und du? Ach, ich weiß: ThomasSawyer.“
„So heiß ich, wenn ich was getan hab‘. Wenn ichbrav bin, nennt man mich Tom. Du wirst mich Tomnennen, nicht wahr?“
„Ja.“
Nun begann Tom etwas auf die Tafel zu kritzeln,was das Mädchen wieder nicht sehen sollte. Aber sieließ sich nicht mehr abweisen. Sie verlangte, es zusehen.
„Es ist nichts,“ sagte Tom gleichgültig.
„Es ist doch was.“
„Nein, es ist nichts. Du brauchst‘s nicht zu sehen.“
„Doch, ich will‘s sehen. Ich will. — Laß michsehen, bitte!“
„Ich will‘s dir sagen.“
„Nein, ich will nicht — ich will, ich will, ich will essehen!“
„Aber du sagst es doch niemand? So lang dulebst?“
„Nein, ich sag‘s niemand. Jetzt laß mich sehen!“Und sie legte ihre kleine Hand auf seine, und ein kleinesHandgemenge folgte. Tom tat, als wehre er sich imErnst, ließ aber doch seine Hand langsam abgleiten, bisdie Worte sichtbar wurden:
„Ich liebe dich!“
„Garstiger Junge!“ Dabei gab sie ihm einen kleinenKlaps, schien aber doch nicht allzu böse zu sein.
Gerade in diesem schönen Moment fühlte Tom einenschweren Griff am Ohr und eine unwiderstehlich emporziehendeGewalt. So wurde er durch das Schulzimmereskortiert und auf seinen eigenen Platz befördert, untereinem Kreuzfeuer von Spott und Gelächter der ganzenSchule. Dann blieb der Lehrer während eines schrecklichenAugenblickes neben ihm stehen und kehrte dann endlich aufseinen Thron zurück, ohne ein Wort gesprochen zu haben.Aber obwohl Toms Ohr schmerzte, war sein Herz dochvoll Jubel.
Als die Schule wieder beruhigt war, machte Tomeinen sehr ehrenwerten Versuch, zu arbeiten, aber derSturm in ihm war zu heftig. Dann sollte er lesen undbrachte ein klägliches Gestümper zu Tage, in der Geographiestundemachte er Seen zu Bergen, Berge zuFlüssen, Flüsse zu Erdteilen, bis das Chaos wieder hereinbrach.Schließlich beim Buchstabieren wühlte er sich durcheine Menge einzelner Worte und Silben, bis er sich völligfestgerannt hatte und die Zinn-Medaille, die er vor Monatenals besondere Auszeichnung gewonnen hatte, wiederabgeben mußte.
Siebentes Kapitel.
Je gewissenhafter Tom sich bemühte, seine Gedankenan das Buch zu fesseln, um so mehr schweiften sie in dieFerne. So gab er es schließlich mit einem Seufzer aufund gähnte. Es wollte ihm scheinen, als werde es heuteniemals Mittagszeit. Die Luft stand bewegungslos; keinHauch. Es war der schläfrigste aller schläfrigen Tage.Das halb erstickte Murmeln der fünfundzwanzig Kinder,die da so eifrig studierten, lullte Toms Seele ein, gleichdem Gesumse der Bienen. Draußen im prallen Sonnenscheinreckte Cardiff Hill sein im saftigsten Grün prangendesHaupt durch den schimmernden Schleier der Luft, dieaus der Ferne gesehen, die Farbe des Purpurs angenommenhatte — infolge der großen Hitze. Ein paarVögel wiegten sich auf müßigen Schwingen hoch imZenith. Sonst war kein Lebewesen sichtbar, außer einpaar Kühen, und die schliefen auch. Toms Herz lechztenach Freiheit oder wenigstens irgend welcher Beschäftigung,um damit diese traurigen Stunden totzuschlagen.Seine Hand wanderte in die Tasche, und über sein Gesichthuschte ein Schimmer freudiger Dankbarkeit, ihm selbstunbewußt. Dann wurde die Zündholzschachtel ans Tageslichtbefördert. Er befreite die Wanze und setzte sie vorsich auf die Bank. Das unvernünftige Tier wurde wahrhaftigvon demselben Ausdruck des Dankes verschönt, aberes hatte zu früh frohlockt, denn als es Miene machte, sichdankerfüllt davonzubegeben, schubste Tom es mit demGriffel zurück und zwang es, eine andere Richtung einzuschlagen.Toms Busenfreund saß neben ihm, seufzend,wie es Tom noch eben getan hatte; jetzt war er sofort vontiefstem und dankbarstem Interesse erfüllt für diesen reizendenZeitvertreib. Dieser Busenfreund war Joe Harper.Die beiden Burschen waren die Woche hindurch unzertrennlicheFreunde — Samstags waren sie erbitterteFeinde. Joe zog einen Griffel aus seinem Kasten undbegann sich an den Exerzitien des Gefangenen zu beteiligen. Der neue Sport gewann von Minute zu Minutean Interesse. Aber bald bemerkte Tom, daß sie einanderins Gehege kamen und eigentlich keiner recht was von derWanze habe. So legte er Joes Tafel auf den Tisch undzog daran entlang einen senkrechten Strich mit demGriffel. „So,“ sagte er, „so lange sie auf deiner Seite ist,kannst du mit ihr herumschubsen, und ich lasse sie in Ruhe,sobald du sie aber auf meine Seite entkommen läßt,mußt du sie in Ruhe lassen, und ich darf sie behalten,so lange ich sie auf meiner Seite halten kann.“
„Na, also — los!“
Die Wanze entschlüpfte sofort von Toms Gebiet undüberschritt den Äquator. Joe drangsalierte sie eine Weile,und dann kroch sie wieder zu Tom. So ging es mehrmalshin und her. Während sich einer der beiden voll Eifer mitder Wanze herumschlug, schaute der andere begierig zu;beider Köpfe waren, dicht aneinander gedrängt, über denTisch gebeugt, und beider Geist war von gleichem Interesseerfüllt. Schließlich schien sich das Glück für Joe zuentscheiden. Die Wanze versuchte dies und das, schlugimmer neue Wege ein und wurde so hitzig und aufgeregtwie die Jungen selbst, aber jedesmal, wenn sie Joe überlistetund den Sieg davongetragen zu haben schien, undes Tom bereits in den Fingern zuckte, zu beginnen, triebJoes Griffel die Wanze noch im letzten Augenblick zurückund hielt sie wiederum gefangen. Schließlich konnte Tomes nicht länger aushalten. Die Versuchung war zu groß.So holte er aus und half mit seinem Griffel ein bißchennach. Das ärgerte Joe mächtig. „Tom, laß das!“
„Ich will sie jetzt auch mal wieder ein bißchen zumSpielen haben, Joe.“
„Halt, das gibt‘s nicht; laß sie los!“
„Sag, was du willst — ich muß sie jetzt malhaben!“
„Ich sag dir — laß sie!“
„Fällt mit grad ein!“
„Du sollst aber — sie ist auf meiner Seite!“
„Du hör‘, Joe — wem gehört die Wanze?“
„Ist mit ganz egal, wem sie gehört — sie ist aufmeiner Seite, und du sollst sie nicht anfassen!“
„Sooo — ich will aber — nu grade! Zum Teufel,mir gehört die Wanze! Ich werd‘ doch mit ihr tun dürfen,was ich will!“
Tom fühlte einen schrecklichen Schlag auf der Schulter,im nächsten Augenblick fühlte Joe ihn, und währendder nächsten Minuten flog der Staub in dichten Wolkenvon ihren Jacken, und die ganze Schule jubilierte. Diebeiden waren viel zu sehr in ihren Streit vertieft gewesen,um die plötzliche Stille zu bemerken, die sich über dieKlasse gelagert hatte, während der Lehrer auf den Zehenvon seinem Pult heruntergeschlichen kam. Er hatte einenguten Teil der Auseinandersetzung mit angehört, bis ertätig eingriff.
Als die Schule mittags aus war, schlich Tom zu Beckyund flüsterte ihr ins Ohr:
„Setz deinen Hut auf und tu so, als wenn du nachHause gingest. Wenn du um die Ecke bist, laß die anderenlaufen und komm durch die Seitengasse zurück. Ich will‘nen anderen Weg gehen und komme dann auch zurück.“
So ging eins mit einem Trupp Schüler fort, dasandere mit ‘nem andern. Eine kurze Weile danach trafensie sich am Ende des Gäßchens wieder, und als sie wiederbei der Schule anlangten, waren sie da ganz ungestört.
Dann saßen sie zusammen, vor sich eine Tafel, undTom gab Becky seinen Griffel, führte ihr die Hand, undsie zeichneten zusammen ein wundervolles Haus. Sobalddas Interesse an der Kunst zu schwinden begann, fingensie an, sich was zu erzählen. Tom schwamm in Seligkeit.
„Hast du Ratten gern?“ fragte er Becky.
„Pfui, ich hasse sie!“
„Ja, ich auch — das heißt lebendige. Aber ich meintetote, die man an ‘nem Strick sich um den Kopf herumschwingenlassen kann.“
„Nein, ich mag überhaupt gar keine Ratten. Ichmöchte Gummi zum Kauen.“
„Das mein ich! Ich wollt‘, ich hätt‘ welchen!“
„Möchtest du? Ich hab‘ welchen. Du kannst ihn‘ne Weile kriegen, aber dann mußt du ihn mir wiedergeben!“
Und dann kauten sie Gummi und stemmten die Kniegegen die Bank und waren seelenvergnügt.
„Warst du schon mal im Zirkus?“ fragte Tom.
„M — ja, mein Papa hat mich schon ‘n paarmal mitgenommen,wenn ich artig war.“
„Ich bin schon drei- oder viermal dort gewesen —vielmal! — Die Kirche ist gräßlich langweilig neben demZirkus. Ich möchte immer in den Zirkus gehen. Wennich groß bin, will ich Clown im Zirkus werden.“
„Ach, willst du wirklich? Das ist aber nett. Diesind alle so hübsch geputzt.“
„M — ja. Und dann verdienen sie eine UnmengeGeld — Ben Rogers sagt, mehr als einen Dollar täglich.— Sag, Becky, warst du schon mal verlobt?“
„Was ist das?“
„Nun — wenn man sich heiraten will.“
„Nein.“
„Möcht‘s du‘s mal sein?“
„Ich weiß nicht. Ich denke ja. Ist denn das nett?“
„Nett? Ich weiß nicht, was netter ist. Du brauchstnur zu einem Knaben zu sagen, du möchtest keinen anderenjemals als ihn, niemals, niemals, niemals, und dannküßt ihr euch — und dann ist‘s fertig. Jeder kann das.“
„Küssen? Warum denn küssen?“
„Weil das halt zu schön ist, weißt du! Die Leutetun das immerfort.“
„Immer?“
„Natürlich, jeder, der ‘nen andern lieb hat, tut‘s.Weißt du nicht mehr, was ich auf die Tafel geschriebenhabe?“
„J — ja“
„Was denn?“
„Ich — ich kann‘s nicht sagen.“
„Soll ich‘s dir sagen?“
„J — ja — aber ein andermal.“
„Nein, jetzt.“
„Nein, nicht jetzt — morgen.“
„Nein — jetzt, Becky. Bitte! Ich will‘s auch ganzleise sagen; ins Ohr will ich‘s dir sagen.“
Als Becky zögerte, nahm Tom ihr Stillschweigen fürZustimmung, schlang seinen Arm um ihre Schulter, legteseinen Mund an ihr Ohr und flüsterte ihr die alte Zauberformelzu. Und dann sagte er: „Nun, mußt du‘s mirsagen — grad so!“
Sie wehrte sich eine Weile und bat dann: „Aber, dumußt das Gesicht fortwenden, daß du‘s nicht sehen kannst— dann tu ich‘s. Aber du darfst es niemand sagen, willstdu, Tom? Na, sag, willst du?“
„Selbstverständlich, Becky! Also jetzt!“
Er drehte den Kopf zur Seite. Sie beugte sich hinüber,bis ihr Atem ihn berührte, und flüsterte dann ganzleise: „Ich — liebe — dich!“
Und dann sprang sie auf und lief um Tische undBänke herum, Tom hinterher, und flüchtete schließlich ineinen Winkel, ihre weiße Schürze vor dem Gesicht. Tomfaßte sie um und sprach leise auf sie ein.
„Na, Becky — ‘s ist ja schon gut — alles, bis auf denKuß! Fürchte dich nur nicht davor, ich tu dir gewiß nichts.Sei gut, Becky!“
Damit zupfte er an der Schürze und an den Händen.Allmählich gab sie nach und ließ die Hände sinken. IhrGesichtchen, glühend vor Scham, erschien wieder. Tomküßte sie auf die roten Lippen und sagte: „So, nun ist‘sganz vorbei, Becky! Und jetzt weißt du wohl, darfst dunie wieder ‘nen anderen gern haben, außer mir, und darfstauch keinen heiraten, außer mir, nie, nie nie! Willst du?“
„Nein, ich will nie ‘nen anderen lieb haben als dich,Tom, und ich will nie ‘nen anderen heiraten als dich, unddu darfst auch nie eine andere heiraten als mich, niemals.“
„Na, gewiß! Versteht sich doch! Und, wenn wirjetzt wieder in die Schule gehen, oder wenn wir von derSchule nach Haus kommen, mußt du immer mit mirgehen, wenn‘s die anderen nicht sehen — und du wählstmich und ich dich beim Spazierengehen — so ist‘s unterVerlobten!“
„Nett ist das. Ich hatte davon noch nie gehört.“
„O, es ist so lustig! Als ich und Amy Lawrence —“
Die erstaunten Augen belehrten Tom über seineDummheit, und er hielt verwirrt inne.
„Ach, Tom, also bin ich nicht die erste, mit der duverlobt warst?“
Das Mädchen begann zu heulen.
Tom bat: „Nicht weinen, Becky. Ich mag sie jagar nicht mehr leiden.“
„Doch, du magst sie noch, Tom, du weißt ganz gut,daß du sie noch magst!“
Tom versuchte, seinen Arm um ihren Hals zu legen,aber sie stieß ihn fort, drehte das Gesicht nach der Wandund fing wieder an zu heulen. Tom machte mit seinensüßesten Schmeicheleien einen neuen Versuch und wurdeabermals abgeschlagen. Da erwachte sein Stolz, erwandte sich ab und ging hinaus. Draußen blieb er einwenig stehen, schwankend und unentschlossen, schielte nachder Tür und hoffte, sie würde bereuen und ihm nachkommen.Aber sie kam nicht. Schließlich wurde er weich;er fühlte, daß das Unrecht auf seiner Seite wäre. Es warwohl sehr sauer, ihr nochmals entgegenzukommen, aber ermachte sich selbst Mut und ging hinein. Sie stand immernoch in ihrem Winkel, das Gesicht zur Wand gekehrt.Toms Herz wollte brechen. Er ging zu ihr, stand einenAugenblick zögernd und wußte nicht, was tun. Dannsagte er ganz schüchtern: „Becky — ich — ich kümmeremich um keine andere als dich.“
Keine Antwort. Schluchzen.
„Becky,“ in bittendem Ton. „Becky, willst du nichtwenigstens was sagen?“
Immer lauteres Schluchzen. Tom zog seinen kostbarstenSchatz hervor, den abgebrochenen Knopf irgendeines alten Hausgerätes, hielt ihn ihr dicht vor die Augenund schmeichelte: „Na, Becky, willst du den haben?“
Sie schlug ihn ihm aus der Hand, daß er bis zur Türflog. Da marschierte Tom denn aus der Tür, über Bergund Tal, um an dem Tage nicht mehr zur Schule zurückzukehren.Sofort drehte sich Becky um. Sie lief zurTür. Er war nicht mehr zu sehen. Sie rannte hinausauf den Spielplatz. Er war nicht dort. Nun begann sieaus Leibeskräften zu schreien: „Tom, komm zurück —Tom!!“
Sie horchte angestrengt, aber keine Antwort kam. Siewar also allein in der Stille und Verlassenheit ringsum.So fing sie wieder an zu schreien, um sich selbst zu ermutigen,bis die Schüler wieder zur Schule zu kommenbegannen und sie ihren Kummer hinunterschlucken undihr gebrochenes Herz einstweilen beruhigen mußte. Sonahm sie ihr Kreuz eines ganzen langweiligen Nachmittagsauf sich, ohne unter all diesen Fremden eine einzigemitfühlende Seele zu finden, die ihren Schmerz mit ihrgeteilt hätte.
Achtes Kapitel.
Tom schlenderte immer weiter durch die Gassen, biser zu weit von der Schule entfernt war, um noch zumNachmittagsunterricht gehen zu können, dann setzte er sichin Trab. Ein paarmal passierte er kleine „Flußarme“, daihm ein weitverbreiteter, jugendlicher Aberglaube sagte,daß er sich dadurch vor Verfolgung sichern könne. Nacheiner halben Stunde war er hinter Douglas Mansionauf dem Gipfel von Cardiff Hill verschwunden, dasSchulhaus lag weit unten im Nebel, kaum noch sichtbar.Er „nahm“ einen dichten Wald, schlug einen Weg in dasInnere ein, der keiner war, und setzte sich auf eine Moosbankunter das weite Blätterdach einer Eiche. Kein Lüftchenregte sich. Die schwere Nachmittagsluft ließ sogardie Vögel verstummen. Die ganze Natur lag in starrerDumpfheit, nur zuweilen unterbrochen durch entferntesPochen eines Spechtes, wodurch das Schweigen und dasGefühl des Alleinseins nur um so fühlbarer wurde. Derkleine Bursche versank in melancholische Träume. SeineEmpfindungen standen vollkommen in Einklang mit seinerUmgebung. Lange saß er, die Ellbogen auf die Knie gestemmt,das Kinn in der Hand, und dachte nach. Es wollteihm scheinen, daß das ganze Leben im besten Fall eitelKummer und Sorge sei, und er beneidete mehr als jeJimmy Hodges. Es muß sehr friedvoll sein, dachte er,für immer zu liegen und zu schlummern und zu träumen,wenn der Wind in den Blättern flüstert und Grasund Blumen auf dem Grab fächelt — und von nichtsmehr gedrückt und belästigt zu werden — nie mehr. Hätteer nur ein gutes Sonntagsschulzeugnis gehabt — wieleicht hätte er für immer dem Leben Valet gesagt. Unddann dieses Mädchen. Was hatte er ihr eigentlich getan?Nichts! Er hatte die beste Absicht von der Welt gehabtund war artig gewesen wie ein Hund — wie ein wohlerzogenerHund. Sie würde ein paar Tage traurig sein— vielleicht! Ach, wenn er doch für einige Zeit wenigstenshätte sterben können.
Aber der leichte Sinn der Jugend läßt sich nicht langeniederdrücken. Tom begann sehr bald wieder in seinaltes Lebenselement zurückzutreiben. Wie, wenn er jetztfortging und auf geheimnisvolle Weise verschwände?Wenn er weit, weit in unbekannte Länder, jenseits desgroßen Wassers, gelangte und nie wieder zurückkäme. Waswürde sie dann wohl fühlen? Der Gedanke, ein Clownzu werden, kam ihm wieder, wurde aber mit Abscheu abgewiesen.Für dumme Witze und Possen und gemalteKleider war sein Geist, der sich eben noch in den kühnstenTräumen verloren hatte im Reich der Romantik, wenigdisponiert. Nein, er wollte Soldat werden und nachlangen Jahren als kriegserfahrener, berühmter Mannzurückkehren. Oder noch besser, er wollte zu den Indianerngehen, mit ihnen Büffel jagen, in den wilden Bergen undden verlassenen Prärien den Kriegspfad beschreiten, umdann einmal als großer Häuptling, geschmückt mit Federn,mit allen nur denkbaren Farben scheußlich bemalt, zurückzukommen,eines schönen Morgens mit blutdürstigemKriegsgeheul in die Sonntagsschule einbrechen und alleseine Gefährten in unerträglichem Neid vergehen zu sehen!
Aber ihm fiel etwas noch Großartigeres ein! EinPirat wollte er werden! Das war‘s! Jetzt erst lag seineZukunft klar vor ihm, strahlend in unaussprechlichemGlanz. Wie würde sein Name die Welt erfüllen und dieMenschen schaudern machen. Wie stolz würde er dieschäumende See durchfurchen auf seinem großen, kohlschwarzenDreimaster, dem „Sturmgeist“, mit der gräßlichenFlagge am Mast! Und dann, auf dem Höhepunktseines Ruhmes angelangt, würde er plötzlich in dem altenDorfe erscheinen, und, ein braungebrannter, wetterfesterHeld in schwarzer Jacke, langschaftigen Seemannsstiefeln,hochroter Schärpe, den Hut mit wallenden Federn geschmückt,die schwarze Fahne mit den Totenschädeln undden gekreuzten Gebeinen darauf entfaltet, mit lähmendemEntsetzen die guten Leute in der Kirche erfüllen! „Es istTom Sawyer, der Pirat! Der schwarze Rächer des spanischenMeeres!!“
Ja — es war beschlossen, sein Schicksal besiegelt. Erwollte von zu Hause fortlaufen und drauf los! Gleicham nächsten Morgen mußte er anfangen. Deshalb hießes jetzt mit den Vorbereitungen beginnen. Er wollte zunächstseine Schätze zusammenscharren. Er ging zu einemhohlen Baum in der Nähe und begann am Fuße desselbenmit seinem Messer den Boden aufzukratzen. Baldtraf er auf hohlklingendes Holz. Er legte seine Handdrauf und deklamierte mit feierlicher Stimme: „Wasnicht hier ist, komme, was schon hier ist, bleibe!“
Dann entfernte er die Erde und förderte einen vonSchindeln gebildeten Behälter zu Tage. Er hob ihn aufund öffnete eine kleine Schatzkammer, deren Boden undSeiten gleichfalls durch Schindeln gebildet wurden. Darinlag eine Glaskugel. Toms Erstaunen war grenzenlos!Er schüttelte den Kopf, machte ein verdutztes Gesicht undsagte: „Nun, das ist stark!“
Dann schleuderte er die Glaskugel wütend von sichund versank in Nachdenken. Die Wahrheit war, daß hierein alter Aberglaube zunichte geworden war, den er undalle seine Kameraden stets für unfehlbar gehalten hatten.Wenn man nämlich eine Glaskugel mit gewissen vorgeschriebenenWorten vergrub und nach einer Zeitlang dieGrube mit den gleichen Worten wieder öffnete, so fandman alle Kugeln, die man nur jemals besessen und verlorenhatte, beisammen, und wären sie auch noch so weitzerstreut gewesen. Und nun war das auf so schmerzlicheWeise und so augenscheinlich fehlgeschlagen. Toms ganzerGlaube war in seinen Grundfesten erschüttert. Er hattewohl sehr oft von derartigen geglückten Unternehmungen,niemals aber von fehlgeschlagenen gehört. Es fiel ihmnicht ein, daß er es schon mehrmals versucht und nachherden Platz des Begräbnisses nicht hatte wiederfindenkönnen. Er grübelte eine Zeitlang darüber nach und entschiedschließlich, daß irgend eine Hexe den Zauber gestörthaben müsse. Er dachte sich von diesem Punkt zuüberzeugen, so suchte er, bis er eine Sandstelle mit einertrichterartigen Vertiefung darin fand. Gleich legte er sichnieder, preßte den Mund fest darauf und rief:
„Wanze, komm herauf vom Grund,
Tu mir, was ich möchte, kund!“
Der Sand begann sich zu heben und eine kleine,schwarze Wanze erschien für einen Augenblick, verschwandaber schleunigst wieder.
„Sie wagt‘s nicht! Es war also eine Hexe! Ichwußte es ja!“
Er sah sofort die Nutzlosigkeit eines Kampfes gegenHexen ein und gab es mutlos auf. Aber wenigstenshätte er die eben fortgeworfene Glaskugel gern wiedergehabt und begann sofort umherzusuchen, konnte sie abernicht finden. Nun ging er zu seiner Schatzkammer zurückund stellte sich genau so, wie er vorher gestanden, als erdie Kugel fortwarf. Dann zog er eine andere aus derTasche, warf sie ebenso fort und deklamierte dabei:„Bruder, such den Bruder!“ Er paßte genau auf, wo sieniederfiel, ging dorthin und suchte umher. Aber sie mußteentweder näher oder weiter geflogen sein — er wiederholtealso den Versuch noch zweimal. Der letzte Versuch hatteErfolg. Die beiden Kugeln lagen kaum einen Fuß voneinander.
In diesem Augenblick drang der Ton einer Zinntrompetedurch den Wald herüber. Tom entledigte sichblitzartig seiner Jacke und Hose, machte sich aus einemHosenträger einen Gürtel, räumte einen Haufen Gestrüpphinter dem hohlen Baum fort, holte einen rohgeschnitztenBogen und Pfeil hervor, ein hölzernes Schwert, eineZinntrompete, raffte alles zusammen und raste davon,barbeinig, in flatterndem Hemd. Bald hielt er unter einergroßen Ulme, stieß antwortend in die Trompete undschlich auf den Zehen vorwärts, um vorsichtig nach allenRichtungen auszulugen. Zu einer eingebildeten Heldenschargewandt, flüsterte er:
„Halt, tapfere Gefährten! Haltet hier, bis ich blase!“
In diesem Augenblick erschien Joe Harper, ebensogekleidet und bewaffnet wie Tom. Tom rief: „Halt!Wer kommt ohne meine Erlaubnis in den Sherwood-Wald?!“
„Guy von Guisborne wagt‘s! Wer bist du, daß— daß —“
„Daß du es wagen darfst, so zu sprechen,“ ergänzteTom prompt, denn sie spielten „nach dem Buch“ unddeklamierten aus dem Gedächtnis.
„Daß du es wagen darfst, so zu sprechen?“
„Wer ich bin? Robin Hood, wie dein schuftigerLeichnam bald fühlen soll!“
„Du wärest in der Tat jener berühmte Geächtete?Mit Vergnügen will ich mit dir um die Herrschaft diesesherrlichen Waldes streiten! Paß auf!“
Sie zogen ihre hölzernen Schwerter, warfen alleanderen Waffen auf die Erde, nahmen eine Fechterstellungan, Fuß bei Fuß, und begannen einen heißen, kühnenKampf „zwei oben und zwei unten.“ Plötzlich sagteTom:
„Du, wenn‘s dir recht ist — stärker!“
So gingen sie denn noch stärker los, schnaufend undschwitzend.
Zuweilen stieß Tom hervor: „Fall‘, fall‘, warumfällst du nicht?!“
„Fällt mir nicht ein! Warum fällst du nicht selbst?Du bekommst die meisten Schläge!“
„Ach, das ist ja gleich! Ich kann doch nicht fallen!Das steht doch nicht im Buch! Im Buch steht doch: Undmit einem schrecklichen Hieb fällte er den armen Guy vonGuisborne! Du mußt dich umdrehen, und ich geb dir einshinten drauf!“
Gegen solche Autorität ließ sich nicht streiten, Joedrehte sich um, erhielt seinen Hieb und fiel. „So,“ sagteer, sich wieder aufrappelnd, „nun laß du mich dich töten.Das ist recht und billig!“
„Gibt‘s nicht, steht nicht im Buch!“
„So? Na, meinetwegen. ‘s ist aber eine rechte Gemeinheitvon dem Buch! — So, jetzt kannst du Friar Tucksein, Tom, oder Much, des Müllers Sohn, und mich miteinem Zaunpfahl lahm prügeln; oder ich bin der Sheriffvon Nottingham, und du bist jetzt mal Robin Hood undtötest mich.“
Tom war‘s zufrieden, und auch diese Abenteuer wurdendurchgefochten. Dann war wieder Joe Robin Hoodund bekam von der verräterischen Nonne die Erlaubnis,all seine furchtbare Kraft mit dem Blut seiner Wundendavonfließen zu sehen. Zuletzt schleifte ihn Joe, der jetzteine ganze Bande weinender Geächteter repräsentierte, vorsichtigdavon, gab ihm seinen Bogen in die schwacheRechte, und Tom flüsterte mit ersterbender Stimme:
„Wo dieser Pfeil niederfällt, da begrabt den armenRobin Hood unter grünen Bäumen.“ Dann schoß er einenPfeil ab, fiel zurück und würde tot gewesen sein — aberer hatte sich in Nesseln geworfen und sprang in die Höhe— etwas zu schnell für einen Toten.
Sie zogen sich wieder an, verbargen ihre Kriegsgeräteund gingen fort, bedauernd, daß es keine Geächtetenmehr gab, und sich fragend, was die moderne Zivilisationgetan habe, um diesen Verlust verschmerzen zu lassen. Siewaren sich beide vollkommen klar, daß sie lieber ein Jahrhindurch Geächtete im Sherwood-Walde gewesen wärenals für Lebenszeit Präsident der Vereinigten Staaten.
Neuntes Kapitel.
Um halb neun wurden Tom und Sid, wie gewöhnlich,zu Bett geschickt. Sie sprachen ihre Gebete, und Sidwar bald eingeschlafen. Tom lag wach und wartete inpeinvoller Ungeduld. Als es ihm schien, daß es baldwieder Tag werden müsse, hörte er es zehn Uhr schlagen.Das war zum Verzweifeln. Er hätte um sich schlagenmögen, wie es seine Nerven verlangten, aber er fürchtete,Sid aufzuwecken. So lag er still und starrte in die Dunkelheit.Es war so schrecklich still! Allmählich begannen ausder Stille heraus kleine, geheimnisvolle, kaum hörbareStimmen sich bemerkbar zu machen.
Zuerst vernahm er nur das Ticken der Uhr. Dannbegannen morsche Balken geheimnisvoll zu brechen. Auchim Fußboden regte es sich. Es war kein Zweifel, daßGeister ihr Wesen trieben. Ein dumpfer, sich regelmäßigwiederholender Ton drang aus Tante Pollys Schlafzimmerherauf. Und jetzt begann das eintönige Zirpen einerGrille, das keine menschliche Macht zum Schweigen zubringen vermag. Dann wieder ließ das unheimlicheKlopfen des Totenkäfers in einem Balken über seinemKopf Tom erschauern — gewiß waren irgend jemandesTage gezählt. Jetzt erfüllte das langgezogene Heuleneines Hundes die nächtliche Stille und wurde sofort durchein noch entfernteres Heulen beantwortet. Tom lag halbbetäubt. Er glaubte, alle Zeit habe aufgehört und dieEwigkeit beginne. Trotz aller Anstrengung schlief er ein.Die Uhr schlug elf, aber er hörte nichts mehr. Und dannmischte sich in seine halbbewußten Träume ein höchstmelancholisches Katzengeheul. Das Aufreißen eines benachbartenFensters schreckte ihn in die Höhe. Der wütendeRuf: „Hol der Teufel die verfluchte Katze!“ undder Anprall einer leeren Flasche gegen die Rückwand vonTante Pollys Holzschuppen ermunterten ihn vollends;eine Minute später war er völlig angekleidet, stieg ausdem Fenster und noch auf allen Vieren am Dach eineskleinen Anbaues entlang. Während dieses Spaziergangesmiaute er ein- oder zweimal halblaut, dann kletterte erauf das Dach des Holzschuppens und sprang von dort zurErde. Huckleberry Finn war da mit seiner toten Katze.Die Jungen machten sich davon und verschwanden in derDunkelheit. Eine halbe Stunde später wateten sie durchdas nasse Gras des Kirchhofes.
Es war ein Kirchhof in der althergebrachten Art desWestens. Er lag auf einem Hügel, über ein und einehalbe Meile vom Dorfe entfernt. Umgeben war er voneinem halb morschen alten Zaun, der sich bald nach innen,bald nach außen lehnte und doch sich immer noch aufrechterhielt. Gras und Unkraut überwucherten den ganzenGottesacker. Die meisten der älteren Gräber waren längsteingesunken. Nicht ein einziger Grabstein war zu sehen.Roh geschnitzte, wurmstichige Holzkreuze steckten auf denHügeln, einen Anhalt suchend und keinen findend. „Zumewigen Gedächtnis“, das und ähnliches war auf einigegemalt, aber man konnte es meistens nicht mehr lesen —auch nicht bei hellem Tageslicht. Ein leichter Wind säuseltein den Bäumen, und Tom argwöhnte, daß es Stimmenvon Toten sein könnten, die sich über die Störung ihrerRuhe beklagten.
Nur leise, mit verhaltenem Atem, wagten die beidenzu sprechen, Zeit und Stunde und die trostlose Schwermutund Verlassenheit ihrer Umgebung bedrückten ihren Geist.Sie fanden das neugeschaufelte Grab, das sie suchten, undstellten sich in den Schutz und Schatten dreier mächtigerUlmen, welche, ein paar Schritte vom Grabe entfernt, sichdicht aneinander drängten.
Dann warteten sie lange schweigend auf das, was dakommen sollte. Das Husten einer entfernten Eule war dereinzige Ton, der die tiefe Stille zuweilen unterbrach. TomsBeklemmung wuchs. Er mußte durchaus sprechen. Sosagte er mit flüsternder Stimme: „Hucky, glaubst du, daßdie Toten es leiden werden, daß wir hier sind?“
Huckleberry gab flüsternd zurück: „Ich wollte, ichwüßte es. ‘s ist schrecklich traurig hier, nicht?“
„Ich glaub‘ wohl!“
Während der nächsten Minuten schwiegen beide, dieFrage innerlich weiter verarbeitend. Dann wisperte Tomwieder: „Sag, Hucky — meinst du, daß Hoss Williamsuns sprechen hört?“
„O, sicher, wenigstens sein Geist.“
Nach einer Pause Tom wieder: „Hätt‘ ich doch nurHerr Williams gesagt! Aber ich hab‘s ja nie andersgehört. Alle nennen ihn einfach Hoss.“
„Ja. Tom, man kann gar nicht vorsichtig genug seinin dem, was man über die Leute da unten sagt.“
Dies war ungemütlich, und die Unterhaltung erstarbwieder. Plötzlich packte Tom seinen Kameraden am Armund raunte: „Pscht!“
„Was denn, Tom?“ Und die beiden drängten sichklopfenden Herzens aneinander.
„Pscht! Da ist‘s wieder! Hast du denn nichtsgehört?“
„Ich —“
„Da! Nun hörst du‘s doch!“
„Herr Gott, Tom, sie kommen! Sie kommen ganz bestimmt!Was tust du?“
„Ich? Nichts! Meinst du, daß sie uns sehenwerden?“
„O, Tom, die sehen in der Dunkelheit wie dieKatzen. — Ich wollte nur, ich wär‘ nicht hergekommen!“
„Ach was, fürchte dich nicht! Ich glaub‘ nicht, daßsie uns was tun! Wir haben ja nichts Schlechtes getan.Wenn wir ganz still sind, werden sie uns vielleicht garnicht bemerken!“
„Ich will‘s versuchen, Tom, aber, Herr Gott, ich binhalb tot vor Angst!“
„Still!“
Sie steckten die Köpfe zusammen und wagten kaumzu atmen. Dumpfes Stimmengewirr wurde vom anderenEnde des Kirchhofes hörbar.
„Sieh, sieh doch!“ flüsterte Tom. „Was ist das?“
„‘s ist Teufelsspuk! Ach, Tom, wie schrecklich!“
Ein paar unbestimmte Figuren tauchten aus derDunkelheit auf, eine altertümliche Blendlaterne mit sichführend, welche die Umgebung mit zahllosen Lichtstreifenerhellte. Schaudernd flüsterte Huckleberry: „Ganz gewiß,es sind Teufel! Drei auf einmal! Gott, Gott, Tom,wir sind verloren! Weißt du kein Gebet?“
„Ich will‘s versuchen, aber sei doch nicht so bange!Sie werden uns ja nicht erwischen. Müde bin ich, gehzur Ruh —“
„Pscht!“
„Was gibt‘s Huck?“
„Das sind ja Menschen! Einer wenigstens! Dieeine Stimme gehört dem alten Muff Potter!“
„Ist das gewiß?“
„Wenn ich dir‘s doch sage! Nur ganz still! Er wirduns schwerlich bemerken! Besoffen, wie gewöhnlich —erbärmlicher, alter Trunkenbold!“
„‘s ist schon gut, ich bin ja ganz still! — Jetzt bleibensie stehen — sie können‘s nicht finden — jetzt kommen siewieder näher — heiß — kalt — wieder heiß — riesig heiß!Da — da sind sie jetzt ganz in der Nähe! — Du, Huck, ichkenne die zweite Stimme — ‘s ist die von Indianer-Joe.“
„‘s ist richtig! Diese mörderische Bestie! Ich wollt‘fast lieber, es wären Teufel! Was sie wohl vorhaben?“
Mit dem Tuscheln war‘s jetzt aus; die drei warenbeim Grab angelangt und standen kaum ein paar Fuß vomVersteck der beiden Abenteurer.
„Hier ist es,“ sagte die dritte Stimme, worauf einerder anderen die Laterne in die Höhe hielt — sie beleuchtetedes jungen Dr. Robinson Gesicht. Potter und Indianer-Joehatten einen Schubkarren mit einem Strick und einpaar Schaufeln mitgebracht. Sie setzten ihre Last niederund begannen, das Grab zu öffnen. Der Doktor setzte dieLaterne auf das Kopfende des Grabes und setzte sich mitdem Rücken gegen eine der Ulmen nieder. Er war sonahe, daß die beiden Burschen ihn hätten berühren können.
„Hurtig, Leute,“ sagte er leise. „Der Mond wirdgleich herauskommen!“
Sie grunzten was als Antwort und gruben weiter.Einige Zeit war nichts zu hören als der dumpfe Ton derSchaufeln, die ihre Ladung von Erde und Steinen abluden.Es klang sehr eintönig. Endlich stieß eine Schaufelkrachend auf den Sargdeckel — zwei Minuten späterhatten die Männer den Sarg herausgeschoben undniedergesetzt.
Darauf brachen sie mit ihren Schaufeln den Deckelauf, zogen die Leiche heraus und warfen sie brutal auf dieErde. Der Mond trat in diesem Augenblick hinter den Wolkenhervor und beleuchtete grell die scheußliche Szene. DerSchubkarren wurde herbeigeholt, der Körper daraufgelegt,mit einer Decke eingehüllt und mit Stricken festgebunden.Potter zog ein großes Messer hervor, schnitt das überhängendeStück des Strickes ab und sagte: „So, daswär getan, Beinsäger, jetzt noch ‘nen Fünfer ‘raus, oderdas da bleibt stehen.“
„‘s ist ganz richtig,“ stimmte der Indianer-Joe bei.
„Seht mal! Was soll das heißen?“ fragte der Doktor. „Ihr habteuer Geld im voraus verlangt, und ichhab‘s euch gegeben.“
„Ja — und ‘s ist das letzte Mal gewesen,“ schrie derIndianer-Joe, sich dem Doktor nähernd, der rasch aufgestandenwar. „Vor fünf Jahren hast du mich vom Hausedeines Vaters bei Nacht und Nebel vertrieben, als ichum was zu essen bat, und hast gesagt, ich hätt‘ wohl wasanderes vorgehabt; und als ich schwor, wir würden nochmit ‘nander abrechnen, und wär‘s erst in hundert Jahren,hat mich dein Vater als Landstreicher eingesperrt. Dachtestdu, ich hätt‘s vergessen? Ich hab‘ nicht umsonstIndianerblut! Und jetzt will ich‘s dir geben, und duwirst zum stillen Mann gemacht!“
Bis jetzt hatte er dem Doktor mit der Faust unterder Nase herumgefuchtelt. Plötzlich holte dieser aus undstreckte den Raufbold zu Boden. Potter warf sein Messerzu Boden, und mit den Worten: „Halt einmal, du sollstmeinen Freund nicht hauen!“ stürzte er sich auf den Doktor,und im nächsten Augenblick lagen beide wütendringend, und Gras und Erde mit den Füßen zerstampfend,auf dem Grab. Der Indianer-Joe war gleich wieder aufden Beinen, seine Augen glühten unheimlich, er ergriffPotters Messer und umkreiste katzengleich die Kämpfenden,auf eine Gelegenheit lauernd. Aber auf einmal gelang esdem Doktor, sich freizumachen, er ergriff den schwerenSargdeckel und schlug Potter damit zu Boden — ebensorasch hatte Joe seinen Vorteil wahrgenommen und stießdas Messer bis ans Heft in des jungen Mannes Brust.Der Doktor stieß einen Schrei aus und fiel auf Potter, ihnmit seinem Blute färbend; und im selben Moment verhülltendie Wolken das schreckliche Schauspiel, während diebeiden zu Tode erschrockenen Burschen Hals über Kopfin der Dunkelheit verschwanden.
Sobald der Mond wieder hervorkam, stand Joe überden beiden regungslos Liegenden und betrachtete sie. DerDoktor murmelte etwas Unverständliches, tat einen langenSeufzer — und war still.
„Beim Satan — der Stich sitzt,“ brummte Joe undbegann die Leiche zu berauben, worauf er das verräterischeMesser in Potters offene Hand steckte und sich auf dengeöffneten Sarg setzte. Drei — vier — fünf Minutenverflossen, und dann begann Potter sich zu bewegen undzu stöhnen. Seine Hand schloß sich um das Messer, er hobes auf, blickte darauf und ließ es schaudernd fallen. Dannrichtete er sich auf, schob die Leiche von sich und starrteverwirrt um sich. Joe anzusehen, vermied er.
„Herr Gott, Joe, wie war das?“ sagte er mit zitternderStimme.
„‘s ist ‘ne faule Geschichte,“ entgegnete Joe grob.„Wozu tatst du‘s?“
„Ich! Ich hab‘s nicht getan!“
„Sieh mal! Na — mit solchem Geschwätz kommstdu nicht los!“
Potter zitterte und wurde aschfahl.
„Ich hatte mir doch vorgenommen, nüchtern zu bleiben!Warum mußte ich auch nachts trinken. — Hab‘sja noch im Kopf — mehr, als wie wir kamen. — Immerbetrunken — völlig — auf gar nichts kann ich mich besinnen!Sag, Joe, ehrlich, alter Bursche — hab ich‘sgetan?! Ich wollt‘s nicht tun — auf Ehr und Seligkeit,Joe, ich wollt‘s nicht tun! O, ‘s ist schrecklich —und er war so jung und hoffnungsvoll —“
„Na, ihr habt halt gerauft, und er gab dir eins rübermit dem Sargdeckel, und du fielst hin. — Und dann kamstdu wieder auf, wanktest und konntest dich kaum auf denFüßen halten, hobst das Messer auf — na, und stießest esihm in den Leib, grad, wie er dir noch ‘nen tüchtigenSchlag geben wollte, und dann hast du hier wie ‘n toterKlotz gelegen bis jetzt.“
„O — ich wußte ja nicht mehr, was ich tat. ‘s kamwohl alles vom Branntwein und von der Wut — schätz‘ich. Ich hab‘ nie vorher in meinem Leben so was getan,Joe! ‘s können‘s mir alle bezeugen. Geprügelt — ja,aber gestochen niemals, Joe. Joe, sag‘s niemand! Sagmir, Joe, daß du‘s niemand sagen willst! Sei ‘n guterBursche! Joe! Ich hab‘ dich immer gern gehabt, Joe,und hab‘ deine Partei genommen. Weißt du nicht, Joe?Joe, du sagst es nicht, Joe, nicht?!“ Und der arme Kerlfiel auf die Knie vor den kaltherzigen Mörder und hob beschwörenddie Hände.
„Na, du bist immer treu und brav zu mir gewesen,Muff Potter, und ich werd‘ dich nicht verraten. — Das istdoch wie ‘n Kerl gesprochen, he?“
„O, Joe, ja, du bist ein Engel, Joe. Ich will dichsegnen, so lang ich leb‘!“ Und Potter begann zu weinen.
„Na, komm, ‘s ist jetzt genug davon. ‘s ist ‘neverdammt schlechte Zeit zum Heulen. Mach, daß du inder Richtung fortkommst, und ich will hierhin gehen.Vorwärts, mach fort — und laß nichts liegen, zum Teufel!“
Potter setzte sich in Trab, woraus bald regelrechterGalopp wurde. Joe schaute ihm nach, brummend: „Wenner so betäubt von dem Prügeln und voll von Schnapsist, wie er aussieht, so wird er an das Messer erst denken,wenn er so weit fort ist, daß er‘s nicht wagt, an so ‘nenOrt zurückzukommen — Hasenfuß!“
Zwei oder drei Minuten später sah nur noch der Mondden Ermordeten, den eingebundenen Körper des Toten,den aufgebrochenen Sarg und das leere Grab. TiefeStille herrschte wieder wie vorher.
Zehntes Kapitel.
Die beiden Burschen liefen dem Dorfe zu, sprachlosvor Schreck. Von Zeit zu Zeit blickten sie ängstlich über dieSchulter zurück, als fürchteten sie sich vor Verfolgern. JederBaumstumpf, der an ihrem Wege aus der Dunkelheit auftauchte,schien ihnen ein Mann und ein Feind, und ließ siebis ins Mark erzittern. Und als sie bei einigen außerhalbdes Dorfes gelegenen Niederlassungen vorbeikamen,schien ihnen das Bellen der erwachten Hunde Flügel zuverleihen.
„Wenn wir — nur bis zu der alten Gerberei —kommen — bevor wir — zusammenbrechen —“ stießTom abgerissen zwischen mühsamem Atemholen hervor.
„Ich — ich kann — nicht mehr — länger!“
Huckleberrys pochendes Herz war seine ganze Antwort;beide hefteten ihre Augen fest auf das Ziel ihrerHoffnung und machten die äußersten Anstrengungen, eszu erreichen. Sie kamen ihm immer näher, und schließlichBrust an Brust, fielen sie förmlich durch die offene Tür— dankbar und atemlos, in den schützenden Schatten.Allmählich beruhigten sich ihre Pulse, und Tom flüsterte:
„Du, Huckleberry, was meinst du, wird von all demkommen?“
„Na, ich denke, wenn Dr. Robinson stirbt, wird Gehenktwerdendavon kommen.“
„Meinst du?“
„Nicht meine, ich weiß, Tom!“
Tom dachte ‘ne Weile nach, dann sagte er: „Werwird‘s denn verraten? Wir?“
„Was fällt dir ein? Angenommen, ‘s käm‘ was dazwischenund Indianer-Joe müßt nicht hängen, wirder uns früher oder später so gewiß töten, daß wir gradso gut schon jetzt hier liegen könnten!“
„Huck, das hab‘ ich mir auch gedacht.“
„Wenn‘s jemand sagen soll, mag‘s doch Muff Pottertun, wenn er dumm genug ist. Der ist ohnehin immerbetrunken genug!“
Tom sagte nichts — er brütete über etwas. Plötzlichwisperte er: „Huck, Muff Potter weiß es nicht. Wiekann er‘s sagen?“
„Warum sollt er‘s nicht wissen?“
„Weil er grad den ekligen Klaps bekommen hatte, alses Joe tat. Meinst du, da hätt‘ er‘s sehen können? Meinstdu wirklich, er könnt‘s wissen?“
„Beim Henker, ‘s ist so, Tom!“
„Und dann — weißt du — sollt‘ ihm nicht der Hiebden Rest gegeben haben?“
„Kaum glaublich, Tom! Er hatte Schnaps in sich.Ich konnt‘s sehen; übrigens hat er das immer. Wennmein Alter voll ist, kannst du ihn nehmen und ihn mit‘nem Kirchturm überhauen — er spürt‘s nicht. Er sagt‘sauch selbst. Grad so ist‘s heut mit Muff Potter. Aberwenn einer klar im Kopf ist, schätz‘ ich, daß so ‘n Klapsgenug für ihn sein möchte.“
Nach abermaligem nachdenklichem Schweigen fuhrTom abermals fort:
„Huck, bist du sicher, daß du den Mund haltenkannst?“
„Tom, wir müssen den Mund halten! Du weißtdoch! Dieser Indianer-Teufel würde nicht mehr Umständemachen, uns abzuschneiden, wie mit ‘nen paarKatzen, wenn wir so dumm wären, zu plappern, und siehenkten ihn nicht. Nun, Tom, komm mal her, laß unseinander schwören — das müssen wir, Tom! — schwören,den Mund zu halten!“
„Mir recht, Huck. ‘s wird wohl das beste sein.Wollen wir also die Hand hochhalten und schwören, daßwir —“
„Halt mal, so geht‘s nicht! Das ist gut genug für kleine,alltägliche Dinge, zum Beispiel bei Mädchen, wenn dieeinem überall nachlaufen, und wenn sie — hm — wennman sich verrannt hat, mein‘ ich — aber so was geht beiso ‘ner häßlichen Geschichte nicht — da muß was Schriftlichessein — und Blut!“
Tom stimmte von ganzem Herzen zu. Die Idee wartief — und dunkel — und schrecklich; die Stunde, die Umstände,die Umgebung — alles wirkte zusammen. Er nahmeine glänzend geschliffene Schindel auf, die im Mondlichtlag, zog ein Stückchen Rotstift aus der Tasche, ließ dasMondlicht sein Werk bescheinen, und kritzelte mühsam,jeden schwerfälligen Grundstrich hervorhebend, indem erdie Zunge zwischen die Zähne klemmte und sie bei denHaarstrichen wieder freiließ, folgende Zeilen: „Huck Finnund Tom Sawyer schwöhren, Sie wolen über dies denMund Halten und sie wünschen, dahs Sie Tot niederfallenauff ihren Wech, wenn sie jemalls plautern oter schreiben.“
Huckleberry war ganz erfüllt von Toms Fähigkeitim Schreiben und seinem glanzvollen Stil. Er war imBegriff, mit einem Nagel sich das Fleisch zu ritzen, alsTom einfiel: „Halt, nicht so. Nagel ist Eisen. Der könnteGrünspan haben.“
„Grünspan — was ist das?“
„‘s ist Gift, das ist es! Du würdest sofort davon aufgeschwelltwerden — sollst du sehen!“ Darauf nahmTom eine Nadel, und beide ritzten sich den Ballen desDaumens und drückten einen Blutstropfen heraus.Schließlich, nach vielem Quetschen machte sich Tom daran,seine Anfangsbuchstaben zu malen, indem er den kleinenFinger als Feder benutzte. Dann zeigte er Huckleberry,wie er ein H und ein F zu machen habe — und dann warder Eid bekräftigt.
Sie vergruben die Schindel, häuften unter allerhandZeremonien und Zauberformeln einen Hügel darüber, unddie ihre Zungen bindenden Fesseln waren geschmiedet undder Schlüssel dazu lag in der Erde.
Eine menschliche Figur schlüpfte vorsichtig durch eineLücke am anderen Ende des verfallenen Gebäudes, abersie merkten es nicht.
„Tom,“ wisperte Huckleberry, „sichert uns das davor,zu schwatzen — für immer?“
„Aber, natürlich tut‘s das! Mag jetzt geschehen, waswill — wir müssen schweigen. Wir wollen tot niederfallen— weißt du‘s denn nicht?“
„Ja, ich rechne, ‘s ist an dem.“
Sie tuschelten noch ‘ne Weile fort. Plötzlich schlugein Hund mit langem, kläglichem Ton an, gerade jenseitsder Stelle der Mauer, wo sie saßen — keine zehn Schrittdavon. Die Burschen packten einander unwillkürlich inversteinerndem Schreck.
„Wen von uns mag er meinen?“ flüsterte Huckleberry.
„Ich weiß nicht — schau durch die Ritze — schnell!“
„Nein, tu du‘s, Tom!“
„Ich kann‘s — kann‘s nicht!“
„Bitte, Tom! — Da ist‘s wieder!“
„Ach, Gott sei Dank,“ wisperte Tom, „ich kenne seineStimme, ‘s ist Bull Harbison.“
„Ach, das ist mal gut! Ich sag dir, Tom, ich warwirklich zu Tod erschrocken! Meinte wahrhaftig, ‘s wär‘n fremder Hund.“
Der Hund heulte wieder. Die Herzen der Burschensanken wieder in die Hosen.
„Ach, verflucht, das ist nicht Bull Harbison!“ flüsterteHuckleberry weinerlich.
Tom, zitternd vor Furcht, rappelte sich auf und legtedas Auge an die Lücke.
Der Ton seiner Stimme war erbarmungswürdig, alser jetzt flüsterte: „O, Huck, ‘s ist ein fremderHund —!“
„Schnell, Tom, schnell, wen von uns meint er?“
„Huck, er muß uns beide meinen! — Wir stehen dichtbeieinander.“
„O, Tom, ich fürchte — wir sind futsch! Ich rechne,wohin ich komme, darüber kann kein Zweifel sein. Ichbin so schlecht, Tom!“
„Der Teufel hol‘s! Das kommt davon, wenn manBlindekuh spielt und alles tut, wovon der Lehrer sagt,daß man‘s nicht tun soll! Ich wollt‘, ich wär so artiggewesen wie Sid — wenn ich‘s gekonnt hätte. Aber nein,ich mocht‘s nicht sein! Aber wenn ich hier fortkomm‘, ichsag‘ dir, ich werd‘ immer in die Sonntagsschule gehen.“Und Tom begann ein bißchen zu heulen.
„Du schlecht?“ Und Huckleberry heulte zur Gesellschaftmit. „Ich sag‘s dir, Tom, du bist einfach Goldgegen mich! O, Gott, Gott, Gott — ich wollte, ich wärenur halb so gut wie du!“
Tom fuhr zusammen und flüsterte: „Schau, Hucky,schau nur! Er wendet uns ja den Rücken zu!“
Hucky schaute hinaus, und Freude erfüllte sein Herz.
„Teufel, ‘s ist so! Tat er‘s vorher auch schon?“
„Ja, er tat‘s, aber ich Dummkopf dachte nicht daran.Na, das ist mal famos. Aber — wen kann er nurmeinen?“
Das Heulen hörte auf. Tom spitzte die Ohren.„Pscht —was ist das?“
„‘s klingt wie — wie Schweinegrunzen. Oder, Tom— doch nicht, ‘s schnarcht jemand.“
„Ist‘s das? Wo aber, Hucky?“
„Ich glaub‘ dort, am anderen Ende. ‘s klingt wenigstensso. Pop pflegt zuweilen da zu schlafen — mit denSchweinen, aber, Gott segne dich, er macht alles zittern,wenn er schnarcht. Und dann, ich rechne, hierherkommt er nicht zurück!“
Die Abenteuerlust begann sich in den Seelen derbeiden Burschen zu regen.
„Hucky, gehst du mir nach, wenn ich vorangehe?“
„Sehr gern nicht, Tom! Denk, ‘s könnt Joe sein!“
Tom zauderte. Aber sofort regte sich wieder dieVersuchung, und sie beschlossen, den Versuch zu wagen,unter dem Vorbehalt, daß sie fliehen dürften, sobald dasSchnarchen aufhören würde. So gingen sie auf den Fußspitzenweiter, einer hinter dem anderen. Als sie nur nochfünf Schritt von dem Schnarchenden entfernt waren, tratTom auf einen Zweig, der mit lautem Knacken brach.Der Mann grunzte, wälzte sich ein bißchen herum, dasMondlicht fiel, auf sein Gesicht — es war Muff Potter.Die Herzen der Burschen hatten still gestanden — wie ihreLeiber, als sich der Mann rührte, aber jetzt war ihreFurcht vergangen. Sie schlichen zurück, schlüpften durchdie geborstene Mauer und blieben in einiger Entfernungstehen, um sich zu verabschieden, Das lange unheimlicheGeheul erhob sich wieder und klang durch die Nachtluft.Sie wandten sich um und sahen den fremden Hund wenigeSchritt von der Stelle entfernt, wo Muff Potter lag, mitdem Kopf diesem zugewandt, die Schnauze zum Himmelgerichtet.
„Herrje, den meint er!“ riefen beide in einem Atem.
„Sag, Tom, sie sagen, ein scheußlicher Köter soll umJohnny Millers Haus herumgeheult haben — vor mehrals zwei Wochen. Und dann hat sich auch ‘ne Eule aufdas Dach gesetzt und da geheult, am selben Abend. Undda ist doch bis heute noch keiner gestorben!“
„Ja, ich weiß. Und ich mein‘, das beweist nichts.Fiel nicht am nächsten Samstag Gracie Miller auf denKüchenherd und verbrannte sich schrecklich?“
„Ja — aber sie ist doch nicht gestorben. Noch mehr,sie ist bald wieder ganz gesund.“
„Schon recht, wart‘ nur und red‘ dann! Sie istfutsch, so gewiß als Muff Potter dort futsch ist! DieNeger sagen‘s, und die wissen so was ganz genau, Hucky.“
Damit gingen sie nachdenklich auseinander.
Als Tom in sein Schlafzimmerfenster schlüpfte, wardie Nacht schon vorbei.
Er entkleidete sich mit äußerster Vorsicht und schliefein, sich beglückwünschend, daß niemand etwas von seinemStreifzug gemerkt habe. Er hatte nicht gesehen, daß derbrave, schnarchende Sid wach war — seit einer Stunde.
Als Tom aufwachte, war Sid bereits angezogen undfort. Das Licht draußen erschien Tom so spät wie auchdie Luft. Er stutzte. Warum hat man ihn nicht gerufen— da er doch um diese Zeit stets schon auf war? DerGedanke fiel ihm schwer aufs Herz.
In fünf Minuten war er angekleidet und die Treppehinunter, übel gelaunt und schläfrig. Die Familie saßnoch um den Tisch, hatte aber bereits gefrühstückt.
Kein Tadel, aber abgewandte Gesichter. TiefesStillschweigen und ein Hauch von Trauer; schwer lastetensie auf des Sünders Haupt. Er setzte sich und tat ganzlustig, aber es war sehr schwer. Er bekam kein Lächeln,keine Antwort und versank in Stillschweigen, und seinHerz versank in die tiefste Tiefe.
Nach dem Frühstück nahm ihn seine Tante auf dieSeite, und Tom atmete ordentlich auf, in der Hoffnung,daß er jetzt werde geprügelt werden; aber es sollte anderskommen. Seine Tante vergoß Tränen über ihn und fragteihn, wie er hingehen und ihr armes Herz brechen könne.Und schließlich sagte sie, er solle nur sich selbst ruinieren undihre grauen Haare mit Kummer in die Grube fahrenlassen, denn sie habe den Mut in bezug auf ihn nunverloren.
Dies war schlimmer als tausend Prügel, und TomsHerz wurde noch schwerer, als es heute morgen gewesen.Er heulte, er bat um Verzeihung, versprach Besserungwieder und immer wieder, und er erhielt schließlich seineEntlassung mit dem Gefühl, nur halbe Verzeihung undschwaches Vertrauen gefunden zu haben.
Er empfand die Gegenwart gar zu trübselig, umein Rachegefühl gegen Sid aufkommen zu lassen. So wardes letzteren eiliger Rückzug durch die Hintertür überflüssig.Er schlich in düsterster Gemütsverfassung zurSchule und empfing dort seine Prügel wegen des Schwänzensmit Joe Harper am vorigen Tage mit der Mieneeines, dessen Herz von schweren Kümmernissen belastetund ganz unempfindlich für Kleinigkeiten ist. Dann verzoger sich auf seinen Platz, stützte die Ellbogen auf denTisch und das Kinn auf die Hände und starrte auf dieWand mit dem starren Gesichtsausdruck des Leidens, dasden höchsten Punkt erreicht hat und nun nicht mehr gesteigertwerden kann. Sein Ellbogen drückte auf einenharten Gegenstand. Nach langer Zeit änderte er schläfrigund gleichgültig seine Stellung und nahm den Gegenstandin Augenschein. Er war in Papier gewickelt. Errollte das Papier auf. Ein langer, starrer, verschleierterBlick — und sein Herz brach! Es war der wundervolleabgebrochene Knopf von gestern! Dieser letzte Tropfenmachte das Gefäß überlaufen.
Elftes Kapitel.
Kurz nach neun Uhr wurde das ganze Dorf durchdie schreckliche Neuigkeit alarmiert. Obwohl sich damalsnoch niemand etwas von einem Telegraphen träumenließ, flog die Nachricht doch von Mund zu Mund, vonHaus zu Haus, mit fast telegraphischer Eile. Natürlichgab der Schullehrer für nachmittags frei. Man hätt‘sihm sehr übel genommen, hätte er‘s nicht getan. Einblutiges Messer war bei der Leiche gefunden und durchein paar Leute als das des Muff Potter rekognosziertworden — so hieß es. Und man sagte ferner, ein verspäteterBürger habe Muff Potter in der Gegend des Verbrechens um ein oder zwei Uhr getroffen, wie er sich ineinem Wassergraben wusch, und Muff Potter sei plötzlichausgerissen — alles verdächtige Umstände, besonders dasWaschen, was sonst gar nicht zu Potters Gewohnheitengehörte. Man sagte auch, der Ort sei nach dem „Mörder“durchsucht (das Volk ist nicht träge, belastende Momentezu suchen und zu einem Urteilsspruch zu gelangen), daßer aber nicht gefunden worden sei. Reiter waren nachallen Himmelsrichtungen ausgesandt, und der Sheriffhatte die beste Hoffnung, man werde ihn (nicht denSheriff!) noch vor der Nacht erwischt haben.
Der ganze Ort war unterwegs nach dem Kirchhof.Toms Herzeleid schwand, und er schloß sich der Prozessionan, nicht weil er nicht tausendmal lieber anderswohin gegangenwäre, als vielmehr unter dem Zwang einesschrecklichen, unerklärlichen Antriebs. An dem gräßlichenSchauplatz angelangt, zwängte er seinen kleinen Körperdurch die Menge und genoß den ganzen traurigen Anblick.Es schien ihm eine Ewigkeit, seit er hier gewesen. Jemandpackte seinen Arm. Er fuhr herum, und sein Blick trafauf Huckleberry. Dann sahen beide wie auf Verabredungseitwärts und fürchteten, es möge ihnen jemand das Einverständnisvom Gesicht lesen können. Aber alles schwatztedurcheinander und achtete nur auf den schrecklichen Anblickvor sich.
„Armer Bursche!“ „Armer, junger Bursche!“ „EineLehre für Leichenräuber!“ „Muff Potter muß hängen fürdas da, wenn man ihn erwischt!“ Das waren so dieBemerkungen, die fielen, und der Geistliche sagte: „Eswar ein Gericht. Seine Hand ist hier sichtbar!“ Indiesem Augenblick erschauerte Tom von Kopf bis zu Fuß,denn seine Augen fielen auf des Indianer-Joes gleichgültigesGesicht.
Die Menge begann zu flüstern und zu tuscheln. „Erist‘s, er ist‘s! Er kommt!“
„Wo, wo?“ fragten zwanzig Stimmen. „MuffPotter! Hallo, er steht still! Seht mal, er kommt hierherzurück! Laßt ihn nicht entwischen!“
Leute, die in den Zweigen der Bäume über Tomsaßen, sagten, er habe nicht den geringsten Versuch gemacht,zu entschlüpfen, er stand nur und schaute zweifelnd und wieerstarrt um sich.
„Teuflische Frechheit!“ sagte einer der Umstehenden.„Wagt‘s, zurückzukommen und sein Werk ganz ruhig zubetrachten! Hat wohl nicht gedacht, schon Gesellschaft hierzu finden!“
Die Menge teilte sich jetzt, und der Sheriff kam ostentativhindurchgeschritten, Potter am Arm führend. Desarmen Burschen Gesicht sah blaß aus, und aus seinenAugen sprach die Furcht, die ihn beherrschte. Als er vordem Ermordeten stand, zuckte er wie unter einem Hiebzusammen, verbarg das Gesicht in den Händen und brachin Tränen aus.
„Ich hab‘s nicht getan, Freunde.“ schluchzte er. „AufEhr‘ und Seligkeit, ich tat‘s nicht!“
„Wer hat dich denn angeklagt?“ schrie eine Stimme.Dieser Hieb saß. Potter nahm die Hände vom Gesichtund schaute in sichtbarster Hilflosigkeit um sich. Ersah Joe und rief aus: „O, Joe, du versprachst mir, niemals—“
„Ist das Euer Messer?“ Und es wurde vom Sheriffvorgehalten.
Potter wäre umgefallen, wenn man ihn nicht aufgefangenund ihn auf die Erde niedergelassen hätte. Dannsagte er: „Dacht‘ ich mir‘s doch, wenn ich nicht zurückkämeund —“, er schauderte. Dann erhob er seine kraftloseHand mit müder Gebärde und flüsterte: „Sag‘sihnen, Joe, sag‘s ihnen — ‘s ist nichts mehr zu machen.“
Dann standen Huckleberry und Tom stumm und starrund hörten den kaltherzigen Lügner ganz gemütlich Berichterstatten; sie erwarteten jeden Augenblick, Gottes Blitzstrahlwerde ihn treffen, und wunderten sich, ihn solangeunberührt stehen zu sehen. Und nachdem er geendet hatteund gesund und heil blieb, dachten sie nicht mehr daran,ihren Eid zu brechen und des armen Gefangenen Lebenzu retten, denn es war zweifellos, daß Joe sich dem Satanverschrieben hatte, und es wäre wohl gefährlich gewesen,sich mit einer solchen Macht einzulassen.
„Warum liefst du nicht davon? Warum, zum Teufel,kamst du hierher zurück?“
„Konnt‘ nicht anders — ich konnt‘ nicht anders,“stöhnte Potter. „Ich wollt‘ wohl fortlaufen, aber ichkonnt‘ nirgends hinkommen als hierher!“
Und er fing wieder an zu schluchzen.
Joe wiederholte seinen Bericht, ebenso ruhig, ein paarMinuten später und beschwor ihn auf Verlangen, und dieBurschen, die den Lichtstrahl immer noch nicht hervorbrechensahen, wurden dadurch in ihrem Glauben, daß ereinen Pakt mit dem Teufel geschlossen habe, noch mehr bestärkt.Er war mit einem Schlage für sie der Gegenstanddes unheimlichsten Interesses geworden, wie nichtsanderes, und sie konnten die bezauberten Blicke nicht vonihm wenden. Sie beschlossen innerlich, ihn nachts, wennsich einmal die Gelegenheit böte, zu belauern, in der Hoffnung,seines schrecklichen Herrn und Meisters ansichtig zuwerden.
Joe half den Körper des Ermordeten aufheben undauf einen Karren laden, um ihn fortzuschaffen. Und esging ein Flüstern durch das schaudernde Volk, daß dieWunde ein wenig zu bluten anfinge! Die Knaben hofften,dieser glückliche Umstand werde den Verdacht in die wahreRichtung lenken. Aber sie waren enttäuscht, als mehrereder Leute sagten: „Er war nur drei Schritt von MuffPotter entfernt, als es geschah.“
Toms schreckliches Geheimnis, seine furchtbare Mitwisserschaftstörte seinen Schlaf während mehr als einerWoche; und eines Morgens beim Frühstück sagte Sid:
„Tom, du wirfst dich im Schlaf herum und sprichstso viel, daß du mich die halbe Nacht wach erhältst.“
Tom erbleichte und senkte die Augen.
„‘s ist ein böses Zeichen,“ sagte Tante Polly mitNachdruck. „Was hast du auf dem Herzen, Tom?“
„Nichts — nichts — ich weiß nicht.“ Aber seineHand zitterte so, daß er seinen Kaffee verschüttete.
„Und du schwatzt solchen Unsinn,“ fuhr Sid fort. „Inder letzten Nacht sagtest du: ,‘s ist Blut, ‘s ist Blut, nichtsals Blut.‘ Du sagtest das immer wieder. Und dannsagtest du: ‚Ängstigt mich nicht — ich will alles sagen.‘Sagen — was? Was willst du sagen?“
Tom schwamm alles vor den Augen. Es ist nicht zusagen, was geschehen sein würde, wenn nicht plötzlich dieSpannung aus Tante Pollys Gesicht gewichen wäre undsie Tom, ohne es zu wissen, zu Hilfe gekommen wäre. Siesagte: „Kann mir‘s denken! Der schreckliche Mord ist‘s.Ich selbst träume jede Nacht davon. Manchmal träum‘ich, ich selbst hätt‘s getan.“
Mary sagte, sie wäre gerade so angegriffen davon.Sid schien befriedigt. Tom ging aus der Affäre so beruhigthervor, als es nur immer möglich war, simuliertewährend einer Woche Zahnschmerzen und band sich jedeNacht die Backen fest zu. Er wußte nicht, daß Sid wachteund des öfteren die Bandage lockerte und dann, auf denEllbogen gestützt, eine gute Weile lauerte, dann wiederalles in Ordnung brachte und sich hinlegte. Toms Gemütsverstimmungwich nach und nach, und die Zahnschmerzenbegannen ihm lästig zu werden und wurdenganz abgeschafft. Wenn es Sid gelungen war, etwasvon Toms unbewußtem Murmeln aufzufangen, so behielter es jedenfalls für sich. Tom schien es, als könnten seineSchulkameraden nicht oft genug Totenschau über Katzenhalten und dadurch seine Erinnerung immer wieder auffrischen.Sid fiel auf, daß Tom niemals den Beschauerspielen wollte, obwohl er sonst doch gewöhnt war, beiallem den Führer abzugeben; er merkte auch, daß Tomsich nie unter den Zeugen befand — und das war auffallend.Schließlich entging Sid durchaus nicht die entschiedeneAbneigung Toms gegen diese ganze Spielerei,und seine Bemühungen, ihr aus dem Wege zu gehen. Sidgrübelte darüber, sagte aber nichts. Indessen, schließlichschwand alle Unruhe und hörte auf, Toms Geist zuquälen.
Jeden Tag oder doch jeden zweiten in dieser traurigenZeit passte Tom auf eine Gelegenheit, um zu dem kleinenGitterfenster zu laufen und allerhand kleine Annehmlichkeiten für den „Mörder“ hineinzuschmuggeln. Das Gefängniswar ein trübseliges, kleines, halbverfallenes Lochund stand in einem Sumpfe außerhalb des Dorfes. Wärterwaren nicht aufgestellt, denn es hatte selten Gäste zubeherbergen. Diese Geschenke halfen sehr dazu, TomsGemüt aufzuheitern. Die Dörfler hatten nicht übel Lust,Joe beim Kragen zu nehmen und ihm wegen der Leichenberaubungden Prozeß zu machen, aber so furchtbar warsein Ruf, daß niemand sich fand, der Lust gehabt hätte,die Sache zu übernehmen. So wurde sie denn unterlassen.Vorsichtigerweise hatte Joe bei seinen Geständnissen jedesmalgleich mit der Rauferei begonnen, ohne über dievorhergegangene Leichenberaubung ein Wort zu verlieren.Daher schien es das weiseste, wenigstens vorläufig dieAngelegenheit nicht vor Gericht zu ziehen.
Zwölftes Kapitel.
Einer der Gründe, die Toms Geist von seiner geheimenErregung abgezogen hatten, war, daß er einenneuen und wichtigen Gegenstand des Interesses fand.Becky Thatcher hatte aufgehört, zur Schule zu kommen.Tom hatte mehrere Tage mit seinem Stolze gekämpft undversucht, sie „unter den Wind zu bekommen,“ aber vergeblich. Er ertappte sich dabei, wie er um ihres VatersHaus herumstrich, nachts, und sich dabei sehr unglücklichfühlte. Sie war krank. Wie, wenn sie sterben mußte!In dem Gedanken war Verzweiflung. Er hatte kein Vergnügenmehr am Kriegspielen, nicht einmal mehr anseinem Piraten-Beruf. Der Glanz des Lebens war dahin,nichts als Finsternis war geblieben. Er ließ seinenReifen liegen und seinen Bogen; er hatte keinen Spaßmehr daran. Seine Tante war beunruhigt. Sie fing an,allerhand Medizinen an ihm zu probieren. Sie gehörtezu den Leuten, die auf jede Medizin schwören und alleneu erfundenen Heilmethoden. Sie war unermüdlich inihren Experimenten. Sobald sie von etwas Neuem inder Branche hörte, brannte sie darauf, es zu probieren;nicht an sich selbst, denn sie war nie leidend; aber am erstenbesten, der ihr in die Hände fiel. Sie war Abonnentinsämtlicher „Heil“-Zeitschriften und jedes gedruckten, wissenschaftlichenBetruges; den größten Unsinn, mit demnötigen feierlichen Ernst vorgetragen, nahm sie wie einEvangelium auf in ihrer Unwissenheit. Alle Abhandlungenüber Ventilation, das Zubettgehen und Aufstehen,Essen und Trinken, über das Maß der nötigen Bewegung,die Gemütsverfassung, die Art der Kleidung, erschienenihr einfach einwandfrei, und sie merkte gar nicht, daß dieGesundheits-Journale des laufenden Monats gewöhnlichall das widerriefen, was sie im Monat vorher empfohlenhatten. Sie war einfachen Herzens und so ehrenhaft,wie der Tag lang ist, und so war sie ein leichtes Opfer.Sie sammelte ihre prahlerischen Zeitschriften mit denQuacksalber-Medizinen, und so gewaffnet, ritt sie, denTod hinter sich, auf ihrem fahlen Pferd, „die Hölle hintersich,“ um eine Metapher zu brauchen. Aber sie argwöhnteniemals, daß sie nicht ein Engel der Genesung und derBalsam des Herrn in Person für die leidende Nachbarschaftsei.
Die Wasserbehandlung war neu und Toms übles Befindenkam ihr wie gerufen. Jeden Morgen in aller Frühewurde er herausgeholt, in einen Holzschuppen geschlepptund mit einer Sintflut kalten Wassers überschüttet. Dannrieb sie ihn trocken mit einem Handtuche, gleich einer Feile,und er wurde zurücktransportiert. Darauf wurde er inein nasses Tuch gerollt und wieder unter seine Bettdeckegestopft, bis er schwitzte, wie eine Seele im Fegfeuer, und„ihre Schmutzflecken drangen durch alle Poren heraus,“wie Tom sagte. Indessen, alledem zum Trotz, wurde derJunge immer melancholischer, niedergeschlagener und gleichgültiger.Sie fügte heiße Bäder, Sitzbäder, Gießbäder undSturzbäder hinzu. Der Junge blieb leblos wie eine Leiche.Sie begann das Wasser mit Blasen ziehenden Haferschleimpflasternzu versetzen. Sie überlegte seine Aufnahmefähigkeitund füllte ihn wie einen Krug täglich mit allenmöglichen quacksalberischen Mittelchen an.
Tom war allmählich gegen all diese Verfolgungengleichgültig geworden. Dieser Zustand erfüllte der altenDame Herz mit Entsetzen. Diese Gleichgültigkeit mußteum jeden Preis gebrochen werden. Zu dieser Zeit geradevernahm sie vom „Schmerzentöter“. Sie ordnete soforttäglich ein Lot an. Sie versuchte es selbst und war sehrbefriedigt davon. Es war wie Feuer in flüssiger Form.Sie ließ die Wasserkur und alle anderen Methoden undbeschränkte sich auf den Schmerzentöter. Sie gab Tomeinen Teelöffel und wartete ängstlich auf die Wirkung.Ihre Unruhe war mit einem Schlage zu Ende, ihr Geisthatte wieder Frieden. Denn die „Gleichgültigkeit“ wargebrochen. Der Bursche hätte kein wilderes, mehr vonHerzen kommendes „Interesse“ zeigen können, wenn sieein Feuer unter ihm angezündet hätte.
Tom fühlte, daß es Zeit war, aufzuwachen. DieseLebensweise hätte ja ganz romantisch sein können, waraber nachgerade zu anstrengend und zu eintönig. Sogrübelte er über verschiedenen Plänen seiner Befreiungund verfiel schließlich darauf, sich als Freund desSchmerzentöters zu bekennen. Er verlangte so oft danach,daß er lästig wurde, und seine Tante ihm schließlichbefahl, sich selbst zu helfen und sie in Ruhe zu lassen. Wärees Sid gewesen, kein Schatten würde ihre Freude getrübthaben; da es aber Tom war, beobachtete sie dieFlasche mit Aufmerksamkeit. Sie fand, daß die Medizinbeständig weniger wurde, es fiel ihr aber nicht ein, daßder Junge eine Bodenritze im Speisezimmer damitanfüllte.
Eines Tages war Tom wieder bei dieser Arbeit, alsTante Pollys gelbe Katze des Weges kam, schnurrend, denTeelöffel begehrlich betrachtete und um ein bißchen bettelte.Tom sagte zu ihr: „Bitt nicht drum, wenn du‘s nichtbrauchst, Peter!“
Aber Peter gab zu verstehen, er habe es nötig.
„Überleg‘s noch mal.“
Peter blieb dabei.
„Na, du hast drum gebeten, und ich will‘s dir geben;aber wenn‘s dir nicht gefällt, darfst du niemand Vorwürfemachen als dir selbst.“
Peter war einverstanden; so öffnete Tom seineSchnauze und goß den Schmerzenztöter hinein. Petermachte einen Riesensatz in die Luft, stieß ein Kriegsgeheulaus und fuhr immer rund im Kreise herum durchs Zimmer,gegen Möbel stoßend, Blumentöpfe umwerfend, kurz,lauter Verwirrung anrichtend. Dann erhob er sich aufdie Hinterbeine und tanzte sinnlos vor Vergnügen herum,den Kopf über die Schultern zurückgeworfen, mit einerStimme, aus der grenzenloses Behagen klang. TantePolly kam gerade noch rechtzeitig herein, um sie mit einemletzten Hurra durchs Fenster fliegen zu sehen, mit ihr dieReste der Blumentöpfe. Die alte Dame stand starr vorErstaunen, über ihre Brillengläser hinwegschauend. Tomlag auf der Erde und krümmte sich vor Lachen.
„Tom, was um des Himmels willen fehlt der Katze?“
„Ich weiß nicht,“ stöhnte der Junge.
„So was hab‘ ich doch noch nicht gesehen! Waskann sie haben?“
„In der Tat, ich weiß nicht, Tante. Katzen tun immerso, wenn sie vergnügt sind.“
„Tun sie — wirklich?“ Es war etwas in dem Ton,was Tom stutzen machte.
„Hm — ja. Das heißt — ich meine, sie tun‘s.“
„Du meinst?“
„Hm — ja —“
Die alte Dame bückte sich, Tom wartete mit ängstlichemInteresse. Zu spät entdeckte er ihre List. DerGriff des Teelöffels war unter der Tischdecke sichtbar.Tante Polly zog ihn heraus und hielt ihn in die Höhe.Tom fuhr zusammen und senkte die Augen. Tante Pollyhob ihn an dem gewöhnlichen Henkel — seinem Ohr —in die Höhe und klopfte ihm mit ihrem Fingerhut tüchtigauf den Kopf.
„Nun, sag‘ mal, wozu mußt du das arme Tier soquälen?“
„Ich hab‘s ja aus Mitleid getan — weil sie keineTante hat.“
„Hat keine Tante! Hansnarr! Was hat das hierzu tun?“
„‘ne Menge. Denn hätt‘ sie eine gehabt, so würd‘sie selbst ‘s ihm gegeben haben! Sie hätt‘ ihr die Gedärmerausgeröstet, ohne mehr zu fühlen, als wenn‘s einMensch gewesen wäre!“
Tante Polly fühlte plötzlich Gewissensbisse. Dassetzte die Sache in ein neues Licht. Was grausam wargegen eine Katze, mußte auch gegen einen kleinen Burschengrausam sein. Sie begann, zu seufzen, sie fühlte sich traurig.Ihre Augen wurden ein bißchen feucht, sie legte dieHand auf Toms Kopf und sagte freundlich:
„Ich hab‘s gut gemeint, Tom. Und Tom, es hatdir genützt!“
Tom schaute zu ihr auf mit ein bißchen Schelmerei inseinem Ernst und sagte:
„Ich weiß wohl, Tante, daß du‘s gut meintest, undich meinte es gut mit Peter. Es tat ihm auch gut! Ichhab‘ ihn nie so lustig rumlaufen gesehen —“
„Na, mach, daß du weiter kommst, Tom, ehe du michwieder ärgerst. Und versuch doch mal ‘n braver Junge zusein, und du brauchst auch keine Medizin mehr zu nehmen.“
Tom kam sehr frühzeitig zur Schule. Es war bekannt geworden, daß dieses sehr seltene Ereignis in letzterZeit jeden Tag sich zugetragen hatte. Und dann, wie seitkurzem stets, lungerte er am Tor des Schulhofes, statt mitseinen Kameraden zu spielen. Er sagte, er wäre krank, under sah auch so aus. Er stellte sich, als sähe er überall hin,wohin seine Blicke tatsächlich beständig gerichtet waren —die Straße hinunter. Plötzlich kam Jeff Thatcher in Sichtund Toms Miene hellte sich aus. Er spähte einen Augenblickangestrengt und wandte sich dann betrübt ab. AlsJeff ankam, hielt ihn Tom an und suchte ihn geschickt überBecky auszuholen, aber der herzlose Jeff tat, als sähe erden Köder gar nicht. Tom wartete und wartete, hoffend,sobald ein wehender Rock in Sicht kam und die Inhaberindesselben verwünschend, sobald er sah, daß es nicht dieRechte war. Schließlich erschienen keine Röcke mehr, under verfiel in hoffnungslosen Trübsinn. Dann auf einmalkam doch noch ein Rock durchs Tor herein, und TomsHerz tat einen mächtigen Sprung. Im nächsten Momentwar er draußen und schoß drauf los wie ein Indianer,springend, lachend, Buben stoßend, mit Risiko von Leibund Leben über den Zaun setzend, Purzelbäume machend,auf dem Kopf stehend — kurz, lauter heroische Dinge verrichtendund fortwährend hinüber schielend, ob BeckyThatcher ihn beobachtete. Aber sie schien von alledem garnichts wahrzunehmen; sie schaute nicht hin. War es möglich,daß sie seine Anwesenheit wirklich nicht bemerkt hatte?Er betrieb seine Kunststücke in ihrer unmittelbaren Nähe;fuhr, ein Kriegsgeheul ausstoßend, um sie herum, schlugeinem Jungen die Mütze herunter, schleuderte sie auf denSchulhof, brach durch eine Gruppe, sie nach allen Richtungenauseinandersprengend und fiel dabei selbst geradeBecky vor die Nase hin, sie fast umstoßend — sie wandtesich ab, das Näschen rümpfend, und er hörte sie sagen:
„Pa! Einige Burschen kommen sich schon sehr wichtigvor — immer müssen sie sich breit machen!“
Tom wurde blutrot. Er rappelte sich auf und trolltedavon, zermalmt und mutlos.
Dreizehntes Kapitel.
Tom zögerte nun nicht länger. Ihn erfüllte einfinsterer, verzweifelter Gedanke. Er wäre ein verlassener,freundloser Junge dachte er. Niemand liebte ihn. Wennsie merken würden, wozu sie ihn getrieben, würden sievielleicht betrübt sein. Er hatte versucht, das Rechte zutun und brav zu werden, aber man ließ ihn nicht. Daman sich durchaus von ihm befreien wollte, mochte es sosein. Und man würde ihn für die Folgen verantwortlichmachen — warum auch nicht? Welches Recht habenFreundlose, sich zu beklagen? Ja, sie hatten ihn zumäußersten getrieben, er würde ein Leben voll Verbrechenführen; ‘s gab keine Wahl. — Inzwischen war er weithinunter zu „Meadow-Land“ gekommen, und die Schulglocketönte lockend an sein Ohr — sie wollte ihn wohlzurückhalten. Er seufzte bei dem Gedanken, nie, nie wiederden alt-vertrauten Ton hören zu sollen — es war sehrhart, aber mußte sein; da er in die kalte Welt hinausgetriebenwar, mußte er sich unterwerfen — aber er vergabihnen! Dann kamen Tränen — schwer und bitter.
Gerade in diesem Augenblick begegnete ihm seinHerzensfreund Joe Harper — mit trüben Augen undzweifellos einen großen, schrecklichen Entschluß im Herzen.Offenbar waren hier „zwei Seelen und ein Gedanke.“Tom seine Augen mit dem Ärmel trocknend, begannetwas herauszustottern von einem Entschluß, aus grausamerund liebloser Behandlung zu fliehen, in die weiteWelt zu gehen und nie wiederzukommen und schloß damit,daß er hoffe, Joe werde ihn nicht vergessen.
Aber es zeigte sich, daß Joe im Begriff gewesen, anTom das gleiche Verlangen zu stellen und ihn zu diesemZweck gesucht hatte. Seine Mutter hatte ihn gezüchtigt,weil er Rahm getrunken haben sollte, den er nie gesehen,von dem er überhaupt gar nichts wußte; es war klar, siemochte ihn nicht mehr und wollte nichts von ihm wissen,sie wollte ihn einfach los sein. Da sie es so wollte, warfür ihn nichts zu tun, als nachzugeben. Er hoffte, siewürde glücklich sein und nie bereuen, daß sie ihren armenJungen in die fühllose Welt hinausgetrieben hatte, zuleiden und zu sterben.
Indem die beiden Burschen trübselig weiterschlichen,machten sie einen neuen Bund, einander beizustehen, Brüderzu sein und sich nie zu trennen, bis sie der Tod einstvon ihren Kümmernissen erlösen werde. Dann begannensie Pläne zu schmieden. Joe war dafür, Eremit zu werden,in einer elenden Hütte aus Stroh zu liegen und einmalvor Kälte, Mangel und Kummer zu sterben. Aber,nachdem er Tom angehört hatte, sah er ein, daß ein Verbrecherlebenvoll von aufregenden Abenteuern vorzuziehensei und stimmte zu, Pirat zu werden.
Drei Meilen unterhalb St. Petersburgs, an einemFluß, wo der Mississippi die Kleinigkeit von einer MeileBreite hatte, war eine lange, schmale, bewaldete Insel,mit einer Sandbank an der Spitze, die wählten sie alsRendezvouzplatz aus. Sie war unbewohnt, lag fern derheimatlichen Küste, gegenüber einem dichten und völligunbewohnten dickichtartigen Walde. So wurde die Jackson-Inselgewählt. Wer der Gegenstand ihrer Seeräubereisein sollte, war eine Frage, die sie weiter nichtbekümmerte. Dann suchten sie Huckleberry Finn auf, under verband sich ihnen sofort, denn ihm war jede Karriererecht; er war einverstanden. Sie trennten sich einstweilen,um sich an einer einsamen Stelle auf der Sandbank, zweiMeilen oberhalb des Dorfes um ihre Lieblingsstunde, dasheißt, um Mitternacht, wieder zu treffen. Es befand sichdort ein kleines Holzfloß, das sie zu kapern beschlossen.Jeder sollte Haken und Stricke mitbringen und solchenProviant, den er auf möglichst unauffällige und geheimeWeise würde stehlen können — wie es sich für Ausgestoßeneschickt. Und bevor noch der Nachmittag um war,hatten sie sich den Genuß verschafft, das Gerücht auszustreuen,das Dorf werde sehr bald „was hören“. Alle,denen diese geheimnisvolle Mitteilung wurde, hatte mangebeten, „den Mund zu halten und zu warten.“
Gegen Mitternacht kam Tom mit einem gekochtenSchinken und ein paar Kleinigkeiten an und blieb in dichtemGestrüpp auf einem kleinen Ufervorsprung stehen, denPlatz der Zusammenkunft überschauend. Es war sternklar und totenstill, der gewaltige Strom lag ruhig — gleicheinem Ozean. Tom lauschte einen Augenblick, aber keinTon störte die Stille. Dann ließ er ein langgezogenes,besonderes Pfeifen hören. Es wurde von unten beantwortet.Tom pfiff nochmals; auch dieses Signal wurdeebenso erwidert. Dann sagte eine vorsichtige Stimme:
„Wer ist da?“
„Tom Sawyer, der ‚schwarze Rächer des spanischenMeeres‘. Nennt eure Namen!“
„Huck Finn, ‚der Bluthändige‘ und Joe Harper, ‚derSchrecken der Meere‘.“ Tom hatte diese Namen ausseinen Lieblingsbüchern gewählt.
„‘s ist gut. Gebt die Losung!“
Zwei heisere Stimmen stießen dasselbe schrecklicheWort gleichzeitig in die betrübende Nacht hinaus: „Blut!“Darauf rollte Tom seinen Schinken über den Abhangund ließ sich selbst ebenso hinunter, bei dem ExperimentKleider und Haut in Mitleidenschaft ziehend. Es gabzwar einen bequemen, leichten Weg die Küste entlang bisunterhalb des Ufervorsprungs, aber er ermangelte der Anregungdurch Schwierigkeit und Gefahr, die doch so wertvollsind für einen Seeräuber.
Der ‚Schrecken der Meere‘ hatte eine Speckseite mitgebrachtund hatte sich mit dem Hierherschleppen fastausgerenkt. Finn, ‚der Bluthändige‘, hatte einen kleinenKessel gestohlen und eine Quantität halb trockene Tabakblätter,auch ein paar Maiskolben, um Pfeifen daraus zumachen. Aber keiner der Piraten rauchte oder kaute —außer er selbst. Der ‚schwarze Rächer des spanischenMeeres‘ sagte, man könne ohne Feuer nichts anfangen.Das war ein weiser Gedanke; Zündhölzer waren zu derZeit noch völlig unbekannt. Sie sahen ein Feuer flackernauf einem großen Floß, hundert Meter oberhalb, schlichenheimlich hin und setzten sich in den Besitz einer Fackel.Sie machten eine bedeutende Unternehmung daraus, alleAugenblicke „Pst!“ sagend und dann und wann plötzlichinnehaltend und den Finger an die Lippen legend; markiertenDolchstöße und gaben Befehle in düsterstem Tone,daß, wenn der Feind angriffe, er eins haben solle, denn„ein toter Mann verrät nichts.“ Sie wußten allerdingsganz gut, daß die Schiffer alle im Dorfe unten seien, umzu schlafen oder zu trinken, das war aber kein Grund fürsie, diese Sache in nicht seeräubermäßiger Weise zu betreiben.
Sie fuhren sogleich ab, Tom kommandierend, Huckam Hinterteil, Joe vorn sitzend. Tom stand in der Mitte,lichtbeschienen und mit verschränkten Armen und gab mitlauter, strenger Stimme seine Befehle.
„Laviert und bringt‘s Schiff vor den Wind!“
„Ganz recht, Herr!“
„Tüchtig, tüch—tig!!“
„Wohl, wohl, Herr.“
„‘nen Strich abfallen lassen!“
„Abgefallen ist, Herr!“
Wie sie so beständig und eintönig in der Mitte desStromes dahintrieben, war es selbstverständlich, daß dieseBefehle nur der Form wegen gegeben wurden und inWirklichkeit an niemand gerichtet waren.
„Was für Segel führt‘s Schiff?“
„Hauptsegel, Toppsegel und Klüversegel, Herr.“
„Bramsegel rauh! Bringt‘s vor den Wind, sechsvon euch an die Vortopmarssegel! Vorwärts, Leute,lustig!!“
„Ho, ho, Herr!“
„Marssegel runter! Schoten und Brassen! Vor —wärts, Jungens!“
„Ho, ho, Herr!“
Das Floß trieb in der Mitte des Stromes. DieJungen legten sich zurecht und lagen dann still auf demOhr. Der Fluß ging nicht so hoch, so machten sie nichtmehr als zwei bis drei Meilen. Während der nächstendreiviertel Stunden wurde kein Wort gesprochen. Jetztkam das Floß dem Dorf gegenüber vorbei. Zwei oderdrei Lichtpunkte zeigten, wo es lag, friedlich schlafend,dicht an der breiten Fläche des lichtbeschienenen Flusses,ohne Ahnung von dem Unerhörten, das sich hier zutrug.Der ‚schwarze Rächer‘ stand unbeweglich, die Arme gekreuzt,den letzten Blick auf den Schauplatz seiner glücklichenJugend und seiner letzten Leiden werfend und in demWunsche, „sie“ könnte ihn hier sehen, draußen auf derwilden See, Gefahr und Tod mit furchtlosem Herzen insAngesicht sehend, mit einem grimmigen Lächeln auf denLippen seinem Schicksal entgegengehend. Es war nureine Kleinigkeit für seine Einbildungskraft, Jacksons Inselaus dem Gesichtskreise des Dorfes fortzudenken, und sokonnte er den letzten Blick mit gebrochenem, aber befriedigtemHerzen hinübersenden. Die anderen Piraten nahmengleichfalls Abschied. Und sie alle schauten solange,daß sie nahe daran waren von der Strömung aus demBereich der Insel getrieben zu werden. Aber sie entdecktendie Gefahr noch rechtzeitig und trafen Vorkehrungen, sieabzuwenden. Um zwei Uhr morgens landete das Floßauf der Sandbank, zweihundert Meter oberhalb der Spitzeder Insel, und sie wanderten hin und her, bis sie ihreLadung geborgen hatten. Zu dem kleinen Floße gehörteauch ein altes Segel, das spannten sie in den Büschen aneiner abgelegenen Stelle auf, um ihre Vorräte darunterzu bergen. Sie selbst aber wollten bei gutem Wetter infreier Luft schlafen, wie es Ausgestoßenen ziemt.
Sie machten ein Feuer an zwanzig bis dreißig Fußim tiefsten Schatten des Waldes und kochten dann einpaar Kleinigkeiten als Abendessen in ihrer Bratpfanne undverzehrten die Hälfte des mitgebrachten Schinkens.
Es schien ihnen herrlich, in dieser wild-ungebundenenWeise im jungfräulichen Wald eines unentdeckten und unbewohntenEilandes zu schmausen, fern von den Hüttender Menschen, und sie nahmen sich vor, nie wieder in dieZivilisation zurückzukehren. Das flackernde Feuer erhellteihre Gesichter und warf seinen roten Schein auf die Baumsäulenihres Waldtempels und auf das Laubwerk und dasGewirr der Schlinggewächse. Als die letzte Schinkenkrusteden Weg alles Eßbaren gegangen war, streckten sich dieBurschen auf dem Grase aus, erfüllt von Behagen. Siehätten einen kühleren Platz finden können, aber sie wolltensich nicht eines so romantischen Vergnügens berauben,wie es das prasselnde Lagerfeuer ihnen bot.
„Ist‘s nicht nett!“ fragte Joe.
„Herrlich ist‘s!“ bestätigte Tom.
„Was würden die Jungs sagen, wenn sie uns sehenkönnten?“
„Sagen? Na, die würden doch gleich sterben, umhier sein zu können — nicht, Hucky?“
„Denk wohl,“ brummte Hucky. „Mir paßt‘s schon.Möchte nirgends sein als hier. Hab‘ niemals genug zuessen gehabt — und hier kann niemand kommen undeinen für ‘nen Landstreicher nehmen und anfahren.“
„‘s ist gerad ein Leben für mich,“ bekräftigte Tom.„Man braucht morgens nicht aufstehen, braucht nicht zurSchule zu gehen, sich nicht zu waschen und ähnliche Dummheiten.“
„Du siehst, Joe, ein Pirat braucht nichts zu tun,wenn er zu Hause ist, aber ein Einsiedler, der muß immerfortbeten, und dann darf er keinen Scherz treiben, undimmer so allein!“
„O, ‘s ist so,“ sagte Joe, „aber ich hatt‘ nicht drangedacht — weißt du. Ich bin ein gut Teil lieber Pirat,als daß ich‘s damit versucht hätte.“
„Du mußt wissen,“ fuhr Tom fort, „Einsiedler werdendie Menschen nicht mehr so viel wie früher, aber vor ‘nemPiraten haben sie immer Respekt. Und ein Einsiedlermuß auf der härtesten Stelle, die er finden kann, schlafenund sich den Kopf mit Sackleinwand und Asche bedeckenund draußen im Regen stehen und —“
„Warum muß er Sackleinwand und Asche auf denKopf tun?“ fragte Huck.
„Weiß selbst nicht. Aber ‘s ist bestimmt so. Einsiedlertun‘s immer. Du müßtest‘s auch tun, wenn du ‘nEinsiedler wärst.“
„Heißt, wenn ich‘s möcht‘.“
„Na, was wolltest du denn tun?“
„Das weiß ich nicht. Aber ich tät‘s nicht!“
„Na, Hucky, du mußt‘s! Wie wolltest du dich drumdrücken?“
„Weil ich‘s halt einfach nicht täte. Ich lief fort —glaub‘ ich.“
„Lief fort! Na, du würdest ein schöner Kerl von ‘nemEinsiedler sein! ‘ne Schande!“
Der ‚Bluthändige‘ gab keine Antwort, er hatte Bessereszu tun. Eben hatte er einen Maiskolben fertig ausgehöhlt,tat jetzt Tabakblätter hinein, drückte eine glühende Kohledrauf, machte aus einem Binsenrohr einen Stiel und stießdicke Rauchwolken hervor; er befand sich im Zustand ausschweifendstenBehagens.
Plötzlich sagte Huck: „Was haben Piraten zu tun?“
„O, die haben zuweilen lustige Zeiten,“ belehrte Tom,„nehmen Schiffe weg und verbrennen sie, vergraben allesGold daraus an einer unheimlichen Stelle ihrer Insel, woGeister und solche Dinger sie bewachen, und töten alle aufdem Schiff — lassen sie über ‘ne Planke springen.“
„Und sie schleppen die Frauen auf ihre Insel,“ sagteJoe, „die Frauen töten sie nicht.“
„Nein,“ stimmte Tom zu, „sie töten keine Frauen —dazu sind sie zu edel, Und dann sind die Frauen auchimmer wunderschön, immer!“
„Und tragen die aller-allerschönsten Kleider. LauterGold und Diamanten,“ sagte Joe wieder mit Begeisterung.
„Wer?“ fragte Huck.
„Na — die Piraten.“
Huck beschaute kritisch seine eigenen Kleider. „Ichschätze, ich wäre für ‘nen Piraten zu schlecht gekleidet,“ sagteer mit traurigem Pathos, „aber ich hab‘ keine anderen alsdiese.“
Aber die anderen beiden trösteten ihn damit, daß dieschönen Kleider früh genug kommen würden, wenn sie nurerst mal ihr Abenteuerleben begonnen haben würden; siemachten ihm begreiflich, daß seine Lumpen es für den Anfangschon täten, obwohl es für bessere Piraten sich schickte,in anständigerer Garderobe zu erscheinen.
Allmählich wurde die Unterhaltung einsilbig und Müdigkeitbegann sich auf die Augenlider der kleinen Landstreicherzu senken. Die Pfeife entfiel den Fingern des‚Bluthändigen‘, und er schlief den Schlaf des Gerechten unddes Müden.
Der ‚Schrecken des Meeres‘ und der ‚schwarze Rächerdes spanischen Meeres‘ kamen nicht so leicht zum Schlafen.Sie sagten ihr Abendgebet innerlich und legten sich nieder,da niemand hier war, dessen Autorität sie hätte zwingenkönnen, niederzuknien und es laut zu sprechen. In Wahrheithatten sie Lust, es überhaupt nicht zu sprechen, aber siehatten doch Furcht, soweit vom Wege abzuirren, um nichtein plötzliches, speziell für sie bestimmtes Donnerwetter vomHimmel herabzubeschwören. Dann endlich befanden siesich ganz dicht am Rande des Schlafes — als noch einmalein Störenfried auftrat, der sich nicht abweisen lassenwollte. Es war das Gewissen. Sie begannen die unbestimmteEmpfindung zu haben, daß sie doch wohl unrechtgetan hätten, fortzulaufen. Danach dachten sie an die gestohlenenLebensmittel und damit begann erst die rechteSelbstquälerei für sie. Sie versuchten sie von sich abzuwenden,indem sie sich des gestohlenen Zuckerwerks undder Äpfel erinnerten, die sie auf dem Kerbholz hatten.Aber das Gewissen ließ sich durch solche mageren Einwändenicht beruhigen. Es schien ihnen schließlich doch unmöglich,um die unumstößliche Tatsache herumzukommen, daßÄpfelstehlen lediglich „stibitzen“ sei, während das Forttragenvon Schinken, Speckseiten und solchen Wertgegenständennur als vollgültiger, klarer Diebstahl bezeichnetwerden könne — und dagegen gab es ein Verbot in derBibel! Worauf sie innerlich beschlossen, daß, solange sieauch bei dem Geschäft bleiben würden, ihre Seeräubereiennicht wieder durch das Verbrechen des Diebstahls gebrandmarktwerden sollten. Ihr Gewissen schloß auf dieserGrundlage denn auch Waffenstillstand, und diese merkwürdiginkonsequenten Piraten fielen in tiefen Schlummer.
Vierzehntes Kapitel.
Als Tom morgens erwachte, war er sehr erstaunt überseine Umgebung. Er setzte sich auf, rieb sich die Augenund schaute um sich; dann begriff er. Es herrschte kühle,graue Dämmerung und ein wundervoller Hauch von Ruheund Frieden in der tiefen, alles durchdringenden Stilleund Lautlosigkeit des Waldes. Nicht ein Blatt rührte sich,nicht ein Laut störte das große Nachdenken der Natur.Tautropfen lagen auf Blättern und Gräsern. Eine weißeSchicht Asche bedeckte die Feuerstelle, und ein dünner,blauer Streifen Rauch hob sich in die Luft empor. Joeund Huck schliefen noch. Jetzt plötzlich begann ein Vogelim Innern des Waldes zu singen; andere antworteten;dann machte sich das Hämmern eines Spechtes hörbar.Allmählich erhellte sich der kühl-trübe Grauton des Morgens,und ebenso allmählich vermehrten sich die Stimmen,und das Leben nahm zu. Alle Wunder der den Schlaf abschüttelndenund an die Arbeit gehenden Natur entfaltetensich vor dem staunenden Knaben. Ein kleines, grünesKriechtier kam über ein von Tau bedecktes Blatt daher,zwei Drittel des Körpers von Zeit zu Zeit in die Lufterhebend, herumschnüffelnd, dann wieder weiterkriechend,„maßnehmend“, wie Tom bei sich sagte. Und als dieRaupe sich ihm selbst näherte, saß er mäuschenstill undhoffte, je nachdem sie sich auf ihn zu bewegte oder eineandere Richtung einschlug; und als sie schließlich, nachdemsie einen Augenblick peinvoller Erwartung für Tomihren gekrümmten Leib aufgerichtet gehalten hatte, entschiedenauf Tom losmarschierte und eine Entdeckungsreiseauf ihm antrat, war sein ganzes Herz voll Vergnügen,denn er hoffte daraufhin ganz zweifellos, einenneuen Anzug zu bekommen — eine herrliche Piratenuniform.Nun erschien eine Prozession Ameisen, Gottweiß, woher, um sich an ihre Arbeit zu machen; eineschleppte ganz mutig eine tote Spinne, die fünfmal sogroß war wie sie selbst, und zerrte sie auf einen Baumstrunk.Ein braun geflecktes Käferchen kraxelte einen Grashalmin die Höhe, und Tom beugte sich zu ihm herabund sang:
„Käferchen, Käferchen, flieg nach Haus,
Kinder allein in dem brennenden Haus!“
worauf es die Flügel ausbreitete, um heimwärts zufliegen und nach den allein gelassenen Kinderchen zu sehen,was Tom nicht weiter überraschte, denn er kannte längstdie Leichtgläubigkeit und die Furcht dieses Tieres vorFeuer und hatte sie mehr als einmal ruchlos ausgenutzt.
Die ganze Natur war jetzt wach und in Bewegung,lange Nadeln von Sonnenlicht brachen durch das dichteLaub fern und nah, und kleine Schmetterlinge flattertenhin und her.
Tom weckte die anderen Piraten, und alle stürmtenheulend davon, waren in zwei oder drei Minuten entkleidetund jagten sich und stießen sich herum in demseichten, klaren Wasser der Sandbank. Sie empfandennicht das geringste Verlangen nach dem kleinen Dorfe,das in der Ferne an der majestätischen Wasserwüste nochfest schlief. Eine zufällige Strömung oder eine schwacheWelle hatte das Floß fortgetrieben. Indessen freuten siesich eher darüber, denn durch sein Verschwinden war dieBrücke zwischen ihnen und der Zivilisation gleichsam abgebrochen.
Sie kehrten wunderbar erfrischt zu ihrem Lagerplatzzurück, vergnügt und heißhungrig; bald hatten sie dasLagerfeuer wieder angezündet. Huck fand eine Quellegoldklaren Wassers in der Nähe, sie machten Becher ausEichenrinde oder Blättern und konstatierten, daß Wasser,von solcher Wild-Wald-Romantik versüßt, ein sehr guterErsatz für Kaffee sei.
Während Joe sich daran machte, Speck zum Frühstückzu rösten, baten Tom und Huck ihn, einen Augenblick zuwarten; sie rannten nach einer vielversprechenden Stelleder Sandbank und warfen dort ihre Angeln aus; fast soforthatten sie Erfolg. Joe hatte gar nicht Zeit gehabt, ungeduldigzu werden, als sie schon zurück waren mit einpaar Handvoll Forellen, einem riesigen Barsch undanderen Fischen, — Vorrat genug für eine ganze Familie.Sie brieten die Fische mit Speck und waren überrascht;denn kein Fisch war ihnen bisher so delikat erschienen. Siewußten nicht, daß ein Fisch um so besser ist, je eher erübers Feuer kommt; auch überlegten sie sich kaum, welcheWürze Schlaf und Bewegung im Freien, ein Bad und dieZutat eines tüchtigen Hungers ausmachten.
Nach dem Frühstück lagen sie im Schatten herum,während Huck ein Pfeifchen schmauchte, und dann machtensie sich zu einer Entdeckungsreise durch den Wald auf dieFüße. Sie trollten lustig dahin über vermoderte Baumstämme,durch wirres Gestrüpp, zwischen schweigendenKönigen des Waldes hindurch, die von oben bis untenmit allerhand Schlingpflanzen behangen waren. Ab undzu trafen sie auf verborgene, mit Gras bewachsene undmit Blumen geschmückte kleine Lichtungen.
Sie fanden eine Menge Dinge, die ihnen gefielen,aber nichts, was sie in Entzücken gesetzt hätte. Sie stelltenfest, daß die Insel über drei Meilen lang und eine Viertelmeilebreit und daß die Küste, wo sie ihr am nächsten war,nur durch einen schmalen Kanal, kaum zweihundert Meterbreit, von ihr getrennt sei. Alle paar Stunden nahmen sieein Bad, so war es hoher Nachmittag, als sie zum Lagerzurückkehrten. Sie waren zu hungrig, um wieder Fischezu fangen, fielen daher tüchtig über ihren Schinken her,warfen sich dann im Schatten nieder und plauderten. Aberdas Gespräch geriet bald ins Stocken und erstarb dannganz. Die Stille und Einsamkeit, die über dem Waldelagen, und die Empfindung der Verlassenheit begannenauf die Gemüter zu wirken. Sie versanken in Nachdenken.Eine Art unbestimmter Sehnsucht ergriff sie und lasteteimmer schwerer auf ihnen — es war das Heimweh. SelbstFinn, der Bluthändige, träumte von seinen Treppenstufenund leeren Regentonnen. Aber sie schämten sichihrer Schwäche, und niemand war tapfer genug, davon zusprechen.
Jetzt plötzlich wurden die Jungen durch einen ganzbesonderen Schall in der Ferne aufgeschreckt, wie es wohldurch das Ticken einer Wanduhr geschieht, das man schonlange gehört hat, ohne es zu bemerken. Indessen wurdeder geheimnisvolle Ton bestimmter und drängte sich geradezuder Wahrnehmung auf. Die Jungen fuhren in dieHöhe, schauten einander an, und dann verharrte jeder inlauschender Stellung. Es folgte langes Stillschweigen,tief und ungestört; dann kam ein tiefer, dumpfer Ton ausweiter Ferne herüber.
„Was ist das,“ schrie Joe atemlos.
„Möcht‘s auch wissen,“ entgegnete Tom flüsternd.
„‘s ist nicht Donner,“ schloß sich Huck in erschrecktemTon an, „denn Donner —“
„Still!“ befahl Tom, „horcht — dann sprecht.“
Sie warteten eine Zeitlang, die ihnen eine Ewigkeitdünkte, und dann unterbrach derselbe dumpfe Ton die tiefeStille.
„Wollen wir hingehen und nachsehen?“
Sie sprangen auf und rannten nach der dem Dorfezugewandten Küste. Sie teilten die Büsche auf der Sandbankund spähten hindurch über die Wasserfläche. Daskleine, eiserne Dampfboot befand sich über eine Meileunterhalb des Dorfes, mit dem Strome treibend. DasVerdeck schien mit Menschen bedeckt. Eine Menge Bootetrieben sich um den Dampfer herum oder ließen sich vonder Strömung treiben, aber die Jungen konnten nichtherausbringen, was die Leute vorhatten. Plötzlich schoßeine große weiße Dampfwolke vom Dampfboot aus überden Fluß, und als sie sich ausbreitete und in kleinenWölkchen in die Höhe stieg, tönte derselbe dumpfe Tonden Lauschenden in die gespitzten Ohren.
„Jetzt weiß ich!“ schrie Tom, „‘s ist jemand ertrunken!“
„‘s ist an dem,“ bestätigte Huck. „Sie machten esletzten Sommer so, als Bill Turner unterging. Sieschossen ‘ne Kanone über dem Wasser ab und davon kamer wieder raus. Ja — und sie nahmen Laibe Brot, tatenQuecksilber ‘rein und ließen sie dann schwimmen, und woeiner dann ertrunken ist, dahin schwimmen sie ganz richtigund bleiben da stehen.“
„Ja,“ sagte Joe, „das hab‘ ich auch gehört. Möchteaber wissen, was das Brot damit zu tun hat.“
„O, ich denke, ‘s Brot ist‘s wenigste,“ meinte Tom.„Ich meine, ‘s ist mehr, was sie drüber sprechen, ehe sie‘saussetzen.“
„Aber sie sprechen ja gar nichts drüber,“ warf Huckein. „Ich hab‘s gesehen, und sie taten‘s nicht!“
„Na, das ist sonderbar,“ kopfschüttelte Tom. „Abersie sagen gewiß was zu sich selbst. Natürlich tun sie‘s.Jeder weiß das.“
Die anderen gaben zu, daß das, was Tom da sage,was für sich habe, denn ein lumpiges Stück Brot, nichtdurch eine Besprechung mit besonderer Kraft ausgestattet,konnte sich nicht so klug und geschickt benehmen, wennman es auf eine Unternehmung von solcher Wichtigkeitausschickte.
„Teufel,“ sagte Joe, „ich wollt‘ ich wär‘ drüben!“
„Ich auch,“ bestätigte Huck. „Ich gäb ‘nen Haufen,um zu wissen, was das ist.“
Die Jungen horchten und warteten. Plötzlich durchfuhrein erleuchteter Gedanke Toms Hirn, und er rief aus:
„Jungs, ich weiß, wen sie suchen dort drüben! Unssuchen sie!“
Sie fühlten sich sofort als Helden. Hier war einglänzender Triumph. Sie wurden vermißt. Sie wurdenbeweint. Herzen brachen ihretwegen. Tränen wurdenvergossen. Anklagende Erinnerung an unfreundlicheHandlungen gegen diese armen Verlorenen stiegen auf,und nutzloses Bedauern und Gewissensbisse quälten dieHerzen. Und das beste — die Vermißten wurden zumöffentlichen Gesprächsthema des ganzen Dorfes, und dannder Neid aller Buben, soweit diese glänzende Botschaftdrang! Es war herrlich! Es gab dem Piratenspielenerst den rechten Wert.
Als die Dämmerung hereinbrach, kehrte das Dampfbootzu seinen gewöhnlichen Geschäften zurück, und dieBoote verschwanden. Die Piraten kehrten in ihr Lagerzurück. Sie waren noch ganz betäubt durch den Überschwangihrer neuen Größe und das wunderbare Aufsehen,das sie erregten.
Sie fingen Fische, bereiteten ihr Abendessen, verzehrtenes und legten sich dann nieder, um Vermutungenanzustellen, was das Dorf über sie denken und sprechenmöchte. Und die Bilder, die sie sich von der allgemeinenBestürzung, deren Ursache sie waren, machten, entzücktensie über alle Maßen. Aber als die Schatten derNacht sie zu umhüllen begannen, hörten sie auf zu plaudernund saßen da, schauten ins Feuer, während ihr Geistaugenscheinlich ganz wo anders weilte. Der Rausch wargeschwunden, und Tom und Joe konnten an niemand zuHause zurückdenken, der sich über ihre Heldentat so freuenmochte, wie sie es taten. Trübe Ahnungen stellten sichein. Sie fühlten sich unbehaglich und unglücklich. Einoder zwei Seufzer entschlüpften ihnen. Endlich wagteJoe einen Fühler auszustrecken, um zu sehen, wie dieanderen über die Rückkehr zur Zivilisation denken mochten,— nicht jetzt natürlich — aber —
Tom wies ihn mit Verachtung zurück! Huck, bisjetzt noch ganz gleichmütig, stimmte Tom bei, und derWankelmütige gab eine demütige „Erklärung“ ab undwar froh, sich mit einem so geringen Odium schwachherzigenHeimwehs, als es sich nur immer machen ließ,aus der Affäre zu ziehen. Für den Augenblick war dieEmpörung also offenbar niedergeschlagen.
Als die Nacht dunkelte, begann Huck zu nicken undsogleich zu schnarchen. Joe war der nächste. Tom lageine Zeitlang unbeweglich auf den Ellbogen, die beidenaufmerksam beobachtend. Schließlich erhob er sich vorsichtigauf die Knie und kroch durch das Gras und denflackernden Widerschein des Lagerfeuers. Er sammelteund untersuchte verschiedene große Stücke weißer Sykomorenrindeund wählte schließlich zwei, die ihm die bestenschienen, aus. Dann kroch er wieder zum Feuer undkritzelte etwas mit Rotstift auf jedes von ihnen. Einsrollte er zusammen und schob es in seine Tasche, dasandere tat er in Joes Hut und legte diesen in einigerEntfernung von seinem Eigentümer hin. In den Huttat er dann noch gewisse Schulbuben-Kostbarkeiten vonfast unschätzbarem Wert, darunter ein Stück Kreide, einenKlumpen Federharz, drei Angelhaken und eine jener ArtMarbeln, die als „so gut wie Kristall“ bekannt sind. Dannschlich er auf den Zehen vorsichtig zwischen den Bäumenhindurch, bis er außer Hörweite zu sein glaubte, unddann setzte er sich in scharfen Trab in der Richtung nachder Sandbank zu.
Fünfzehntes Kapitel.
Wenige Minuten später befand sich Tom im seichtenWasser der Sandbank, der Illinois-Küste zuwatend. Bevorihm die Flut bis zur Hälfte des Körpers reichte, warer schon halb drüben. Die Strömung erlaubte jetzt keinWaten mehr; so machte er sich zuversichtlich daran, dieletzten hundert Meter schwimmend zurückzulegen. Erschwamm querüber, aber bald wurde er stärker stromabwärtsgetrieben, als er gedacht hatte. Indessen, er erreichtedie Küste schließlich, trieb an ihr entlang und fandeine niedrige Stelle, wo er hinauskletterte. Er legte dieHand auf die Tasche, fand, daß seine Baumrinde darinwohlgeborgen sei und schlug sich dann mit triefenden Kleidern durch den Wald, der Küste folgend. Kurz vor 10 Uhrkam er auf einen freien Platz dem Dorfe gegenüber underblickte das Dampfboot im Schatten der Bäume und deshohen Ufers liegend. Alles war totenstill unter denfunkelnden Sternen.
Er kroch unter einen Ufervorsprung, tauchte insWasser, tat schwimmend drei oder vier Stöße und klettertein das Boot, welches, wie es sich gehörte, am Stern desDampfbootes befestigt war. Er legte sich unter die Bankund wartete mit Herzklopfen. Plötzlich schlug die blecherneGlocke an, und eine Stimme gab Befehl, abzustoßen. Einpaar Minuten später wurde die Spitze des Bootes vomDampfer stark angezogen, und die Reise hatte begonnen.Tom fühlte sich erhoben durch seinen Erfolg — er wußte,daß es die letzte Fahrt sei, die das Boot an diesem Abendmachte.
Nach langen zwölf bis fünfzehn Minuten stoppte dasFahrzeug, und Tom glitt über Bord und schwamm imDunkeln dem Ufer zu; er landete fünfzig Meter unterhalb— zur Sicherheit vor etwaigen herumstreichenden Bekannten.Er lief durch wenig belebte Straßen und befandsich bald am hinteren Zaun seiner Tante. Er klettertehinüber, näherte sich behutsam dem Haus und spähte durchdas Wohnzimmerfenster, da er dort Licht sah.
Da saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe HarpersMutter, dicht zusammengedrängt, eifrig schwatzend. Siesaßen am Bett, und dieses stand zwischen ihnen und derTür. Tom schlich vorsichtig zur Tür und begann vorsichtigden Drücker zu drücken. Dann drückte er kräftiger,und die Tür knarrte. Er setzte seine Tätigkeit fort undhielt jedesmal inne, sobald es knarrte, bis er glaubte, aufden Knien durchkriechen zu können. Und so steckte er denKopf hinein, und versuchte es vorsichtig.
„Warum flackert das Licht so?“ sagte Tante Polly.Tom beeilte sich.
„Ich glaub gar, die Tür ist offen! Wahrhaftig, sieist offen! Hören denn die Gespenstergeschichten heut garnicht auf! Geh‘ hin und mach sie zu, Sid!“
Im selben Moment verschwand Tom unterm Bett.Er lag und verschnaufte ‘ne Zeitlang, und dann kroch erso weit vor, daß er Tante Pollys Füße fast berührenkonnte.
„Aber, wie ich sagte,“ fing Tante Polly wieder an,„er war nicht schlecht, nur — wie soll ich sagen —gerissen! Nur ein bißchen unbesonnen, wissen Sie, undgedankenlos-flüchtig. Er dachte nie mehr nach als einFüllen. Bös meint‘ er‘s nie, er war der gutherzigsteJunge, der jemals dagewesen ist,“ und sie begann zuweinen.
„Grad‘ so war‘s mit meinem Joe — immer voll vonDummheiten und zu jedem Unfug aufgelegt; und so selbstlosund gutmütig, wie nur einer sein kann — und esschmerzt mich schrecklich, zu denken, daß ich hingehenkonnte und ihm eine runterhauen, weil er die Milch genommenhaben sollte, und nicht daran dachte, daß ich sieals sauer selbst fortgegossen hatte — und ich soll ihn niewiedersehen in dieser Welt, nie, nie, nie — armer verlassenerJunge!“ Mrs. Harper schluchzte, als solle ihrdas Herz brechen.
„Ich hoffe, Tom ist besser dran, wo er ist,“ sagte Sid,„aber wenn er in manchen Dingen hier besser gewesenwäre —“
„Sid!“ Tom fühlte ordentlich den strengen Blickaus den Augen der alten Dame, obwohl er sie nicht sehenkonnte. „Nicht ein Wort gegen meinen Tom, nun erfort ist! Gott wird sich seiner annehmen, sorg du nurfür dich selbst, mein Lieber. O, Mrs. Harper, ich weißnicht, wie ich‘s ohne ihn aushalten soll — ich weiß nicht,wie ich‘s ohne ihn aushalten soll! Er war so anhänglichan mich — obwohl er mein altes Herz zuweilenfast gebrochen hätte!“
„Der Herr hat‘s gegeben, der Herr hat‘s genommen,der Name des Herrn sei gelobt! Aber ‘s ist so hart — o,‘s ist so hart! Noch letzten Samstag ließ Joe einenSchwärmer mir unter der Nase platzen, und ich schlugihn nieder. Damals wußt‘ ich freilich nicht, wie bald— o, wenn ich‘s noch mal erleben könnte, ich würd‘ ihndafür umarmen und segnen.“
„Ja, ja, ich kann‘s mir denken, was Sie fühlen, Mrs.Harper, ganz genau weiß ich, was Sie fühlen! ‘s istnoch nicht länger als gestern abend, da nahm Tom dieKatze und füllte sie voll ‚Schmerzenstöter‘, und ich dachte,das Tier würd‘ das Haus einreißen! Und — Gott verzeih‘mir — ich gab ihm eins mit dem Fingerhut auf denKopf — armer Junge, armer toter Junge! Aber er istjetzt raus aus allen Schmerzen. Und die letzten Worte,die ich von ihm gehört habe, waren —“
Aber diese Erinnerung war zu viel für die alte Dame,und sie brach völlig zusammen. Tom schluchzte jetzt selbst— mehr aus Mitleid mit sich selbst als mit sonst jemand.Er konnte auch Mary weinen und von Zeit zu Zeit einfreundliches Wort über sich sprechen hören. Er fing an,eine bessere Meinung als bisher von sich selbst zu haben.Schließlich war er durch seiner Tante Kummer so tief ergriffen,daß er drauf und dran war, unter dem Bett hervorzukommenund sie mit seiner Wiederkunft freudig zuüberraschen, und der Theatereffekt war ganz nach seinemGeschmack, aber er widerstand doch und verhielt sich still.
Er fuhr fort zu lauschen und setzte sich aus allerhandAndeutungen zusammen, daß man erst angenommen habe,die Burschen seien beim Schwimmen umgekommen; dannwurde das kleine Floß vermißt; dann verkündeten einpaar Jungen, die Ausreißer hätten versprochen, das Dorfsolle bald „von ihnen hören“. Die weisen Häupter hattendies und das zusammengereimt und erklärt, die Strolcheseien auf diesem Floß davongefahren und würden bald inder nächsten Stadt unterwärts anlangen. Aber gegenMittag war das Floß gefunden worden, ungefähr fünf odersechs Meilen unterhalb des Dorfes an der Missouriküste,und da hatte man die Hoffnung aufgegeben; sie mußtenertrunken sein, denn sonst hätte der Hunger sie bei Einbruchder Nacht nach Haus getrieben — wenn nicht schonfrüher. Man glaubte, die Suche nach den Leichen seidarum erfolglos geblieben, weil sich das Unglück in derMitte des Stromes zugetragen habe, denn die Jungenals gute Schwimmer würden sich sonst ans Ufer gerettethaben. Das war Mittwoch abend. Wenn sie bis Samstagnoch nicht gefunden sein würden, müßte man alle Hoffnungaufgeben, und der Trauergottesdienst sollte dannam Sonntag morgen stattfinden. Tom schauderte.
Mrs. Harper wünschte mit weinerlicher Stimme„Gute Nacht“ und rüstete sich zum Abmarsch. Dann,mit plötzlichem Impuls, umarmten sich die beiden verwaistenFrauen, weinten sich nach Herzenslust aus undtrennten sich. Tante Polly war doppelt zärtlich, indem sieSid und Mary „Gute Nacht“ sagte. Sid schluchzte einbißchen, Mary aber weinte aus Herzensgrund.
Tante Polly kniete nieder und betete für Tom soeindringlich, so leidenschaftlich und mit so grenzenloserLiebe in ihren Worten und ihrer alten, zitternden Stimme,daß er wieder, lange bevor sie zu Ende war, in Tränenzerfloß.
Er mußte noch lange, nachdem sie zu Bett gegangenwar, warten, denn von Zeit zu Zeit stieß sie immer nochmal einen herzbrechenden Seufzer aus, warf sich unruhighin und her und konnte nicht zur Ruhe gelangen. Aberschließlich war sie doch still und seufzte nur noch bisweilenim Schlaf.
Nun kroch der Junge hervor, richtete sich am Bett indie Höhe, beschattete das Licht mit der Hand und standlange, sie betrachtend. Sein Herz war voll Mitleid mitihr. Er zog seine Sykomorenrinde hervor und legte sieneben den Leuchter. Aber es fiel ihm etwas ein, under überlegte. Auf seinem Gesicht lag der glückliche Widerscheinseiner Gedanken. Schnell steckte er die Rinde wiederin die Tasche, dann beugte er sich herunter, küßte diewelken Lippen und machte sich verstohlen davon, die Türhinter sich schließend.
Er nahm seinen Weg wieder zum Dampfboot, fandniemand dort vor und begab sich kühn an Bord desSchiffes, welches, wie er wußte, verlassen war — bisauf einen Wächter, der sich darin einzuschließen und zuschlafen pflegte wie ein steinernes Bild. Er zog das kleineBoot heran, sprang hinein und schwamm bald wiederdraußen auf dem Strom. Als er eine Meile vom Dorfeentfernt war, steuerte er querüber und legte sich tüchtigins Zeug. Er erreichte genau die Landungsstelle an deranderen Seite — eine Kleinigkeit für ihn. Große Lusthatte er, das Boot zu kapern, denn er meinte, man müssees doch als „Schiff“ betrachten und es sei somit legitimeBeute für einen Seeräuber. Aber dann sagte er sich,daß genaue Nachforschungen danach angestellt werdenwürden, und das hätte mit einer Entdeckung endenkönnen. So sprang er ans Ufer und drang in den Waldein. Er setzte sich nieder und hielt lange Rast, sich quälendmit Anstrengungen, wach zu bleiben, und dann strebteer wieder seiner „Heimat“ zu. Die Nacht war fast zuEnde. Es war heller Morgen, bis er sich der Insel gegenüberbefand. Er ruhte wieder, bis die Sonne ganz heraufwar und den Fluß mit ihrem Glanz übergoß, und dannsprang er ins Wasser. Kurz darauf stand er triefend amEingang des Lagers und hörte Joe sagen: „Nein, Tomist treu, Huck, und er wird wiederkommen. Er wird nichtdurchbrennen. Er weiß, daß es ‘ne Schande für ‘nenSeeräuber wär, und Tom ist zu stolz für so was. Er istauf irgend was aus. Möcht‘ aber wohl wissen, was?“
„Na — die Sachen da gehören doch jetzt uns, nicht?“
„Beinahe, aber nicht ganz, Huck. Das Geschreibselsagt, sie sind unser Eigentum, wenn er nicht bis zumFrühstück wieder da ist.“
„Was er ist,“ rief Tom in theatralischer Pose, großartigins Lager tretend.
Ein prächtiges Frühstück, aus Schinken und Fisch bestehend,war bald zur Stelle, und während sich die Jungendarüber hermachten, berichtete Tom (mit vielen Ausschmückungen)seine Abenteuer. Sie waren eine edle,prahlerische Gesellschaft von Helden, als seine Erzählungbeendet war. Dann machte Tom sich davon an einenschattigen Ort, um bis Mittag zu schlafen, die anderenPiraten brachen auf zu Fischzug und Entdeckungsreisen.
Sechzehntes Kapitel.
Nach dem Mittagessen machte sich die ganze Bandeauf nach der Sandbank, um dort Schildkröteneier zusuchen. Sie stießen Löcher in den Sand, und wenn sieeine hohle Stelle fanden, warfen sie sich auf die Knieund gruben mit den Händen. Manchmal erwischten siefünfzig bis sechzig Eier auf einem Haufen. Es warenvollkommen runde, weiche Dinger, ein bißchen kleinerwie ‘ne englische Walnuß. So hatten sie ein köstlichesEigericht für den Abend, und ebenso am Freitag morgen.Nach dem Frühstück liefen sie mit Hurra und Purzelbäumenzum Strand, jagten sich einander herum, warfendie Kleider ab und waren ganz nackt; und dann setzten sieihr lustiges Treiben im seichten Wasser fort, gegen dieStrömung anlaufend, welche ihnen um die Beine spülteund den Spaß noch mehr erhöhte. Zuweilen standen siezusammen und spritzten sich mit der flachen Hand gegenseitigWasser ins Gesicht, indem sie sich, einander denRücken zukehrend, heranschlichen, um den Spritzern zuentgehen, und sich dann plötzlich packten und so langekämpften, bis der Stärkste seinen Gegner geduckt hatte— und dann verwandelten sie sich alle drei in ein Gewirrvon weißen Armen und Beinen, und tauchten zugleichwieder auf, schnaufend, lachend, spuckend und atemlos.
Nachdem sie sich so ordentlich ausgetobt hatten, stiegensie heraus, warfen sich in den trockenen, heißen Sand,lagen da und bedeckten sich ordentlich damit, und dannliefen sie wieder zum Wasser, und das Spiel begann vonneuem. Schließlich fiel ihnen ein, daß ihr nackter Zustandmit fleischfarbigen Trikots große Ähnlichkeit habe.So zogen sie einen Kreis in den Sand und hatten einenZirkus — mit drei Clowns darin, denn niemand wolltediesen stolzesten Posten einem anderen überlassen. Daraufsuchten sie ihre Murmeln hervor und spielten, bis auchdies Vergnügen langweilig wurde.
Huck und Joe schwammen hierauf abermals; Tomwollte nicht mitmachen, denn er fand, daß er beim Anziehenseine Klapperschlangenschnur von den Knöchelnverloren hatte, und er wunderte sich, wie er ohne denSchutz dieses geheimnisvollen Schutzmittels so lange voreinem Krampf bewahrt worden sei. Er wagte sich nichtwieder ins Wasser, bis er sie wiedergefunden hatte, undinzwischen waren die anderen müde und im Begriff, sichauszuruhen. Herumschlendernd, trennten sie sich allmählich,verfielen in Trübsinn und fingen an, über die breiteWasserfläche hinüberzuschauen, wo das Dorf schläfrig inder Sonne lag. Tom ertappte sich dabei, wie er mit derZehe „Becky“ in den Sand schrieb; er wischte es aus,ärgerlich über seine Schwäche. Aber er schrieb es nochmals — trotzdem; er konnte nichts dafür. Er wischtees nochmals aus und zog sich aus aller Versuchung, indemer die anderen Jungen zusammentrieb und sie gegeneinanderschubste.
Aber Joes Geist war allmählich gänzlich niedergedrückt.Er hatte solches Heimweh, daß er sein Elend kaumnoch tragen konnte. Die Tränen waren bei ihm demÜberlaufen nahe. Sogar Huck war melancholisch. TomsHerz war schwer, doch er gab sich Mühe, es nicht zu zeigen.Er hatte ein Geheimnis, das er noch nicht preisgebenwollte, wenn aber diese Depression nicht bald gehobenwerden konnte, mußte er es verraten. Er sagte mit möglichstsichtbarer Heiterkeit: „Ich glaube, ‘s sind schon voruns Piraten auf der Insel gewesen. Wollen wir dochmal nachsehen! Vielleicht haben sie hier Schätze vergraben.Würd‘s euch nicht gefallen, irgendwo auf ‘ne alteverrostete Kiste voll Gold oder Silber zu stoßen, he?“
Es erhob sich aber nur ein schwacher Begeisterungssturm,der bald verflogen war. Tom versuchte noch eineoder zwei Kriegslisten; aber auch diese schlugen fehl. Eswar recht entmutigend. Joe saß da, mit einem Stock imSande stochernd und schaute sehr trübselig drein.
Schließlich sagte er: „Ach, Jungens, laßt‘s uns aufgeben.Ich möcht‘ heim. ‘s ist so einsam hier.“
„Ach was, Joe, das wird schon nach und nach besserwerden,“ entgegnete Tom. „Allein schon die famose Gelegenheitzum Fischen.“
„Mag nichts wissen vom Fischen. Ich will heim!“
„Aber, Joe, nirgends kann man so gut schwimmenwie hier.“
„Schwimmen ist nichts. Ich hab‘ gar keine Lustzum Schwimmen, wenn nicht wer da ist, der mir sagt,ich soll‘s nicht tun. Ich will nach Haus!“
„Ach, Feigling! Wickelkind! Du möchtst bloß zudeiner Alten — schätz‘ ich.“
„Ja — ich will zu meiner Mutter! Und du wolltstauch, wenn du eine hättst. Ich bin nicht mehr Wickelkindals du!“ Und Joe schluchzte ein wenig.
„Na, ‘s ist gut, wollen wir das heulende Muttersöhnchennach Haus lassen, nicht, Huck? Armes Ding —wenn‘s halt Sehnsucht hat, seine Mutter wiederzusehen?Soll‘s halt. Du bleibst hier, nicht, Huck? Wir wollenbleiben?“
„J — a,“ sagte Huck, ohne viel Überzeugung.
„So lang‘ ich lebe, sprech ich nicht mehr mit dir,“sagte Joe aufsehend. „Das hast du davon.“ Trübseligstand er auf und begann sich anzukleiden.
„Mach mir auch was draus,“ warf Tom hin. „‘sbraucht dich niemand. Mach, dass du heimkommst und laßdich auslachen. Bist ‘n schöner Pirat! Huck und ich, wirsind keine Schreibabies. Wir wollen bleiben, nicht, Huck?Laß ihn gehen, wenn er durchaus will. Denke doch, zurNot werden wir fertig ohne ihn.“
Aber trotzdem war Tom nicht recht wohl zumute,es beunruhigte ihn doch, zu sehen, wie Joe trotzig fortfuhr,sich anzuziehen. Und dann war‘s unangenehm, wieHuck mit den Augen den Vorbereitungen Joes folgte, soaufmerksam und mit so unheimlichem Schweigen. Plötzlichbegann Joe, ohne ein Wort des Abschieds, auf dasIllinoisufer zu waten. Tom begann das Herz zu sinken.Er schielte nach Huck. Huck konnte den Blick nicht ertragenund senkte die Augen. Dann sagte er: „Du — Tom —ich will auch gehen. ‘s war schon bis jetzt so einsam,jetzt wird‘s noch schlimmer werden. Gehen wir auch,Tom?“
„Ich geh‘ nicht! Du kannst ja gehen, wenn du willst.Ich bleib‘!“
„Tom — ich will lieber gehen.“
„Na, ‘s ist gut, so geh‘ doch! Wer hindert dichdenn?“
Huck fing an, seine zerstreuten Kleider aufzusammeln.
„Tom,“ sagte er, „wollt‘, du gingst mit. Denk maldrüber nach. Wir wollen drüben am Ufer auf dichwarten.“
„Da, da könnt ihr ‘ne hübsch‘ lange Zeit warten, sag‘ich dir.“
Huck schlich kummervoll davon, und Tom schaute ihmnach, während ein heftiges Verlangen, seinem Stolz zumTrotz hinterher zu laufen, an seinem Herzen riß. Er hoffte,sie würden stehen bleiben, aber sie wateten langsam weiter.
Plötzlich überkam Tom das Bewußtsein, wie einsamund still es dann sein würde. Er kämpfte einen letztenKampf mit seinem Stolz und dann rannte er seinen Kameradennach, brüllend: „Wartet, wartet doch! Will euchwas sagen!“
Sie blieben sofort stehen und drehten sich um. Alser bei ihnen angelangt war, begann er, sein Geheimnisauszukramen, und sie hörten mürrisch zu, bis sie zuletztbegriffen, was die Pointe bei der Sache sei, und in einwahres Kriegsgeheul von Beifall ausbrachen und sagten,‘s wäre großartig, und wenn er ihnen das früher gesagthätte, würden sie nicht fortgegangen sein. Tom brachteeine plausible Entschuldigung vor; in Wahrheit aber hatteer gefürchtet, daß nicht einmal sein Geheimnis sie veranlassenwürde, noch länger bei ihm zu bleiben, unddarum hatte er es als letztes Auskunftsmittel zurückgehalten.
Die Ausreißer kehrten vergnügt zurück und nahmenmit Feuereifer ihre Spiele wieder auf, fortwährend mitstaunender Bewunderung über Toms fabelhaften Planund seine Genialität sich unterhaltend.
Nach einem opulenten Eier- und Fischschmaus erklärteTom, er wolle rauchen lernen. Joe gefiel die Idee,und er sagte, er wolle es auch lernen. So machte HuckPfeifen und füllte sie. Die beiden Neulinge hatten bishernoch nie etwas anderes geraucht als Schokoladezigarren,und die haben niemals als männlich gegolten.
Nun streckten sie sich aus, stützten sich auf die Ellbogenund begannen zögernd zu paffen und mit wenigVertrauen. Der Rauch hatte einen unangenehmen Geschmack,und sie räusperten sich ein wenig, aber Tom sagte:
„Pah! ‘s ist ja so leicht! Hätt‘ ich gewußt, daß dasalles sei, hätt ich‘s schon längst gelernt!“
„Ich auch,“ meinte Joe. „‘s ist ja gar nichts.“
„Gott, wie oft hab‘ ich ‘nen Mann rauchen gesehen,und gedacht: wollt‘, ich könnt‘s auch. Aber ich hab‘ niegedacht, ich könnt‘s. So geht‘s mir immer, nicht,Huck? Du hast‘s mich oft sagen hören, nicht, Huck? Huckweiß, daß ich‘s gesagt hab‘.“
„Ja, oft genug,“ sagte Huck.
„Na, ich hab‘s auch,“ fing Tom nochmals an.„Hundertmal. Mal da unten beim Schlachthaus. Erinnerstdu dich nicht, Huck? Bob Tanner war da undJohnny Miller und Jeff Thatcher, damals, als ich‘ssagte. Erinnerst du dich nicht, Huck, daß ich‘s gesagthab‘?“
„Ja, ‘s ist an dem,“ entgegnete Huck. „‘s war denTag, als ich ‘ne weiße Murmel verloren hatte — nee, ‘swar den Tag vorher.“
„Da sagt‘ ich‘s dir,“ bestätigte Tom. „Huck erinnert‘s.“
„Glaub‘, ich könnt‘ die Pfeife rauchen — alle Tage,“sagte Joe. „Fühl‘ mich gar nicht schlecht.“
„Na, ich auch nicht. Ich könnt‘ alle Tage rauchen,aber ich wette, Jeff Thatcher könnt‘s nicht.“
„Jeff Thatcher! Lieber Gott — keine zwei Zügekönnt‘ der vertragen! Laß ‘s ihn nur einmal versuchen— er soll schon sehen.“
„Ich wollt‘, er tät‘s, und Johnny Miller — wollt‘,ich könnt‘ Johnny Miller ‘s versuchen sehen.“
„Meinst du, ich nicht? Na, der Johnny Millerwürd‘s grad so wenig können wie sonst was! Bloß ‘nbissel Rauch würd‘ den schon umschmeißen!“
„Natürlich würd‘s das, Joe! Du, ich wollt‘, dieJungens könnten uns jetzt mal sehen.“
„Na, das mein‘ ich auch!“
„Wißt ihr was! Sagt nichts davon, und wenn siedann mal dabei sind, geh‘ ich auf dich zu und sag‘: ‚Joe,hast du ‘ne Pfeife? Möcht‘ mal rauchen!‘ Und du sagst,so ganz beiläufig, als wenn‘s nichts wär‘, du sagst: ‚Ja,ich hab‘ meine alte Pfeife, und dann noch eine, aber meinTabak ist nicht sehr gut.‘ Und ich sag‘: ‚O, ‘s ist schonrecht, wenn er uns stark genug ist.‘ Und dann du raus mitden Pfeifen und wir ordentlich drauf los, und dann dieAugen, die die machen werden!“
„Verdammt, das ist famos, Tom! Wollt, ‘s wär‘jetzt!“
So plauderten sie noch ‘ne Weile; aber plötzlich beganndas Gespräch zu stocken, und dann hörte es ganzauf. Das Stillschweigen wurde drückend; das Ausspuckennahm wunderbar zu. Jede Pore im Innern desMundes schien bei den beiden sich in einen spuckendenSpringbrunnen zu verwandeln. Kaum konnten sie dieBehälter unter der Zunge oft genug entleeren, um eineÜberschwemmung zu vermeiden; trotz aller Anstrengungenaber gelangten kleine Ergüsse den Hals hinunter— und jedesmal folgte plötzliches Aufschlucken darauf.Beide sahen blaß und elend aus. Joes Pfeife fiel ausseinen kraftlosen Händen. Toms folgte. BeiderSpringbrunnen waren in voller Tätigkeit, und beiderPumpen arbeiteten fieberhaft.
Joe sagte mit schwacher Stimme: „Hab‘ meinMesser verloren. Denke, ‘s wird gut sein, hinzugehen undzu suchen.“
Tom, mit zitternden Lippen und ebenso schwacherStimme sagte: „Ich helf dir. Du gehst nach der Seite,und ich will nach der andern gehen — zur Quelle. —Nein — du brauchst — nicht zu — kommen — — Huck, —wir — wir finden‘s — schon —“
So setzte sich Huck nieder und wartete ‘ne Stunde.Dann fand er, es sei sehr einsam und ging, seine Kameraden zu suchen. Sie waren weit weg im Walde, beidesehr blaß, beide schliefen fest. Aber etwas belehrte ihn,daß, hatten sie irgend welche Beschwerden gehabt, sie sichdavon befreit hatten.
Beim Nachtessen waren sie eben nicht redselig; siehatten einen hohlen Blick. Und als Huck nach der Mahlzeitseine Pfeife wieder stopfte und ihnen die ihrigen gebenwollte, sagten sie: nein, sie fühlten sich nicht recht wohl —irgend etwas beim Mittagessen sei ihnen nicht gut bekommen.
Siebzehntes Kapitel.
Ungefähr um Mitternacht erwachte Joe und rief dieJungen an. Drückende Schwüle lag in der Luft, dashatte etwas zu bedeuten. Die Jungen drückten sich aneinanderund suchten die freundliche Gesellschaft desFeuers, obwohl die matte, tote Hitze der reglosen Atmosphäreerstickend war. Sie saßen still, horchend undwartend. Jenseits des Lichtschimmers ging alles in derSchwärze der Finsternis auf. Plötzlich fuhr ein zitternderBlitzstrahl herunter, der auf einen Augenblick die Umgebungerleuchtete und dann wieder schwand. Nachkurzer Zeit kam wieder einer, etwas schwächer. Dannnoch einer. Darauf ging ein leises Zittern durch dieBäume des Waldes, und die Knaben empfanden einekurze Kühlung im Gesicht und zitterten bei dem Gedanken,daß der Geist der Nacht an ihnen vorübergegangen sei.Dann eine Pause. Und dann verwandelte ein zauberhafterBlitzstrahl die Nacht in den Tag und zeigte jedeneinzelnen Grashalm, der um ihre Füße herum wuchs.Und außerdem zeigte er drei weiße entsetzte Gesichter. Einschwerer Donnerschlag kam rollend und polternd vom Himmelherunter und verlor sich in der Ferne in dumpfem Grollen.Ein kühler Lufthauch machte sich fühlbar, in den Blätternraschelnd und die aufgehäufte Asche über den Feuerherdwirbelnd. Ein neuer blendender Schein erhellte denWald, und ein Krach folgte, der die Baumwipfel über denHäuptern der Kinder zu zerreißen schien. Sie fuhren erschrecktzusammen bei der vollkommenen Finsternis, diedarauf folgte. Ein paar schwere Regentropfen fielen klatschendauf die Blätter.
„Schnell, Jungens, zum Zelt,“ schrie Tom.
Sie rannten davon, über Wurzeln stolpernd und sichin Schlinggewächse verwickelnd — nicht zwei von ihnenin gleicher Richtung. Ein furchtbarer Windstoß fuhr durchdie Wipfel, jeden Laut verschlingend. Ein blendenderBlitz folgte dem anderen, ein krachender Donnerschlag demanderen. Und jetzt prasselte durchnässender Regen nieder,und der tobende Orkan fegte ihn in Bündeln über dieErde hin.
Die Jungen schrien einander zu, aber der heulendeWind und die dröhnenden Donnerschläge verschlangenihre Stimmen völlig. Indessen drangen sie doch nacheinanderdurch und suchten Schutz unter dem Zelt, kalt,zitternd und triefend von Wasser. Gesellschaft im Unglückzu haben, schien ihnen alles erträglicher zu machen.
Sie konnten nicht sprechen, das alte Segel schlug zuwahnsinnig, selbst wenn die anderen Stimmen es ihnenerlaubt hätten. Der Sturm stieg höher und höher, undplötzlich flog das Segel, aus seinen Klammern losgerissen,auf den Flügeln des Windes davon. Die Knabenfaßten sich an den Händen und flohen, stolpernd und sichwund stoßend, in den Schutz einer großen Eiche, die amFlußufer stand. Jetzt war der Kampf auf seinem Höhepunktangelangt. Bei dem unaufhörlichen Leuchten, dasden Himmel in Flammen setzte, trat alles rund umher ingrelles, schattenloses Licht; die sich beugenden Bäume, derwogende, von Schaum weißgefärbte Strom, das treibendeFlußwasser. Die steilen Felsenufer auf der anderen Seiteschauten zuweilen durch die Regenwolken. Alle Augenblickeerlag ein Baumriese der Gewalt und brach krachenddurch das Unterholz. Und die furchtbaren Donnerschlägefolgten sich in ohrenzerreißendem, explosionsähnlichemSchmettern, scharf und krachend und unbeschreiblich ängstigend.Der Sturm erhöhte sich zu beispielloser Wut, diedie ganze Insel in Stücke reißen, sie zu verbrennen, bis zuden Baumwipfeln versenken und jedes Lebewesen auf ihrvernichten zu wollen schien, alles gleichzeitig und ineinem Augenblick. Es war eine schreckliche Nacht fürheimatlose junge Herzen.
Aber endlich hatte der Kampf ausgetobt, die Naturkräfteruhten, schwächer und schwächer tönend und brummend— Friede herrschte. Die Jungen schlichen zumLager zurück — nicht wenig eingeschüchtert. Und dochfanden sie dort, daß sie alle Ursache hatten, dankbar zusein, denn die große Sykomore, die Beschützerin ihresLagers, war jetzt eine Ruine, vom Blitz zerschmettert —und sie waren während der Katastrophe nicht daruntergewesen.
Alles im Lager war durchnäßt, das Feuer erloschen;denn sie waren leichtsinnige Herumtreiber, wie alle ihresgleichen,und hatten keine Vorsichtsmaßregeln gegen denRegen getroffen. Das war sehr ärgerlich, denn sie warendurchweicht und verfroren. Sie fingen an, über ihr Mißgeschickzu jammern; aber plötzlich entdeckten sie, daß dasFeuer sich an dem Baum, unter dem es gebrannt hatte,so weit hinauf fortgepflanzt hatte, daß eine Handbreit oderso erhalten geblieben war und noch schwach glimmte. Siebelebten es geduldig mit Zweigen und Rinde des umgestürztenBaumes, bis sie es wieder ordentlich entfachthatten. Sie trockneten ihren gekochten Schinken und hielteneine Mahlzeit ab, und dann saßen sie am Feuer und verbreitetensich über ihre nächtlichen Abenteuer und schmücktensie aus bis zum Morgen, denn es gab kein trockenesPlätzchen in der ganzen Umgebung, wo sie hätten ruhenkönnen.
Als die Sonne auf die Knaben zu scheinen begann,überwältigte sie die Müdigkeit, und sie gingen zur Sandbankund legten sich zum Schlaf nieder. Allmählich wurdensie von der Sonne geröstet und machten sich daher intrüber Stimmung ans Frühstück. Sie fühlten sich übellaunigund steif in allen Gliedern und hatten Heimweh,mehr als je. Tom erkannte die Anzeichen davon und versuchte,die Piraten, so gut er es vermochte, aufzuheitern.Aber sie kümmerten sich den Teufel um Murmeln, Zirkus,Schwimmen oder sonst was. Er erinnerte sie an dasgroßartige Geheimnis und erzielte einen Schimmer vonFrohsinn. So lange der anhielt, suchte er sie für ein neuesSpiel zu interessieren. Es war, für eine Weile das Piratenspielenaufzugeben und zur Abwechselung mal Indianerzu sein. Sie waren von der Idee begeistert; und sodauerte es nicht lange, da waren sie tätowiert, tätowiertvon Kopf bis zu Fuß mit schwarzem Schmutz, gleich denZebras, alle natürlich Häuptlinge, und dann rannten sieheulend durch die Wälder, um englische Niederlassungenanzugreifen.
Dann trennten sie sich in drei feindliche Stämme undstürzten aus Hinterhalten mit schrecklichem Kriegsgeschreiaufeinander los und töteten einander tausendweise. Eswar ein blutiger Tag. Darum war es ein befriedigender.
Zur Mittagszeit versammelten sie sich wieder imLager, hungrig und glücklich. Aber jetzt zeigte sich einHindernis — feindliche Indianer konnten das Friedensbrotnicht miteinander brechen, ohne erst Frieden zumachen, und das war einfach unmöglich, ohne eine Friedenspfeifezu rauchen. Es gab keinen anderen Weg, vondem sie je gehört hätten. Zwei von den Wilden wünschtenjetzt, immer Piraten geblieben zu sein. Indessen —es war nichts zu machen, so forderten sie denn mit so vielUnbefangenheit, als sie auftreiben konnten, die Pfeifen, undtaten, wie es sich gehört, einen Zug daraus.
Und wie glücklich waren sie dann, daß sie Wilde gewordenwaren; denn sie hatten dadurch etwas gewonnen.Sie merkten, daß sie jetzt ein bißchen rauchen konnten, ohnefortgehen und ein verlorenes Messer suchen zu müssen.Es wurde ihnen nicht mehr so schlecht, daß es ihnen Unannehmlichkeitenbereitet hätte. Sie hatten aber keineLust, diese stolze Errungenschaft aus Mangel an Übungwieder zu verlieren: o nein, sie übten sie nach dem Essenmit recht schönem Erfolg, und so verbrachten sie einenherrlichen Abend.
Sie waren mit ihrer neuen Kunst stolzer und glücklicher,als wenn sie sechs Indianerstämme skalpiert undhingeschlachtet hätten. Lassen wir sie schmauchen, plaudernund prahlen — denn wir haben im Augenblick nichtsmehr mit ihnen zu schaffen.
Achtzehntes Kapitel.
Im Dorfe herrschte indessen an jenem friedlichenSamstag nachmittag durchaus nicht besondere Heiterkeit.Harpers und Tante Pollys Familie waren inTrauer und Kummer und vielen Tränen.
Ungewöhnliche Ruhe lag über dem Ort, obwohl esauch sonst still genug herzugehen pflegte. Mit zerstreuterMiene gingen die Einwohner ihren Geschäften nach undsprachen wenig; aber sie seufzten oft. Der freie Samstagerschien eine Last für die Kinder. Sie hatten kein Herzfür ihre Spiele und gaben sie schließlich ganz auf.
Nachmittags begab sich Becky Thatcher in trüberStimmung auf den verlassenen Schulhof und fühlte sichsehr einsam. Aber sie fand dort nichts, was sie hätte aufheiternkönnen.
„O, wenn ich doch seinen alten Messingknopf wiederfindenkönnte,“ seufzte sie halblaut. „Jetzt hab‘ ich garnichts zur Erinnerung an ihn!“ Und sie schluckte ein paarTränen hinunter.
Plötzlich blieb sie stehen und flüsterte: „Grad‘ hierwar‘s. Ach Gott, wenn ich‘s nochmal tun sollte, ich würd‘snicht sagen — ich würd‘s nicht sagen für die ganze Welt!Aber er ist jetzt fortgegangen — und ich werd‘ ihn nie —nie wiedersehen —“
Dieser Gedanke ließ sie zusammenbrechen, sie schlichfort, während die Tränen ihr über die Backen niederflossen.
Dann kam ein Haufe Buben und Mädel — Spielkameradenvon Tom und Joe, — schauten über denZaun und besprachen in halbem Ton, wie Tom dies unddas tat in der letzten Zeit, wo sie ihn gesehen hatten, undwie Joe diesen und jenen nebensächlichen Ausspruch getanhatte (mit unheimlichem Voraussehen der Ereignisse,wie sie jetzt wußten!) — und jeder Sprecher bezeichneteganz genau die Stelle, wo die vermißten Flüchtlinge damalsgestanden hatten, und dann fügten sie hinzu: „undich stand gerad so, gerad wie ich jetzt steh‘, und als wenndu er wärest, und ich hab‘ genau auf alles geachtet, under lächelte — genau so — und dann überlief es michordentlich, ganz — schreck — lich, ihr wißt ja auch, und ichkonnt‘ mir gar nicht denken, was es sein könne, aberjetzt weiß ich‘s.“
Darauf erhob sich ein Streit, wer die toten Jungenzuletzt gesehen habe, viele erhoben diesen traurigen Anspruchund boten Beweise, mehr oder weniger durch Zeugenerhärtet, an; und als endgültig festgestellt war, wer siein der Tat zuletzt gesehen und die letzten Worte mit ihnengewechselt hatte, bekamen die Betreffenden dadurch eineArt geheiligter Bedeutung und wurden von allen angestauntund beneidet. Ein armer, kleiner Bursche, derniemals besonders beachtet worden war, sagte, mitordentlich stolzem Ausdruck: „Na, mich hat TomSawyer mal geprügelt!“
Aber dieser Ruhm war sehr vergänglich. Die meistender Jungen konnten das sagen, und das verringerte dieAuszeichnung doch sehr. Die Gesellschaft trollte sich, mithalber Stimme noch weiter Erinnerungen an die verlorenenHelden austauschend.
Als am nächsten Tage die Sonntagsschule zu Endewar, begann die Glocke zu läuten, statt, wie sonst, zuklingeln. Es war ein sehr stiller Sonntag, und der traurigeTon schien sich mit der sinnenden Ruhe, die auf der Naturlag, zu vermischen. Die Dorfbewohner trafen nach undnach ein, in der Vorhalle einen Augenblick stehen bleibendund wispernd sich über das traurige Ereignis unterhaltend.
Aber im Gotteshause wurde nicht geflüstert. Nurdas feierliche Rascheln der Kleider, indem sie sich auf ihrePlätze begaben, störte hier die Stille. Niemand wußtesich zu erinnern, daß die Kirche je so voll gewesen wäre.
Es war eine erwartungsvolle, dumpfe Stille, unddann trat Tante Polly, gefolgt von Sid und Mary unddurch die Harpersche Familie, alle in tiefer Trauer, unddie ganze Gemeinde sowie der Geistliche erhoben sich ehrfurchtsvollund blieben stehen, bis die Leidtragenden aufder ersten Bank sich niedergelassen hatten.
Wieder trat allgemeines Schweigen ein, nur zuweilendurch unterdrücktes Schluchzen unterbrochen, und dann erhob der Geistliche die Hände und betete. Ein ergreifendesLied wurde gesungen, worauf der Text folgte: Ich binder Trost und das Leben.
Im Verlauf seiner Predigt gab der Geistliche solcheBilder von der Sanftmut, dem ehrenhaften Lebenswandelund den vielversprechenden Talenten der verlorenenDurchgänger, daß jedermann, sich einbildend, diesePorträts zu erkennen, Schmerz empfand bei dem Gedanken,daß er gegen all das bisher blind gewesen sei undan den armen Jungen beständig nichts als Fehler undFlecken gesehen hatte. Der Geistliche erzählte manchrührendes Ereignis aus dem Leben der Verschwundenen,das ihre sanften, edelmütigen Naturen zeigte, und dasVolk konnte jetzt leicht sehen, wie edel und schön dieseVorkommnisse waren und sich mit Kummer daran erinnern,daß sie ihnen damals, als sie sich zutrugen, alsarge Spitzbubenstreiche erschienen waren, die den Ochsenziemerverdienten. Die Gemeinde wurde mehr und mehrgerührt, je weiter die ergreifende Predigt fortschritt, bisschließlich alles geknickt war und seine tränenreichen Klagenzu einem Chorus selbstanklagenden Schluchzens vereinigte;sogar der Geistliche überließ sich seinen Gefühlen undweinte auf offener Kanzel.
Auf dem Chor entstand ein Rascheln, auf das aberniemand achtete; einen Augenblick später knarrte die Türder Kirche. Der Geistliche hob die strömenden Augenvom Taschentuch und stand wie angedonnert. Eins umdas andere Augenpaar folgte dem seinigen, und dann, wievon einem Impuls getrieben, erhob sich die Gemeindeund sah, wie die drei toten Jungen ganz gemütlich denGang heraufgeschlendert kamen, Tom voran, dann Joe,zuletzt Huck, eine Ruine wandelnder Lumpen, mit schafsmäßig-verdutztemGesicht. Sie waren in dem unbenutztenChor versteckt gewesen und hatten ihrer eigenen Leichenredezugehört.
Tante Polly, Mary und die Harpers warfen sich aufdie Wiederauferstandenen, sie mit Küssen überschüttendund Danksagungen ausstoßend, während der arme Huckverwirrt und unbehaglich dabei stand, ohne im geringstenzu wissen, was er mit sich anfangen und wohin er sichvor all den Augen, von denen ihn keines bewillkommnete,wenden sollte.
Er stand einen Augenblick zögernd und machte einenschüchternen Versuch, sich wegzustehlen, aber Tom ergriffihn und sagte:
„Tante Polly, ‘s ist nicht recht. ‘s muß sich jemandfreuen, Huck wiederzusehen!“
„Und ‘s soll auch! Ich freue mich, ihn zu sehen,armes, verlassenes Kind!“
Und Tante Polly wandte ihre liebenswürdige Aufmerksamkeitjetzt ihm zu — was ihn nur noch unbehaglichermachte als vorher.
Plötzlich schrie der Geistliche aus vollem Halse:„Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren! —Singt — und legt euer Herz rein!“
Und sie taten‘s. Daß alte Lob- und Danklied drangmit triumphierender Inbrunst empor, und während esalles erzittern machte, schaute Tom Sawyer, der Seeräuber,um sich auf die neidische Jugend ringsum und bekanntein seinem Herzen, daß dies der stolzeste Momentin seinem Leben sei!
Als die Gemeinde hinausströmte, meinten alle, siemöchten sich wohl nochmal lächerlich machen um diesDanklied nochmal so singen zu hören.
Tom erhielt an diesem Tage mehr Püffe und Küsse— je nach Tante Pollys Stimmung, als vorher in einemJahre; und er wußte jetzt ganz genau, was am meistenDank gegen Gott und Liebe zu ihm ausdrückte.
Neunzehntes Kapitel.
Das war Toms großes Geheimnis — der Gedanke,nach Hause zurückzukehren und mit seinen Piratenbrüdernihre eigene Grabrede anzuhören. Sie waren in der Nachtauf den Sonntag auf einem Baumstamm ans Missouriuferhinübergeschwommen, wo sie fünf oder sechs Meilenunterhalb des Dorfes landeten; hatten darauf dicht beimOrte im Walde geschlafen bis beinahe zum hellen Tage,waren durch mehrere abgelegene Gäßchen zur Kirche geschlichenund hatten ihren Schlaf auf dem Chor zwischeneinem Chaos von zerbrochenen Bänken beendet.
Beim Frühstück am Montag morgen waren TantePolly und Mary sehr zärtlich mit Tom und sehr aufmerksamauf seine Wünsche.
Die Unterhaltung war ungewöhnlich lebhaft. ImVerlaufe derselben sagte Tante Polly: „Na, Tom, ichwill nicht grad‘ sagen, daß es ‘ne besonders nette Sachewar, alle Leute in Trübsal zu halten, fast ‘ne Wochelang, während ihr Jungen euch ‘ne gute Zeit machtet; abertraurig ist‘s, Tom, daß du so verstockt sein konntest, michleiden zu lassen! Wenn du auf ‘nem Baumstamme zudeiner Leichenrede rüberkommen konntest, hättst du wohlauch kommen können, um mir ‘n Zeichen zu geben, daßdu nicht tot seiest, sondern einfach davongelaufen.“
„Ja, Tom,“ sagte Mary, „das hättst du tun können.Und ich glaube, du hätt‘st es getan, wenn du dran gedachthättest.“
„Hättst du, Tom?“ fragte Tante Polly, während ihrGesicht sich erwartungsvoll aufhellte. „Na — sag‘, hättstdu‘s getan, wenn du dran gedacht hättest?“
„Ich — na — ich weiß doch nicht! ‘s hätt‘ ja allesverraten!“
„Tom, ich hätt‘ doch gedacht, du hättst mich zu liebfür so was,“ seufzte Tante Polly traurig, in einem Ton,bei dem Tom sehr ungemütlich wurde. „‘s wär‘ dochetwas gewesen, wenn du dir die Mühe genommenhättst, dran zu denken — wenn du‘s schon nicht tatst.“
„Na, Tantchen, gräm, dich nur nicht darüber,“ beruhigteMary. „‘s ist mal so Toms flüchtige Art —er ist ja immer so zerstreut, daß er nie an was denkt.“
„Um so schlimmer. Sid hätt‘ dran gedacht. UndSid würd‘ auch gekommen und ‘s getan haben. Tom,du wirst eines Tages noch mal zurückdenken, wenn‘s zuspät ist, und wünschen, daß du dich ‘n bißchen mehr ummich gekümmert hättst, wo‘s dir doch so leicht gewesenwär‘.“
„Na, Tantchen, du weißt doch, ich hab‘ dich lieb,“schmeichelte Tom.
„Ich würd‘s besser wissen, wenn du‘s mehr zeigtest.“
„Wollt‘, ich hätt‘ dran gedacht,“ sagte Tom in reuevollemTon. „aber — ich hab‘ wenigstens geträumtvon dir. ‘s ist doch was, nicht?“
„‘s ist nicht viel — ‘s ist für ‘ne Katze viel — aber‘s ist mehr als nichts. Was hast du denn geträumt?“
„Na, in der Mittwochnacht träumte mir, ihr säßetzusammen, dicht beim Bett, Sid saß auf der Holzkiste undMary dicht bei ihm.“
„So war‘s — so war‘s ganz genau! Bin doch froh,daß du wenigstens von uns zu träumen dich bequemthast.“
„Und ich träumte, Joe Harpers Mutter wär‘ hier.“
„Na — sie war hier! Träumtest du noch mehr?“
„O — ‘nen Haufen! Aber ‘s ist jetzt alles verschwommen.“
„Na, versuch‘s nur — besinn‘ dich — geht‘s nicht?“
„‘s scheint mir so was, als wenn der Wind — derWind ausgeblasen hätt‘ — —“
„Denk‘ besser nach, Tom! Der Wind hat nichts ausgeblasen— na!“
Tom preßte während eines Augenblicks gespanntenNachdenkens die Finger gegen die Stirn und sagte dann:„Na — jetzt weiß ich‘s! Jetzt hab‘ ich‘s wieder! Er ließdas Licht flackern —“
„Gott erbarm‘ dich! Weiter. Tom, weiter!“
„Und mir kam‘s vor, als hättst du gesagt: ‚Na —ich glaub‘ gar, die Tür —‘“
„Weiter, Tom!“
„Laß mich ‘nen Augenblick nachdenken! Nur ‘nenAugenblick. — Richtig, ja, — du sagtest, du meintest, dieTür wär‘ offen.“
„So wahr ich hier sitz‘ — ich sagte so! Sagt‘ ich‘snicht, Mary? Weiter!“
„Und dann — und dann — — ja, ich weiß nichtganz gewiß, aber ‘s ist mir doch, als hättst du Sid hingehenlassen und — und — —“
„Na, na? Wohin ließ ich ihn gehen? Was ließich ihn tun, Tom?“
„Du ließest ihn — du, — ach, du ließest, ihn die Türzumachen!“
„Beim Himmel, ‘s ist so! So was hab‘ ich dochmein‘ Tag‘ noch nicht gehört! Sag‘ mir keiner mehr,Träume bedeuten nichts! Die überkluge Harper solldavon zu wissen bekommen, eh ich ‘ne Stunde älter bin.Möcht‘ doch sehen, wie sie mit ihrem Geschwätz von Aberglaubenum das ‘rum kommt! Weiter, Tom!“
„O, jetzt ist mir alles so klar wie der Tag! Dannsagtest du, ich wär‘ nicht schlecht, nur leichtsinnig und gedankenlos,und dächte nie an irgend was — wie — wie— glaub‘, ‘s war ‘n Füllen — oder so.“
„Na, so war‘s, ja! Na — Gottes Wunder! Weiter,Tom!“
„Und dann fingst du an zu weinen.“
„Ja, ich tat‘s ich tat‘s! Und wahrhaftig nicht zumerstenmal. — Und dann —“
„Dann begann Mrs. Harper zu weinen und sagte,Joe wär‘ grad‘ so einer, und sie wollte, sie hätt‘ ihn nichtgehaun deswegen, daß er den Rahm genommen habensollte, den sie doch selbst weggeschüttet gehabt hätt‘ —“
„Tom! Der Geist war über dir! Du hattst Sehergabe— ja, gewiß, das hattst du! Herrgott! Weiter,Tom!“
„Dann sagte Sid — — er sagte —“
„Glaub‘, ich sagte gar nichts,“ warf Sid schnell ein.
„Doch, du tatst es Sid,“ entgegnete Mary.
„Laßt das Zanken und laßt Tom sprechen. Wassagte er, Tom?“
„Er sagte — ich denk‘, er sagte, er hoffe, ich wärbesser dran, wo ich setzt sei, aber wenn ich manchmal bessergewesen wär‘ —“
„Da — hört ihr‘s? ‘s waren seine eigenen Worte!“
„Und du leuchtetest ihm ordentlich heim.“
„Ich denke wohl, daß ich‘s tat! ‘s muß ein Engelhier gewesen sein! Ein Engel war hier, ‘s ist zweifellos!“
„Und Mrs. Harper erzählte von Joe, wie er ihrdurch ‘nen Schwärmer ‘nen Schrecken eingejagt hätte, unddu erzähltest von Peter und dem ‚Schmerzenstöter‘ —“
„So wahr ich leb‘!“
„Und dann schwatztet ihr alle durcheinander, daß derFluß nach uns durchsucht worden sei und daß am Sonntagunsere Leichenfeier sein sollt‘, und dann fielst du unddie alte Mrs. Harper euch in die Arme und weintet, unddann ging sie fort.“
„‘s war ganz genau so! ‘s war genau so, so gewiß,wie ich hier aus dem Stuhl sitz‘. Tom, hättst es nicht bessererzählen können, wenn du hier gewesen wärst! Und wasdann? Weiter, Tom!“
„Dann träumte ich, daß du für mich betetest — undich konnt dich sehen und jedes Wort hören, das du sagtest.Und dann gingst du zu Bett, und ich war so traurig, daßich auf ‘n Stück Sykomorenrinde schrieb: ‚Wir sind nichttot — wir sind nur fort, um Piraten zu werden,‘ und legtedas auf den Tisch neben den Leuchter. Und dann sahstdu so lieb aus, wie du dalagst und schliefst, daß ichträumte, ich beugte mich über dich und küßte dich.“
„Tatst du‘s, Tom? Tatst du‘s? Dafür vergeb‘ich dir wahrhaftig alles!“
Und sie schloß den Jungen mit solcher Inbrunst inihre Arme, daß er sich wie der schwärzeste der Verrätererschien.
„‘s war sehr nett — ‘s war aber doch nur ein —Traum,“ brummte Sid für sich halblaut, aber hörbar.
„Halt den Mund, Sid! Jedermann tut im Traumganz genau dasselbe, was er tun würde, wenn er wachwär‘! Hier, Tom, ist ein schöner Apfel, den ich für dichaufgehoben hab‘, wenn du mal wiedergefunden würdst— nun fort zur Schule! Ich dank dem lieben Gott undVater für uns alle, daß ich dich wiederbekommen hab‘, erist langmütig und barmherzig gegen die, so an ihn glaubenund sein Wort halten; obwohl ich weiß, daß ich seineGüte nicht verdiene; aber wenn nur die Guten seinenSegen hätten und seine Hand, ihnen auf den rauhen Pfadendes Lebens beizustehen, würd‘ hier wenig Fröhlichkeitsein, und wenige würden, wenn die lange Nachtkommt, zu seiner Herrlichkeit eingehen dürfen. — Na,macht fort, Sid, Mary, Tom — macht fort, packt euch,habt mich lange genug aufgehalten.“
Die Kinder gingen zur Schule und die alte Dame zuMrs. Harper, um ihren Unglauben durch Toms wundervollenTraum zu vernichten. Sid hütete sich wohl, denGedanken auszusprechen, der ihn beherrschte, als er dasHaus verließ: „Ein bißchen durchsichtig — ‘s ist dochzu lang für ‘nen Traum, — und nicht ein Irrtum.“
Welch ein Held war Tom geworden! Er sprang undtollte nicht mehr herum, sondern bewegte sich mit würdevollemErnst, wie es sich für einen Piraten geziemt, derfühlt, daß er der Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeitist. Und er war es in der Tat; er suchte sich sozu stellen, als sehe er die Blicke nicht und höre nicht dieBemerkungen, wie er so dahinschlenderte, aber sie warenwahrer Balsam für ihn. Kleinere Jungen als er heftetensich an seine Fersen, stolz, mit ihm gesehen zu werden undvon ihm geduldet, als wäre er der Trommler an derSpitze einer Prozession gewesen oder der Elefant, der eineMenagerie in die Stadt führt. Gleichalterige Jungenwollten gar nicht wissen, daß er überhaupt fortgewesensei, aber sie verzehrten sich nichtsdestoweniger vor Neid.Sie hätten alles dafür gegeben, seine dunkle, sonnenverbrannteHaut zu besitzen und seinen glänzenden Ruf;und Tom hätte beides nicht einmal für einen Zirkus fortgegeben.
In der Schule machten die Kinder so viel aus ihmund Joe, und zeigten ihnen so wortreiche Bewunderung,daß es gar nicht lange dauerte, bis die beiden Helden ganzunleidlich aufgeblasen wurden. Sie fingen an, ihre Abenteuerihren hungrigen Zuhörern zu erzählen — aber siefingen immer nur an; die Geschichten konnten auch keinEnde haben bei einer an ausschmückenden Abschweifungen sofruchtbaren Phantasie als die ihrige war. Und schließlich,als sie ihre Pfeifen herauszogen und nachlässig anfingen,zu rauchen, war der höchste Gipfel des Ruhmes erreicht.
Tom nahm sich vor, in Zukunft sich nicht mehr umBecky Thatcher zu kümmern. Ruhm war ihm genug. Erwollte nur für den Ruhm leben. Nun er eine hervorragendePersönlichkeit war, würde sie wohl versuchen,wieder „anzubinden“. Na, mochte sie — sie sollte sehen,daß er ebenso unempfänglich sein konnte wie andere Leute.Grade kam sie daher. Tom stellte sich, als sehe er sienicht. Er ging fort und gesellte sich zu einer anderenGruppe Buben und Mädchen und begann zu erzählen.Bald merkte er, daß sie aufgeregt, mit glühenden Backenund glänzenden Augen, umhertrippelte und sich stellte, alsdenke sie an gar nicht anderes, als sich mit anderen Schulmädchenherumzuschubsen und ein lautes Gelächter auszustoßen,wenn sie eine erwischt hatte; aber er merkte auch,daß sie ihre Gefangenen immer in seiner Nähe machte,und daß sie dann stets verstohlen zu ihm hinüberschielte.Das schmeichelte der lasterhaften Eitelkeit in ihm, und stattdaß es ihn getrieben hätte, wieder einzulenken, machte esihn nur noch arroganter und ließ ihn noch geflissentlichereine Miene aufsetzen, als wisse er gar nichts von ihrerAnwesenheit. Plötzlich gab sie ihr Umhertollen auf, strichunentschlossen herum, seufzte ein paarmal und suchte Tomverstohlen und sehnsuchtsvoll mit den Augen. Dann entdecktesie, wie angelegentlich Tom mit Amy Lawrenceplauderte. Sie empfand einen stechenden Schmerz undwurde auf einmal zerstreut und unsicher. Sie nahm sichvor, davonzugehen, aber ihre Füße trugen sie, ihrem Vorsatzzum Trotz, wieder zu der Gruppe hin. Sie sagtezu einem Mädchen, unmittelbar neben Tom — mit erzwungenerAusgelassenheit: „Du, Mary Austin! Duböses Mädel, warum kamst du gestern nicht zur Sonntagsschule?“
„Ich war doch da — hast du mich denn nicht gesehen?“
„Aber, nein! Warst du da? Wo saßest du denn?“
„In Miß Peters ihrer Klasse, wo ich immer sitze.Ich hab‘ dich gesehen.“
„So, wirklich? Na, ‘s ist doch närrisch, daß ichdich nicht gesehen hab‘. Ich wollt‘ dir doch von demPicknick sagen.“
„O, das ist famos! Wer will eins geben?“
„Meine Mama läßt mich eins geben.“
„Ach, wie reizend! Hoff doch, daß ich auch kommendarf?“
„Na, natürlich, ‘s ist doch mein Picknick. ‘s kannjeder kommen, den ich will — und dich will ich.“
„Das ist mal nett. Wann ist‘s denn?“
„Na — bald. So um die Ferien ‘rum.“
„Das wird mal ‘n Spaß! Hast du alle Knabenund Mädchen eingeladen?“
„Ja, alle, die meine Freunde sind — oder seinwollen,“ und sie schielte wieder so verstohlen nach Tom;aber er erzählte grade Amy Lawrence von dem schrecklichenSturm auf der Insel und wie der Blitz die großeSykomore traf, „ganz dicht bei mir, keine drei Schrittdavon.“
„Du, darf ich auch kommen?“ fragte Gracie Miller.
„Und ich?“ Sally Rogers.
„Und ich auch?“ Susy Harper. „Und Joe?“
„Ja.“
Und so immer weiter mit freudigem Händeklatschen,bis alle in der Gruppe sich ihre Einladung geholt hattenbis auf Tom und Amy. Dann wandte sich Tom kalt ab,immer noch erzählend, und zog Amy mit sich fort. BeckysLippen zitterten, und die Tränen traten ihr in die Augen.Sie unterdrückte diese verräterischen Zeichen mit forzierterHeiterkeit und fing an zu plappern, aber das Vergnügenam Picknick war zu Ende, und auch aus allem anderenmachte sie sich nun nichts mehr. Sobald es ging, lief siedavon, versteckte sich und befreite sich nach der Art ihresGeschlechts durch Tränen von ihrem Kummer. Dann saßsie verdrießlich, mit beleidigter Miene da, bis die Glockeerklang. Mit rachsüchtigem Ausdruck in den Augensprang sie auf, gab ihren dicken Zöpfen einen tüchtigenSchubs und dachte, sie wisse jetzt schon, was sie zutun habe.
In der Ecke setzte Tom seine Schäkerei mit Amy mitjubelnder Selbstzufriedenheit fort. Und er brannte darauf,Becky zu finden und sie mit seiner Überlegenheit zufoltern. Schließlich entdeckte er sie, aber das Herz fielihm plötzlich in die Hosen. Sie saß auf einem Bänkchenhinterm Schulhaus ganz gemütlich, mit Alfred Temple,in ein Bilderbuch schauend. Und so vertieft waren beide,und ihre Köpfe steckten über dem Buch so dicht zusammen,daß sie gar nichts um sich her wahrzunehmen schienen.Eifersucht rann glühend heiß durch Toms Adern. Er begann,sich selbst zu hassen, weil er die Gelegenheit zurVersöhnung, die ihm Becky geboten, nicht benützt hatte.Er nannte sich selbst einen Narren und gab sich alle Ehrentitel,die ihm gerade einfallen wollten. Er hätte schreienmögen vor Wut. Amy schwatzte ganz vergnügt weiter,indem sie auf und ab gingen, denn ihr Herz war vollSeligkeit, aber Toms Zunge schien gelähmt zu sein. Erhörte gar nicht, was Amy sagte, und so oft sie eine Pausemachte, um seine Antwort abzuwarten, konnte er nurirgend eine tölpelhafte Bemerkung hervorstammeln, diemöglichst oft ganz falsch angebracht war. Immer wiedersuchte er nach der Hinterseite des Schulhauses zu gelangen,um sich an dem verhaßten Anblick zu weiden. Er konntenicht anders. Und es folterte ihn, zu sehen, wie BeckyThatcher gar nicht zu wissen schien, daß er auch noch imLande oder überhaupt unter den Lebenden weile. Indessensah sie ihn sehr wohl; und sie war sich ihres Siegessehr wohl bewußt und sah ihn mit Wollust ebenso leiden,wie sie vorher gelitten hatte.
Amys Glück fing an, unerträglich zu werden. Tomschützte allerlei Angelegenheiten, die er zu erledigen hatte,vor. Er mußte fort, und die Zeit verrann. Aber vergeblich— das Mädel ließ nicht locker. Tom dachte: O,hol sie der Teufel — soll ich sie nie los werden? Schließlichmußte er aber wirklich seine Angelegenheiten besorgen;sie gab ihm arglos das Versprechen, nach derSchule ihm „auflauern“ zu wollen. Und er rannte davon,sie dafür verwünschend.
„Jeder andere Junge!“ dachte Tom, mit den Zähnenknirschend, „jeder andere im ganzen Dorf, nur nicht dieserHeilige, der denkt, weil er sich fein anzieht, ist er ‘n Vornehmer.Na, wart‘ nur! Hab‘ ich dich am ersten Tag,wo du hier warst, geprügelt, mein Kerlchen, werd‘ ich‘sjetzt ja wohl auch noch können! Wart‘ nur, bis ich dichmal tüchtig beim Kragen nehm‘! Möcht‘s gleich tun amliebsten, und —“
Und mit wahrer Wonne prügelte er ‘nen imaginärenJungen durch — in der Luft herumfuchtelnd, stoßend undpuffend.
„Na, wird‘s — wird‘s? Wirst du bald ‚genug‘sagen? So, nu merk‘s dir für ‘n andermal!“
So war der Kampf bald zu seiner Zufriedenheit beendigt.
Tom rannte mittags heim. Sein Gewissen ertrug‘snicht, nochmals Amys dankbare Glückseligkeit anzusehen,und seine Eifersucht erlaubte keine andere Zerstreuung.Becky setzte ihr Bilder-Besehen mit Alfred fort, aber alssich Minute an Minute reihte und kein Tom kam, um sichquälen zu lassen, begann ihr Triumphgefühl sich abzukühlen,und sie verlor das Interesse; Unaufmerksamkeitund Geistesabwesenheit folgten, und dann Melancholie.Ein paarmal fing sie mit dem Gehör Fußtritte auf, aberes war jedesmal vergebliches Hoffen; kein Tom kam.Schließlich wurde ihr ganz elend zumute, und sie wünschte,sie hätte die Sache nicht so weit getrieben. Als der armeAlfred bemerkte, daß sie ihm entschlüpfte, nicht wußte, wie,und fortwährend krampfhaft schrie: „O, hier ist ‘nfamoses! Schau dies mal an!“ verlor sie schließlich dieGeduld und sagte: „Ach was, quäl‘ mich nicht! Hab‘keine Lust mehr dazu!“ brach in Tränen aus, sprang aufund rannte davon.
Alfred trottete nebenher und wollte sie trösten undberuhigen, aber sie sagte:
„Mach, daß du dich fortscherst und laß mich allein,willst du? Ich mag dich gar nicht!“
So blieb der Junge denn zurück, sich wundernd, waser verbrochen haben könne — denn sie hatte ihm dochversprochen, den ganzen Nachmittag Bilder zu besehen —und sie rannte heulend davon. Dann kehrte Alfred betrübtins Schulhaus zurück. Er fühlte sich gedemütigt undbeleidigt. Er fand aber sehr leicht die Wahrheit heraus— das Mädel hatte ganz einfach ihr Spiel mit ihm getrieben,nur um ihren Zorn an Tom Sawyer auszulassen.Er haßte Tom durchaus nicht weniger, als dieser Gedankein ihm aufstieg. Nichts wünschte er mehr, als auf irgendeine Weise diesem Jungen was einzubrocken, ohne selbstwas zu riskieren. Toms Rechtschreibebuch fiel ihm indie Augen. Die Gelegenheit war günstig. Dankbaröffnete er es bei der Lektion für den Nachmittag undgoß Tinte über die Seite. Becky, einen Augenblick hinterihm durchs Fenster schauend, sah es und drückte sich davon,ohne sich zu verraten.
Sie lief nach Haus, in der Absicht, Tom zu suchenund ihm alles zu sagen. Tom würde ihr dankbar sein undaller Zank wäre damit zu Ende. Bevor sie aberden halben Weg zurückgelegt hatte, war sie anderenSinnes geworden. Der Gedanke daran, wie sieTom behandelt hatte, als sie von ihrem Picknicksprach, kam wieder brennend über sie und erfüllte siemit Scham.
Sie beschloß, ihn in der Sache mit dem beschmutztenBuch ruhig in der Patsche stecken zu lassen und ihn obendreinfür immer und ewig zu hassen.
Zwanzigstes Kapitel.
Tom langte in verdrießlichster Laune zu Hause an,und das erste Wort, das Tante Polly an ihn richtete, zeigteihm, daß er seinen Kummer an einen sehr wenig versprechendenOrt getragen habe.
„Tom, ich möchte dir doch gleich die Haut über dieOhren ziehn!“
„Tantchen, was hab‘ ich denn getan?“
„Na, du hast genug getan. Da geh‘ ich altes, einfältigesWeib zur Harper hinüber und denk‘, ich willsie an all den Unsinn vom Träumen glauben machen, undsiehe da — sie hat von Joe herausbekommen, daß du‘rüber gekommen bist und hast alles gehört, was wir inder Nacht gesprochen haben. Tom, ich weiß nicht, wasaus ‘nem Jungen werden soll, der sich so benimmt. ‘smacht mich so traurig, zu denken, daß du mich ruhig zurHarper gehen ließt und so ‘ne Närrin aus mir machenkonntest — ohne ‘n Wort zu sagen.“
Das war nun ‘ne neue Ansicht von der Sache. SeineGerissenheit von heut morgen war Tom als famoser Witzund äußerst genial erschienen. Jetzt erschien sie ihm höchstmittelmäßig und schäbig. Er ließ den Kopf hängen undwußte in diesem Augenblick nicht, was sagen. Dann sagteer schüchtern:
„Tantchen, ich wollt‘, ich hätt‘s nicht getan — aberich dachte nicht dran.“
„Ach, Kind, du denkst eben nie. Du denkst an nichtsals dein eigenes Pläsier. Daran hast du gedacht, denweiten Weg von Jacksons Insel herüber bei Nacht undNebel zu machen, um über unsern Kummer zu lachen, undhast dran gedacht, mich mit ‘ner Lüge von dem Traum zubetrügen, aber daran hast du nicht gedacht, Mitleid zuhaben und uns vor Sorge zu bewahren.“
„Tantchen, ich weiß jetzt, ‘s war gemein, aber ‘s warja nicht meine Absicht, gemein zu sein; auf Ehre, daswar‘s nicht! Und dann — ich bin nicht rüber gekommen,um über euch zu lachen!“
„Warum also bist du gekommen?“
„‘s war, um dir zu sagen, daß du dir keine Sorge zumachen brauchst, weil wir davongelaufen waren.“
„Tom, Tom, ich wäre die dankbarste alte Frau aufder Welt, wenn ich dran glauben könnte, daß du daran gedachthast, aber du weißt, du tatst es nicht, und ich weißes auch, Tom.“
„Aber, gewiß — ganz gewiß, ‘s war so, Tantchen— ich will mich nicht mehr rühren können, wenn‘s nichtso ist!“
„Ach, Tom, lüg‘ nicht — tu‘s nicht! Das macht dieSache nur hundertmal schlimmer.“
„Ich hab‘ aber nicht gelogen, Tante. ‘s ist die Wahrheit!Ich wollt‘ dir den Kummer ersparen — das alleinwar‘s, was mich nach Hause trieb.“
„Die ganze Welt würd‘ ich drum geben, könnt‘ ich‘sglauben! ‘nen ganzen Haufen Dummheiten würd‘ ich dirdafür vergessen, Tom. ‘s war schlimm genug, daß dufortliefst und so schlecht handeltest. Aber, ‘s ist begreiflich.Aber warum sagtest du mir‘s nicht, Tom?“
„Warum? Na — sieh, Tante, als ihr anfingt, vomTrauergottesdienst zu sprechen, kam mir auf einmal dieIdee, ‘rüber zu kommen und mich in der Kirche zu versteckenund da bracht‘ ich‘s nicht fertig, mir das selbst zu verderben.So steckt‘ ich die Rinde wieder in die Tasche undhielt den Mund.“
„Was für ‘ne Rinde?“
„Die Rinde, worauf ich geschrieben hatte, daß wirPiraten geworden seien. Jetzt wollt‘ ich nur, du wärstaufgewacht, als ich dich küßte — auf Ehre, ich wollt‘s!“
Das strenge Gesicht Tante Pollys hellte sich auf undZärtlichkeit zitterte in ihrer Stimme: „Hast du michgeküsst, Tom?“
„Freilich hab‘ ich‘s getan.“
„Weißt du‘s gewiß, daß du‘s tatst?“
„Aber ja, ich tat‘s, Tantchen — ganz gewiß!“
„Warum küßtest du mich, Tom?“
„Weil ich dich lieb hab‘, und du im Schlafen seufztestund ich so traurig war.“
Die Worte klangen wahr. Die alte Dame konnte dasZittern in ihrer Stimme nicht verbergen, als sie sagte:„Küß mich noch mal, Tom! — Und jetzt fort mit dir zurSchule, und ärgere mich nicht wieder.“
Sobald er fort war, rannte sie zum Wandschrank undriß die Ruine der Jacke heraus, in der Tom unter diePiraten gegangen war. Dann hielt sie wieder inne undsagte zu sich: „Nein, ich tu‘s nicht. Armer Junge —ich denke, du hast‘s gelogen — aber ‘s ist ‘ne gesegnete,gesegnete Lüge, ‘s ist was Treuherziges drin. Ich hoffe,der Herr — ich weiß, der Herr wird ihm vergeben,denn ‘s war doch gutherzig von ihm, das zu sagen. Aber,ich will gar nicht wissen, daß es ‘ne Lüge ist. Ich willnicht nachsehn.“
Sie tat die Jacke wieder fort und stand eine Minuteunentschlossen. Zum zweitenmal streckte sie die Hand ausnach dem Kleidungsstück, und zum zweitenmal zogsie sie zurück. Und nochmals griff sie danach, und diesmalermutigte sie sich selbst mit dem Gedanken: „‘s ist ‘negute Lüge — ‘s ist ‘ne gute Lüge — ich will mich nichtdadurch kränken lassen.“ So griff sie in die Tasche derJacke. Einen Moment später las sie unter Tränen TomsSchriftstück und schluchzte: „Jetzt könnt‘ ich dem Jungenvergeben, und wenn er ‘ne Million dummer Streiche gemachthätte.“
Einundzwanzigstes Kapitel.
Es war etwas in Tante Pollys Art, als sie Tomküßte, das seinen betrübten Geist wieder aufrichtete und ihnwieder leichtherzig und glücklich machte. Er rannte zurSchule und hatte das Glück, auf Becky Thatcher zu stoßen.Seine Stimmung wechselte beständig. Ohne einen Augenblickder Überlegung rannte er auf sie zu und sagte: „Hab‘mich heut morgen ganz gemein benommen, Becky, undjetzt bin ich so traurig drüber. Ich will nie, nie wiederso was tun, so lang‘ ich leb‘ — willst du jetzt wiedergut sein?“
Das Mädchen blieb stehen und schaute ihn verächtlichan: „Ich würd‘ dir dankbar sein, wenn du dich um dichselbst kümmern würdst, Herr Thomas Sawyer! Ichwerd‘ nie wieder mit dir sprechen.“
Sie hob stolz den Kopf und spazierte davon. Tomwar so verblüfft, daß er nicht mal Geistesgegenwart genughatte, zu sagen: „Wie‘s beliebt, Jungfer Naseweis,“bis der rechte Augenblick vorüber war. So sagte er garnichts.
Aber er war nichtsdestoweniger in heller Wut. Errannte auf den Schulhof, wünschend, sie wär ‘n Junge,und sich vorstellend, wie er sie durchprügeln wollte,wenn sie einer wär. Er suchte ihr zu begegnen, undals sie vorbeikam, schleuderte er ihr eine bissige Bemerkungzu. Sie gab sie ihm zurück, und der traurige Bruch warvollständig. Becky glaubte, in ihrem Haß kaum abwartenzu können, bis die Schule begönne, so ungeduldigwar sie, Tom seine Prügel für das besudelte Buch bekommenzu sehen. Wenn sie noch ein bißchen gezweifelthatte, ob sie Alfred Temple anzeigen solle, hatte Tomsbeleidigendes Benehmen diese Zweifel endgültig beseitigt.
Armes Mädchen, sie wußte nicht, wie nahe sie selbstsolchem Unglück sei. Der Lehrer, Mr. Dobbins, hegtetrotz seiner mittleren Jahre noch unbefriedigten Ehrgeiz.Sein Lieblingswunsch war gewesen, Doktor zu werden,aber Armut hatte entschieden, daß er nichts weiter werdensolle als ein Dorfschulmeister. Täglich zog er ein geheimnisvollesBuch aus seinem Pult und vertiefte sichdarin, wenn gerade keine der Klassen aufsagte. Er hieltdas Buch unter sicherem Verschluß. Nicht ein Bengelwar in der Schule, der nicht darauf gebrannt hätte, einenBlick hineinzuwerfen, aber es bot sich niemals eine Gelegenheit.Alle Buben und Mädel hatten ihre eigeneAnsicht über den Inhalt des Buches; aber nicht zwei Ansichtenstimmten überein, und es gab kein Mittel, dieseStreitfrage zu entscheiden. Jetzt, als Becky am Pult vorbeikam,das nahe der Tür stand, sah sie, daß der Schlüsselsteckte. ‘s war ein wundervoller Moment. Sie schauteum sich, sah sich allein und im nächsten Augenblick hielt siedas Buch in der Hand. Das Titelblatt — „Anatomievon Professor Irgendwer“ — brachte ihr keine Aufklärung.So begann sie die Blätter umzuwenden. Plötzlich stießsie auf eine hübsche gestochene und übermalte Abbildung— eine menschliche Figur. In dem Augenblick fiel einSchatten aufs Papier, und Tom kam ins Zimmer geranntund gewahrte ein Eckchen der Abbildung. Beckyhielt das Buch rasch beiseite, wollte es zumachen und hattedas Unglück, das Bild bis fast zur Mitte durchzureißen.Sie warf das Buch ins Pult, drehte den Schlüssel umund rannte davon, vor Wut und Schrecken schreiend:„Tom Sawyer, du bist doch so gemein wie nur möglich,jemand so zu erschrecken und zu sehen, was man dagrad hat!“
„Aber, wie konnt‘ ich denn wissen, daß du da wasbesehen hast?“
„Du solltest dich vor dir selbst schämen, Tom Sawyer!Du weißt wohl, daß du mir aufgepaßt hast! Ach Gott,was soll ich tun, was soll ich tun! Ich werd‘ geprügelt,und ich bin noch nie — mals geprügelt worden in derSchule —“ Dann stampfte sie mit ihrem kleinen Fußund heulte: „Sei so gemein, wenn du willst! Ich weißauch was, was du kriegst! Wart nur, wirst‘s schon sehn!Scheußlich!“ Und sie rannte aus der Tür, unter einerneuen Flut von Tränen.
Tom stand still, ganz erstaunt über diesen Ausbruch.Dann sagte er zu sich: „Was für ‘n sonderbares Stückvon ‘ner Närrin so ‘n Mädel ist. Niemals geprügelt inder Schule! Gott, was sind Prügel! Das ist recht so ‘nMädel — alle sind sie dünnhäutig und schwachherzig. Na,ich werd‘ nicht hingehn und diese Närrin beim alten Dobbinsverklatschen, aber ‘s kommt auf irgend ‘ne andere Artja doch raus; na, was geht‘s mich an? Der alte Dobbinswird fragen, wer das Buch zerrissen hat. ‘s wird‘s niemandsagen. Dann fragt er der Reihe nach, wie er‘simmer tut — fragt die erste und dann so weiter, und dann,wenn er ans rechte Mädel kommt, weiß er‘s, ohne daßsie‘s sagt. Die Mädel verraten sich ja immer! Sie habenauch gar keinen Schneid. Sie verrät sich gleich. Na, ‘sist ‘ne nette Patsche für Becky Thatcher, ‘s gibt kein Mittel,da raus zu kommen.“ Tom dachte noch einen Augenblickdarüber nach und fügte dann hinzu: „Na, meinetwegen;‘s wird ihr Spaß machen, mich in so ‘ner Patschestecken zu sehn — mag sie‘s auch mal ausbaden!“
Tom begab sich wieder zu der Gesellschaft spektakelnderJungen draußen. Bald kam der Lehrer und dieSchule begann. Tom fühlte kein besonderes Interessefürs Studium. Fortwährend schielte er auf die Mädchenseite,Beckys Gesicht störte ihn. Alles in allem,fühlte er kein Mitleid mit ihr und dann konnte er ihrja auch nicht helfen. Aber er konnte auch keine rechteSchadenfreude, die diesen Namen wirklich verdient hätte,auftreiben.
Plötzlich wurden die Tintenkleckse in seinem Bucheentdeckt, und jetzt war sein Geist mit seinen eigenen Angelegenheitenbeschäftigt. Becky fuhr aus ihrer Zerstreutheitauf und verfolgte mit großem Interesse die weitereEntwickelung. Sie glaubte nicht, daß sich Tom herausredenkönne, und sie hatte recht. Das Leugnen schien dieSache für Tom nur schlimmer zu machen. Becky bemühtesich nach Kräften, sich drüber zu freuen, und versuchte auch,zu glauben, daß sie sich drüber freue, aber sie fand, daßes doch nicht so ganz gewiß sei. Als die Situation ganzkritisch wurde, fühlte sie die Versuchung, aufzuspringen undAlfred Temple anzuzeigen, aber sie machte eine Anstrengungund bezwang sich, zu schweigen, denn, sagte sie zusich: „Er wird mich mit dem Bild anzeigen, ganz gewiß.Ich würd‘ kein Wort sagen, und könnt‘ ich sein Lebenretten.“
Tom nahm seine Prügel in Empfang und ging aufseinen Platz zurück, nicht so ganz mit gebrochenem Herzen,denn er sagte sich, es wäre möglich, daß er selbst die Tinteüber das Buch gegossen habe, ohne es zu wissen — inGedanken; geleugnet hatte er nur der Form wegen undweil‘s mal so Sitte war, und beim Leugnen gebliebenwar er aus Prinzip.
Eine ganze Stunde schlich herum; der Lehrer saßnickend auf seinem Thron, die Luft wurde nur von demGemurmel der Lernenden bewegt. Allmählich richtete sichMr. Dobbins auf, gähnte, schaute in seinem Reiche umherund griff nach seinem Buch, schien aber unentschlossen,ob er es herausnehmen oder liegen lassen solle. Die meistenAugen leuchteten schwach auf, aber zwei waren unter denKindern, welche alle seine Bewegungen mit Interesse verfolgten.Mr. Dobbins fingerte ein paar Augenblicke inGedanken am Buche herum, dann nahm er‘s heraus undsetzte sich im Stuhl zurecht, um zu lesen.
Tom schielte auf Becky. Er fing einen suchenden, hilflosen,furchtsamen Blick auf, der wie eine Kugel sein Herzdurchbohrte. Sofort vergaß er seinen Streit mit ihr.Ruhig — etwas mußte geschehen! und zwar sofort geschehen!Aber seine Tatkraft wurde durch die Unmittelbarkeitder Gefahr gelähmt. Gott — er hatte eine Idee!Er wollte hinstürzen, das Buch ergreifen, aus der Türrennen und fort! Aber er zauderte einen einzigen Moment,und die Gelegenheit war vorbei — der Lehreröffnete das Buch. Hätte Tom doch die Gelegenheit nochmals zurückrufen können! Zu spät — er wußte, für Beckygab‘s keine Rettung mehr! Im nächsten Augenblick hatteder Lehrer das Verbrechen entdeckt. Jedes Auge senktesich unter seinem starren Blick. Es lag etwas darin, wasauch den Unschuldigsten mit Furcht erfüllte. Stillschweigenherrschte, daß man hätte bis wenigstens zehn zählenkönnen. Der Lehrer wurde beständig zorniger. Nunfragte er: „Wer zerriß dieses Buch?“
Kein Ton. Man hätte eine Stecknadel fallen hören.Das Stillschweigen dauerte fort. Der Lehrer prüfte einGesicht nach dem anderen auf etwaiges Schuldbewußtseinhin.
„Benjamin Rogers, zerrissest du dieses Buch?“
Kopfschütteln. Neue Pause.
„Josef Harper, tatest du es?“
Wiederum Kopfschütteln. Toms Unruhe wurdegrößer und größer unter der langsamen Tortur dieses Vorgehens.Der Lehrer betrachtete prüfend die Bänke derKnaben eine Weile, dann wandte er sich zu den Mädchen:
„Amy Lawrence?“
Kopfschütteln.
„Gracie Miller?“
Dasselbe Zeichen.
„Susan Harper, tatest du dies?“
Wiederum Verneinung. Das nächste Mädchen warBecky Thatcher. Tom zitterte von Kopf bis zu Fuß vorAufregung und dem Gefühl der Machtlosigkeit.
„Rebekka Thatcher“ — (Tom schielte auf ihr Gesicht,es war weiß vor Schreck) — „zerrissest du — nein, siehmir ins Gesicht“ — (ihre Hände erhoben sich bittend) „zerrissestdu dieses Buch?“
Ein Gedanke schoß gleich einer Erleuchtung durchToms Hirn. Er sprang auf die Füße und rief: „Ichtat‘s! —“
Die ganze Schule war starr vor Staunen über solcheKühnheit. Tom stand einen Moment unbeweglich, umseine Lebensgeister zu sammeln; und als er vorschritt,seine Prügel in Empfang zu nehmen, schienen ihm Überraschung,Dankbarkeit, Anbetung, die aus den Augen derarmen Becky zu ihm sprachen, Lohn genug für hundertTrachten Prügel. Begeistert durch den Glanz seinereigenen Tat, nahm er ohne einen einzigen Schrei die saftigstenPrügel entgegen, die Mr. Dobbins jemals ausgeteilthatte; ebenso gleichgültig empfing er die grausameVerschärfung der Strafe durch Zuerteilung von zweiStunden Arrest — denn er wußte, wer draußen auf ihnwarten würde, bis seine Gefangenschaft vorüber sei.
Tom ging an diesem Abend zu Bett voll Rachegedankengegen Alfred Temple; denn voll Scham undReue hatte Becky ihm alles gesagt, ihre eigene Verrätereinicht vergessend. Aber selbst das Verlangen nach Rachemußte bald weicheren Gefühlen weichen, und er schlief ein,Beckys letzte Worte als süße Musik in seinen Ohren:
„Tom, wie konntest du so edel sein!“
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Die Ferien nahten heran. Der Lehrer, immer streng,wurde jetzt noch strenger und genauer, denn er wollte sicham Examenstage mit seiner Schule von der besten Seitezeigen. Rute und Lineal kamen jetzt selten zur Ruhe —besonders bei den kleinen Burschen. Nur die größtenJungen und die jungen Damen von achtzehn bis zwanzigkamen ohne Prügel davon.
Und Mr. Dobbins‘ Prügel waren noch dazu ganzausgesucht. Denn obwohl er unter seiner Perücke einenvollkommen kahlen und glänzenden Schädel barg, stand erdoch erst in mittleren Jahren und fühlte durchaus nochkeine Schwäche in seinen Muskeln. Als der große Tagherannahte, trat alle Tyrannei, die in ihm war, zutage;er schien ein grausames Vergnügen daran zu finden, daskleinste Verbrechen zu bestrafen. Die Folge davon war,daß auch die kleinsten Burschen ihre Tage in Schreckenund Angst verbrachten, ihre Nächte in finsterem Rachebrüten.Sie ließen sich keine Gelegenheit entgehen, demLehrer einen Streich zu spielen. Aber er blieb stets Sieger.Die Vergeltung, welche jeder Rachetat folgte, war so ausgiebigund großartig, daß die Jungen stets schmählichgeschlagen den Kampfplatz verließen. Schließlich zetteltensie eine gemeinsame Verschwörung an und heckten einenPlan aus, der einen blendenden Erfolg versprach. Sie entdecktensich dem Anstreicherlehrling, setzten ihm ihre Ideeauseinander und forderten seine Beihilfe. Der hatte seineeigenen Gründe, davon entzückt zu sein, denn der Lehrerwohnte in seines Vaters Familie und hatte ihm hinreichendAnlaß gegeben, ihn zu hassen. Des Lehrers Frau wolltein wenigen Tagen zu einem Besuch aufs Land gehen, undso stand der Ausführung des Planes nichts entgegen. DerLehrer pflegte sich für große Gelegenheiten dadurch vorzubereiten,daß er sich einen hübschen kleinen Rausch zulegte,und der Anstreicherlehrling sagte, daß, wenn am Examenstagedes Lehrers Zustand die rechte Höhe erreicht habenwürde, er die Sache schon machen wolle, während jenerseinen Nicker mache; er wolle ihn dann noch eben zurrechten Zeit wecken und zur Schule expedieren.
Als die Zeit erfüllet war, trat dann das interessanteEreignis ein. Um acht Uhr des Abends war das Schulhausfestlich erleuchtet und mit Girlanden und Festonsvon Papier und Blumen geschmückt. Der Lehrer throntein seinem großen Sessel auf einem erhöhten Podium, dieschwarze Tafel hinter sich. Er sah leidlich angeheitert aus.Zwei Reihen Bänke auf jeder Seite und sechs ihm gegenüberwurden durch die Würdenträger des Ortes und dieEltern der kleinen Gesellschaft eingenommen. Zu seinerLinken, hinter den Reihen der Erwachsenen, war für dieseGelegenheit eine geräumige Plattform aufgestellt, auf derdie Schüler saßen, die an den Übungen des Abends teilnehmensollten. Reihen von kleinen Stöpseln zu einemhöchst unleidlichen Zustand des Mißbehagens zurecht gewaschenund angezogen; Reihen von tölpelhaften größerenJungen; weiß-strahlende Bänke von Mädchen und jungenDamen, in Leinen und Musselin gekleidet und augenscheinlichstolz auf ihre nackten Arme, ihren von der Großmamageerbten Schmuck, ihr Spitzwerk von rotem und blauemBand, und die Blumen in ihrem Haar. Der Rest desSaales war von unbeteiligten Schülern und Schülerinnenangefüllt.
Die Prüfung begann. Ein sehr kleiner Bengel standauf und deklamierte mit schafsmäßigem Gesicht:
Kaum glaubt ihr, daß so‘n kleiner Mann
Hier vor euch stehn und sprechen kann — usw.
sich selbst mit den peinlich abgemessenen, krampfhaften Bewegungenbegleitend, wie sie eine Maschine gemacht habenwürde — noch dazu eine etwas aus der Ordnung gerateneMaschine. Aber er schlüpfte leidlich, wenn auch zu Todegeängstigt, durch und erhielt ‘ne hübsche Menge Applaus,als er seine gezwungene Verbeugung produzierte und sichzurückzog.
Ein kleines, verschämtes Mädchen lispelte darauf:„Mary hat ein kleines Lamm“ usw., machte einen mitleiderregendenKnicks, erhielt ebenfalls ihren Anteil am Beifallund setzte sich, hochrot und glücklich.
Jetzt trat Tom mit gemachter Zuversicht vor und begannmit donnerndem Pathos das unverwüstliche „Gibmir Freiheit oder Tod —“ unter wilden, wahnwitzigenGebärden zu deklamieren — und blieb in der Mitte stecken.Lähmende Angst packte ihn, die Knie zitterten unter ihm,er war nahe daran, zu ersticken. Es ist wahr, er hatte desHauses Sympathie für sich, aber auch des Hauses Schweigen,was ebenso schwer wog wie jene. Der Lehrer runzeltedie Stirn, und das vervollständigte seine Verwirrung.
Tom kämpfte noch ‘ne Weile und dann marschierte erab, völlig geschlagen. Ein schwacher Versuch des Beifallserstarb bald wieder.
Es folgte: „Der Knabe stand auf brennendem Deck“,„Hernieder kam einst Assurs Macht“ und andere deklamatorischePerlen. Dann wurden Leseübungen sowie einBuchstabier-Gefecht vorgeführt. Die kleine Lateinklasse bestandmit Ehren. Der Hauptschlager des Abends kamjedoch jetzt erst, die „Originalaufsätze“ der jungen Damen.Der Reihe nach trippelten sie vor bis zum Rand der Plattform,räusperten sich, hoben ihr Manuskript (von einemzierlichen Band zusammengehalten) und begannen mitlobenswerter Beachtung des Ausdrucks und der Satzzeichenzu lesen. Die Themata waren dieselben, die beiähnlichen Gelegenheiten vor ihnen von ihren Mamas,Großmamas und zweifellos all ihren weiblichen Vorfahrenbis zurück zu den Kreuzzügen, gewählt wordenwaren. „Freundschaft“ hieß eins, „Erinnerungen früherTage“ ein anderes; dann „Die Religion in der Geschichte“,„Das Land der Träume“, „Die Vorteile der Kultur“,„Vergleiche der politischen Staatsformen“, „Melancholie“,„Letzte Liebe“, „Wünsche des Herzens“ usw.
Ein vorwiegender Zug in all diesen Aufsätzen wareine erzwungene, aufdringliche Schwermut; ein andererverschwenderischer Gebrauch hochtrabender, geschwollenerRedensarten; ferner die Manier, Worte und Bilder zuTode zu hetzen; was sie aber ganz besonders unerträglichmachte, waren die unleidlichen, salbungsvollen Moralpauken,womit jeder, aber auch jeder abschloß.
Was auch der Gegenstand sein mochte, jedesmal gab‘sschließlich die krampfhaftesten Anstrengungen, ihn in solcheBetrachtungen auslaufen zu lassen, damit Tugend undFrömmigkeit der Verfasserin nur ja gehörig ins rechteLicht gerückt würden. Die offenbare Verlogenheit dieserMachwerke war aber doch nicht imstande, Widerwillengegen derartige Verwirrungen des Schulunterrichts zuerzeugen, und ist es überhaupt heutzutage nicht; wahrscheinlichwar es überhaupt immer so, solange die Weltsteht. Es gibt einfach keine Schule unseres Landes, wosich die jungen Mädchen nicht verpflichtet fühlen, ihre Aufsätzemit solch einem Sermon zu schließen. Und man wirdfinden, daß die Sermone der verlogensten und am wenigstenwirklich religiösen Mädchen immer und ausnahmslosdie längsten und frömmsten sind. Aber genug davon. EinProphet gilt ja nichts in seinem Vaterlande. Kehren wirzum Examen zurück. Der erste der vorgelesenen Aufsätzebetitelte sich: „Ist dies das Leben?“ Vielleicht kann derLeser einen Auszug daraus vertragen.
„Mit welch überschwenglichen Gefühlen pflegt derjugendliche Geist vorwärts auf all die zu erwartendenFreudenfeste des Lebens zu schauen! Die Einbildungskraftist geschäftig, rosig gefärbte Bilder der Freude zumalen. Im Geiste sieht sie sich als Günstling desGlückes, sieht sie sich inmitten strahlender Festlichkeiten,„die Siegerin aller Siegerinnen“. Ihre reizende Figur,in entzückende Kleider gehüllt, wirbelt durch alle Irrwegeberauschender Tänze. Ihr Auge ist das glänzendste,ihr Fuß der leichteste in der ganzen jugendschönen Gesellschaft.In solch entzückenden Träumen rinnt die Zeitrasch und angenehm dahin, und die ersehnte Stundeihres Eintrittes in die ersehnte Welt, von der sie sovielversprechend geschwärmt hat, schlägt. Wie märchenhafterscheint alles ihren entzückten Blicken! Jedes neueErlebnis scheint ihr schöner als das letzte. Aber baldfindet sie, daß unter dieser verlockenden Hülle alles leerund schal ist. Schmeichelei, die einst ihren Stolz kitzelte,wirkt jetzt verletzend auf ihr Ohr. Der Ballsaal hatseinen Reiz eingebüßt; und mit verwüsteter Gesundheitund gebrochenem Herzen wendet sie sich ab, in demBewußtsein, daß irdische Freuden die Bedürfnisse derSeele nicht befriedigen können!“
Und so weiter, und so weiter. Von Zeit zu Zeit,während der Vorlesung, gab es kurzes Beifallsklatschen,von leise geflüsterten Ausrufen, wie: „Wie süß!“ „Äußerstgewandt!“ „So wahr!“ usw. begleitet, und nachdem dieSache mit einer besonders niederschmetternden moralischenNutzanwendung beendet war, war der Applaus geradezuenthusiastisch.
Worauf ein schmächtiges, melancholisches Mädchen,dessen Gesicht die interessante Blässe besaß, die vonPillen und schlechter Verdauung herrührt, vortrat und einsogenanntes Gedicht vorlas. Zwei Verse davon werdengenügen.
Abschied eines Missouri-Mädchens von Alabama
„Leb wohl, Alabama! Wie liebe ich dich!
Doch jetzt für ‘ne Weile muß meiden ich dich!
Die Trauer um dich erfaßt mich mit Macht,
Sie hat mich um alle Freude gebracht!
Deine blühenden Wälder, wie oft sah ich sie,
Die Ströme und Seen — ich vergesse sie nie!
Ich lauschte so gerne dem Rauschen der Flut
Und frischte mich auf in Auroras Glut.
Warum verbergen mein übervoll Herz?
Warum nicht zeigen den brennenden Schmerz!
Ich scheide ja nicht aus fremdem Land,
Ich reich‘ ja nur Freunden die scheidende Hand!
hier war ich zu Hause, hier liebte man mich,
Du Tal meiner Heimat, nun meide ich dich!
Und wenn sie dich schmähen, die nie dich gekannt,
So muß ich verstummen — mein teures Land!!“
Eine dunkelhäutige, schwarzäugige und schwarzhaarigejunge Dame war die nächste, machte eine ausdrucksvollePause, nahm eine tragische Pose ein und begann ingehaltenem Ton zu lesen.
Eine Vision
„Dunkel und stürmisch war die Nacht. Am ganzenHimmelszelt glänzte nicht ein einziger Stern, aber derdumpfe, tiefe Ton des rollenden Donners zitterte beständigim Ohr, während schreckliche Blitze in unheimlichenWindungen durch die dunklen Himmelsräume fuhren;und sie schienen die Gewalt zu verspotten, die sich derberühmte Franklin über sie angemaßt hat! Auch dieungestümen Winde fuhren unaufhörlich aus ihrer geheimnisvollenHeimat daher und fuhren herum, alswären sie gerufen worden, um die schreckliche Szenenoch schrecklicher zu machen. In solchem Augenblick, sodunkel, so traurig, sehnte sich mein Geist, ach, so sehr nachmenschlicher Sympathie; und
„Da plötzlich, ein Wunder, sie neben mir stand,
Die Freundin im Kummer, mit tröstender Hand!“
Sie schwebte gleich einer jener Lichtgestalten, die inihrem Sonnenflug die romantische Phantasie derJugend malt, daher, eine Königin der Schönheit, nurmit ihrer eigenen überirdischen Lieblichkeit bekleidet. Soleicht war ihr Tritt, er schien kein Geräusch hervorzubringen,und ich empfand ihre Gegenwart nur durchden magischen Schauer, der mich bei ihrer Berührungdurchrieselte — sonst wäre sie gleich anderen körperlichenSchönheiten unbemerkt, ungesehen entschwebt. StrengeTrauer lag auf ihren Zügen, gleich eisigen Tränen aufdem Gewande des Dezember, als sie auf die kämpfendenElemente draußen wies und mich aufforderte, diezwei Wesen zu betrachten.“
Zehn Seiten Manuskript waren mit diesem nächtlichenGeisterspuk bedeckt, und sie schlossen mit einem sosehr alle Hoffnungen für jeden Nichtkirchlichgesinnten vernichtendenSermon, daß die Arbeit den ersten Preis erhielt.
Der Aufsatz wurde für die ausgezeichnetste Arbeit desAbends erklärt. Der Bürgermeister hielt, indem er derSiegerin den Preis überreichte, eine warme Ansprache,worin er sagte, es wäre weitaus „das beredsamste Ding,das er je gehört habe, und Daniel Webster selbst könntesehr wohl darauf stolz sein.“
Beiläufig möge bemerkt werden, daß die Zahl derArbeiten, in denen das Wort „wundervoll“ überwog, undmenschliche Erfahrung „eine Seite des Lebens“ genanntwurde, die übliche Höhe erreichte.
Nunmehr schob der Lehrer, allmählich bis an dieGrenze der Möglichkeit angeheitert, seinen Stuhl beiseite,zeigte dem Publikum seinen Rücken und machte sich dran,eine Karte von Amerika an die Wandtafel zu malen, umdie Geographieklasse vorzunehmen. Es wollte ihm aberbei seiner unsicheren Hand nicht gelingen, und ein unterdrücktes Kichern lief durch den Saal. Er wußte, was dieUhr geschlagen hatte, und nahm sich tüchtig zusammen.Er wischte die Linien aus und zog sie nochmals. Aberer machte es diesmal noch schlechter als vorher, und dasKichern wurde lauter. Er nahm sich jetzt innerlich an denOhren, wandte seine ganze Aufmerksamkeit auf die Arbeit,als gelte es, sich nicht von der allgemeinen Heiterkeitunterkriegen zu lassen. Er fühlte, daß aller Augen anihm hingen. Er bildete sich ein, daß es ihm diesmal gelänge,und jetzt nahm das Kichern noch mehr, es nahmganz zweifellos zu. Und es war kein Wunder.
Es gab da eine Dachstube, die gerade über seinemKopf durch eine Falltür verschlossen war. Durch dieseFalltür erschien eine Katze, an einem um ihren Leib gelegtenStrick gehalten. Ein Tuch war ihr über den Kopfgebunden, damit sie nicht schreien sollte. Indem sie langsamheruntergelassen wurde, wand sie sich aufwärts undgriff nach dem Seil, wand sie sich nach unten und griff indie leere Luft. Das Kichern wurde stärker und stärker, dieKatze war keine sechs Zoll mehr vom Kopf des geistesabwesendenLehrers entfernt; tiefer, tiefer, noch ein bißchen,und sie schlug ihre Krallen in verzweifelter Wut indie Perücke, und wurde im nächsten Moment mit ihrerTrophäe in die Dachstube zurückgezogen. Und welcherGlanz von des Lehrers kahlem Schädel ausging, den derAnstreicherlehrling goldig gefärbt hatte!
Das hob die Versammlung auf. Die Jungen warengerächt — die Ferien da!
(Anmerkung. Die oben angeführten anspruchsvollen „Aufsätze“ sind ohnejede Änderung einem Buche entnommen, betitelt „Prosa und Poesie, von einerDame des Westens“, sind aber genau nach der Schulmädelmanier gemacht unddaher viel glücklichere Beispiele, als irgendwelche Nachbildungen hätten sein können.)
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Tom schloß sich dem neuen Orden der „Kadetten derEnthaltsamkeit“ an, angezogen durch die glänzende Prachtihrer „Uniform“. Er versprach, sich des Rauchens, Tabakkauensund Fluchens, so lange er Mitglied des Vereins seinwürde, zu enthalten. Dabei machte er eine Entdeckung, nämlich,daß das Versprechen, etwas nicht zu tun, das sichersteMittel von der Welt sei, einen in Versuchung zu bringen,hinzugehen und es gerade zu tun. Tom empfand sehr balddas glühende Verlangen, zu trinken und zu fluchen; derWunsch wurde bald so stark, daß nichts als die Aussicht,mit seiner roten Schärpe prunken zu können, imstande gewesenwäre, ihn von dem Wiederaustritt aus dem Ordenabzuhalten. Der vierte Juli [Anmerkung: Der 4. Juli 1776 ist der Tag der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten.] stand nahe bevor. Baldaber gab er es auf — gab es auf, ehe er seine Fesselnvolle 48 Stunden getragen hatte, um seine Aufmerksamkeitdem alten Richter Frazer, dem Friedensrichter, zuzuwenden,der augenscheinlich auf dem Totenbett lag undgewiß ein großartiges öffentliches Begräbnis bekommenwürde, da er doch ein so hoher Beamter war. Währenddreier Tage war Tom ganz von des Richters Befindeneingenommen und hungrig nach Neuigkeiten darüber.Manchmal stieg seine Hoffnung so hoch, daß er draufund dran war, seine Uniform hervorzuholen und vor demSpiegel darin Probe zu halten. Aber der Richter hatteeine abscheuliche Art, sich zu besinnen. Schließlich wurdeer besser und schließlich Rekonvaleszent. Tom war sehr verstimmtund fühlte sich obendrein beleidigt. Schließlich„resignierte“ er und in der nächsten Nacht bekam der Richtereinen Rückfall und starb. Tom nahm sich vor, insolchen Dingen keinem Menschen mehr zu trauen. DasBegräbnis war großartig. Die Kadetten paradierten aufeine Art, die geeignet war, das bisherige Mitglied vorNeid umkommen zu lassen.
Indessen war Tom wieder ein freier Bursch. Daswar das Gute dran. Er konnte trinken und fluchen, fandaber zu seiner Überraschung, daß er gar keine Lust dazuhatte. Die bloße Tatsache, daß er‘s durfte, nahm ihmden Wunsch dazu und machte die Sache reizlos.
Tom machte plötzlich die überraschende Bemerkung,daß die ersehnten Ferien anfingen, ihn zu langweilen. Erbegann ein Tagebuch, aber da sich innerhalb dreier Tagenichts ereignete, so gab er‘s wieder auf.
Dann kam die erste schwarze Sängergesellschaft insDorf und erregte Aufsehen. Tom und Joe Harper tratenin Verbindung mit der Bande und waren für zwei Tageglücklich.
Selbst der berühmte Vierte war in gewissem Sinneeine Enttäuschung, denn es regnete stark; infolgedessenfand kein Umzug statt, und der größte Mann der Welt(wie Tom glaubte), Mr. Benton, ein Senator der VereinigtenStaaten, bereitete ihm eine niederschmetterndeEnttäuschung, denn er war nicht 25 Fuß hoch, auch nichteinmal annähernd.
Ein Zirkus kam. Die Jungen spielten drei TageZirkus in Zelten, die aus zerlumpten Teppichen bestanden,— Entree: drei Penny für Jungen, zwei für Mädchen —und dann wurde das Zirkusspielen langweilig.
Ein Phrenologe und ein Taschenspieler kamen — undgingen wieder und ließen das Dorf langweiliger und öderzurück, als es vorher gewesen war.
Becky Thatcher war nach ihrem KonstantinopelerHause gereist, um während der Ferien bei ihren Elterndort zu bleiben — so hatte denn das Leben keine einzigeLichtseite mehr.
Das schreckliche Geheimnis des Mordes genoß immernoch trauriges Interesse. Es war ein Gegenstand beständigerAufregung.
Dann kamen die Masern.
Während zweier langen Wochen lag Tom als Gefangener,tot für die Welt und ihr Treiben. Er war sehr krank,gleichgültig gegen alles. Als er wieder auf den Füßenwar und noch ganz schwach durch das Dorf wankte, wareine traurige Veränderung mit allen Dingen und Lebewesenvorgegangen. Es hatte eine „Wiedergeburt“ stattgefunden,und alles war „fromm geworden“, nicht nurdie Erwachsenen, sondern auch die Buben und Mädel.Tom strich herum, in der Hoffnung, auf ein Gesicht, dasin seiner Sündhaftigkeit sich wohl fühle, zu stoßen. Erfand Joe Harper in der Bibel lesend und floh traurigvor solchem niederdrückenden Schauspiel. Er suchte BenRogers und traf ihn, wie er die Armen mit einem Korbvoll Traktätchen heimsuchte. Darauf fahndete er auf JimHollis, der ihm zeigte, wie seine wunderbare Errettungvon den Masern eine Warnung sei. Jeder einzelneJunge, mit dem er zusammenkam, trug das Seinige dazubei, ihn vollends niedergeschlagen zu machen; und als erin voller Verzweiflung davonrannte, um am Busen HuckFinns Zuflucht zu suchen — und mit einem Bibelspruchempfangen wurde, brach sein Herz, er kroch nach Hauseund zu Bett, in der Überzeugung, daß er allein von demganzen Dorfe verloren, für immer und ewig verloren sei.
Und in der Nacht setzte es einen schrecklichen Sturm,der den Regen vor sich hertrieb, mit furchtbaren Donnerschlägenund blendenden Blitzen. Er steckte den Kopf unterdie Bettdecke und erwartete in ängstlicher Ungewißheitsein Schicksal; denn ihm kam nicht ein Schatten von Zweifel,daß dieses ganze Donnerwetter ihm gelte. Er glaubte,die Geduld der himmlischen Mächte allzuhoch taxiert zuhaben — und dies war die Folge davon. Es würde ihmals lächerliche Kraftverschwendung erschienen sein, eineWanze mit Kanonen töten zu wollen, aber das schien ihmdoch noch nichts, wenn er bedachte, daß ein so schrecklichesGewitter nötig sein sollte, um ein Insekt gleich ihm zu vernichten.
Allmählich tobte sich der Sturm aus und legte sichganz, ohne seinen Zweck erfüllt zu haben. Der erste AntriebToms war, dankbar zu sein und sich zu bessern. Seinzweiter war, zu warten — denn vielleicht würde sobaldkein Unwetter wieder losbrechen.
Am anderen Tage war der Doktor wieder da. Tomhatte einen Rückfall. Die drei Wochen, die er so stillliegen mußte, schienen ihm ein ganzes Menschenalter. Alser schließlich doch wieder aufstand, war er kaum dankbar,daß er geschont worden war, da er sich sagen mußte, wieeinsam er sei, wie freundlos und verlassen. Zwecklosstrich er durch die Gassen und fand Jim Hollis in einemjugendlichen Gerichtshof, der eine Katze als Mörderin verurteilensollte, den Richter machend. Das Opfer, einVogel, lag dabei. Joe Harper und Huck Finn traf erspazieren gehend und eine gestohlene Melone verzehrend.Arme Jungen — sie hatten, wie Tom, einen Rückfall zuerdulden.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Schließlich wurde die brütende Langeweile ein bißchenaufgestört und erfrischt. Der Mordprozeß kam vorGericht. Er wurde sofort der alleinige Gegenstand desGesprächs. Tom konnte es kaum aushalten. Jede Erwähnungdes Mörders jagte ihm einen Schauer durchdie Glieder, denn sein bedrücktes Gewissen und seine Furchtmachten ihm weis, daß alle diese Bemerkungen „Fühler“sein sollten und auf ihn berechnet. Zwar wußte er durchausnicht, wie ein Verdacht, etwas über den Mord zuwissen, sollte auf ihn fallen können, trotzdem aber konnteer sich inmitten all des Geklatsches nicht behaglich fühlen.Kalte Schauer schüttelten ihn beständig.
Er schleppte Huck an ein einsames Plätzchen, um sichmit ihm mal darüber auszusprechen. Es würde für ‘neWeile doch eine Erleichterung sein, seiner Zunge malfreien Lauf gelassen zu haben, die Last seines Kummersmit einem Leidensgefährten zu teilen. Vor allem aberwollte er sich versichern, daß Huck reinen Mund gehaltenhabe.
„Huck, hast du jemals darüber gesprochen?“
„Worüber?“
„Na — du weißt schon!“
„Ach so — na, gewiß nicht!“
„Kein Wort?“
„Zum Teufel, auch nicht ‘s kleinste Wort! Warumfragst du?“
„Na, ich hatt‘ halt Angst!“
„Weißt du, Tom Sawyer, wir würden keine zweiTage mehr haben, wenn das raus käm‘! Du weißt doch?“
Tom wurde behaglicher zumute. Nach einer Pausesagte er: „Du, Huck, ‘s wird dich niemand zwingenkönnen, was zu verraten, he?“
„Mich zwingen? Na, wenn ich wollt‘, daß der Halbindianer-Teufelmir den Hals umdrehte, dann könntensie mich zwingen, zu schwatzen.“
„Na, ‘s ist schon gut. Denk auch, daß wir sichersind, so lang‘ wir reinen Mund halten. Aber laß unsnochmal schwören. ‘s ist sicherer!“
„Meinetwegen.“
So schwuren sie nochmals die schrecklichsten Eide.
„Was wird denn eigentlich geschwatzt, Huck? Ichhab‘ so viel durch‘nander gehört!“
„Schwatzen? Na, ‘s ist immer Muff Potter, MuffPotter, Muff Potter. Jedesmal gerat‘ ich ordentlich inSchweiß, daß ich gleich davonlaufen möcht‘!“
„‘s ist grad so wie bei mir. Ich denk‘ wohl, daß er‘n Gauner ist. Hast du zuweilen Mitleid mit ihm?“
„Fast immer — fast immer. Er taugt ja nicht viel;aber er hat doch nie was getan, um jemand zu verletzen.Er stiehlt wohl zuweilen Fische, um Geld für Branntweinzu kriegen — und treibt sich beständig herum; aber, HerrGott, das tun wir doch alle — oder wenigstens die meisten— auch die Prediger und solche Leute. Aber er ist doch‘n guter Kerl — er gab mir mal ‘n halben Fisch, wo‘s dochnicht genug war für zwei, und oft genug war er freundlichgegen mich und half mir, wenn ich in ‘ner Patsche saß.“
„Ja, und mir hat er Drachen gemacht, Huck, undAngelhaken. — Wollt, wir könnten ihm raushelfen —“
„Lieber Gott, Tom, wir können ihm nicht ‘raushelfen.Und dann — ‘s wär‘ auch gar nicht gut; sie kriegten ihndoch wieder.“
„Ja — das täten sie. Aber ich kann‘s nicht hören,daß sie auf ihn schimpfen wie auf ‘nen Teufel, wo er‘s dochgar nicht getan hat.“
„Ich auch, Tom! Gott, ich hört‘, wie einer sagte, erist der blutgierigste Lump im ganzen Land, und sie wundertensich nur, daß er noch nicht aufgeknüpft ist.“
„Ja, das sagen sie immer. Ich hab‘ gehört, siewollten ihn lynchen, wenn er freikäm‘.“
„Und das täten sie auch.“
Die Jungen schwatzten noch lange, aber es brachteihnen wenig Befreiung. Als das Zwielicht anbrach, fandensie sich auf einmal in der Nachbarschaft des kleinen,einsamen Gebäudes, vielleicht in der unbestimmten Hoffnung,es könne irgend was geschehen, wodurch ihre Kümmernissegehoben würden. Aber nichts geschah, wederEngel noch gute Geister schienen sich mit diesem unglücklichenGefangenen beschäftigen zu wollen.
Die Jungens taten, was sie schon oft vorher getanhatten — gingen zu dem Gitterfenster und steckten Potterein bißchen Tabak und Zündhölzer zu. Er lag auf demFußboden — Wächter waren nicht da.
Seine Dankbarkeit für ihre kleinen Gaben hatte bisherimmer ihr Gewissen entlastet — jetzt wurde es nurnoch schwerer. Sie fühlten sich im höchsten Grade gemeinund treulos, als Potter sagte: „Ihr seid doch immer gutgegen mich gewesen, Jungs, besser als sonst jemand imDorf. Und ich werd‘s nicht vergessen, werd‘s nicht! Oftdenk‘ ich, hab‘ allen Jungen Drachen gemacht und alles,und ihnen gute Fischplätze gezeigt, und ihnen geholfen,wo ich konnt‘, und nu‘ vergessen sie alle den alten Muff,wo er so in der Patsche sitzt, nur der Tom tut‘s nicht, undder Huck tut‘s nicht, die vergessen ihn nicht, sagt‘ ich, undich werd‘ sie nicht vergessen! Na, Jungs, ich hab‘ wasSchreckliches getan — betrunken und verrückt muß ich gewesensein; ‘s ist die einzige Art, wie ich‘s mir denkenkann, und jetzt soll ich dafür baumeln, und ‘s ist recht so.Recht und ‘s beste auch, glaub‘ ich, hoff‘ wenigstens.Na, wollen nicht davon sprechen. Möcht‘ euch ‘s Herznicht schwer machen. Aber wollt euch doch sagen: Trinktnicht, wenn ihr groß seid, dann kommt ihr nie hierher.Kommt mal näher ran — so, ‘s ist doch schon was, so ‘npaar gute Gesichter zu sehen — gute, freundliche Gesichter.Steigt mal einer auf den anderen und gebt maleure Patschen her. Kommt leichter durch die Stangen,meine Faust ist zu groß. Kleine Hände — und zart —aber haben Muff Potter ‘ne Menge geholfen und würdennoch mehr tun, wenn sie könnten.“
Tom schlich niedergeschlagen nach Hause, und seineTräume waren schrecklich. Am nächsten und übernächstenTage lungerte er um das Gerichtsgebäude herum, vonunwiderstehlichem Verlangen angetrieben, hineinzugehen,und doch sich selbst zwingend, es nicht zu tun. Huck hattedieselben Versuchungen. Sie gingen sich geflissentlich ausdem Wege. Jeder ging von Zeit zu Zeit mal fort, aberderselbe verzweifelte Zauber trieb ihn immer sehr baldwieder hin. Tom hielt die Ohren offen, wenn irgend einMüßiggänger herauskam, hörte aber immer nur betrübendeNeuigkeiten. Die Schlinge zog sich immer undimmer fester zusammen um den armen Potter. Am Abenddes zweiten Tages war das Dorfgespräch, daß des Indianer-JoeErscheinen feststehe, und daß über den zu erwartendenSpruch der Geschworenen nicht der geringsteZweifel entstehe.
Tom war diesen Abend lange aus und gelangte durchsFenster ins Bett. Er befand sich in schrecklich aufgeregtemZustande. Es dauerte Stunden, bis er einschlafen konnte.
Am nächsten Morgen strömte das ganze Dorf zumGerichtsgebäude, denn es würde ein großer Tag sein.Beide Geschlechter waren zu dem aufregenden Verhörerschienen. Nach langer Zeit traten die Geschworenen einund begaben sich auf ihre Plätze. Kurz danach wurdeMuff Potter, blaß und hohläugig, verschüchtert und hoffnungslos,mit Ketten beladen, hereingebracht und setztesich so, daß all die neugierigen Augen ihn treffen mußten;nicht weniger wurde der Indianer-Joe beobachtet, dergleichgültig, wie immer, dasaß. Noch eine Pause, unddann kam der Richter, und der Sheriff verkündete den Beginnder Sitzung. Es folgte das gewöhnliche Geflüsterzwischen den Gerichtspersonen und Papierknistern. DieseEinzelheiten und Umständlichkeiten bewirkten eine erwartungsvolleStimmung, die ebenso aufregend wie lähmendwar.
Jetzt wurde jener Bürger aufgerufen, welcher beschwor,daß er Muff Potter in sehr früher Stunde amMorgen des Mordes getroffen hatte, wie er sich in einemGraben wusch, und daß er sofort davongelaufen sei. Nacheinigen weiteren Fragen sagte der Staatsanwalt: „DerHerr Verteidiger hat das Wort.“ Der Gefangene erhobfür einen Augenblick die Augen, schlug sie aber sofort nieder,als sein Verteidiger sagte: „Ich verzichte.“
Der nächste Zeuge erzählte die Auffindung desMessers am Tatorte. Der Staatsanwalt sagte abermals:„Der Herr Verteidiger hat das Wort.“
„Ich verzichte,“ entgegnete auch diesmal der Verteidiger.
Ein dritter Zeuge beschwor, daß er das Messer oftmalsin Muff Potters Besitz gesehen habe.
„Der Herr Verteidiger hat das Wort.“
Potters Verteidiger dankte wiederum.
Die Gesichter der Zuhörer begannen Unwillen zuzeigen. Wollte dieser Verteidiger das Leben seinesKlienten ohne jeden Versuch zu seiner Rettung preisgeben?
Mehrere Zeugen berichteten über Potters verdächtigesBenehmen, als er an den Mordplatz geführt wurde.Sie konnten ebenfalls ohne Gegenverhör den Platzverlassen.
Alle Einzelheiten der gravierenden Vorkommnisse anjenem Morgen, dessen sich alle Anwesenden so gut erinnerten,waren von glaubwürdigen Zeugen bestätigt, undnicht einer war durch Potters Verteidiger einem Gegenverhörunterworfen worden. Die Verblüffung und Unzufriedenheitdes Hauses machte sich in Murren bemerklich,was eine Zurechtweisung seitens des Vorsitzenden zurFolge hatte.
Jetzt begann der Staatsanwalt: „Durch den Eidvon Bürgern, deren einfaches Wort schon über jedenZweifel erhaben ist, sehen wir das schreckliche Verbrechendem unglücklichen Gefangenen dort zur Last gelegt. DieSachlage ist über jeden Zweifel erhaben.“
Ein Stöhnen entrang sich dem armen Potter, er bedecktedas Gesicht mit den Händen, während sein Körpergleichsam zusammenschrumpfte. Ein peinliches Stillschweigenhatte sich über den Saal gelegt. Alle waren bewegt,und manche Frau verriet ihre Bewegung durch Tränen.
Der Verteidiger erhob sich und sagte: „Euer Ehren!Zu Beginn der gegenwärtigen Verhandlung gaben wirunsere Absicht kund, zu zeigen, daß unser Klient dieseschreckliche Tat beging, während er unter dem Einflusseeines blinden, geistesverwirrenden Rausches infolge übermäßigenTrunkes stand. Wir haben unsere Ansicht geändert.Wir können auf diesen Einwand verzichten!“(Dann zum Gerichtsdiener): „Tom Sawyer!“
In allen Gesichtern malte sich unverhohlenes Erstaunen,Potter nicht ausgenommen. Jedes Auge heftetesich mit verwundertem Interesse auf Tom, als er aufstandund sich auf seinen Platz in der Zeugenloge setzte.Der Junge sah verstört genug aus, er war auch mächtigverschüchtert. Die Eidesformel war gesprochen.
„Thomas Sawyer, wo wart Ihr am 7. Juni umMitternacht?“
Tom schielte auf des Indianer-Joe eisernes Gesicht,und die Zunge versagte ihm den Dienst. Alle Zuhörerwarteten atemlos, aber die Worte kamen nicht heraus.Nach ein paar Augenblicken indessen sammelte der Jungeein bißchen Mut und versuchte genug davon in seine Stimmungzu legen, um sich einem Teil des Saales hörbar zumachen.
„Auf dem Kirchhof.“
„Bitte, etwas lauter. Fürchtet Euch nicht. Ihrwart —“
„Auf dem Kirchhof.“
Ein verächtliches Lächeln flog über des Indianer-JoeGesicht.
„Wart Ihr vielleicht in der Nähe von WilliamHorses Grab?“
„Ja, Herr!“
„Noch ein bißchen lauter. Wie nahe wart Ihr?“
„So nahe, wie jetzt zu Ihnen.“
„Wart Ihr versteckt oder nicht?“
„Ich war versteckt.“
„Wo?“
„Unter den Ulmen, die am Kopfende des Grabesstehen.“
Der Indianer-Joe fuhr unmerklich zusammen.
„Wart Ihr in Begleitung?“
„Ja, Herr. Ich war da mit —“
„Halt — einen Augenblick. Nennt den NamenEures Gefährten noch nicht. Wir wollen ihn zur rechtenZeit aufrufen. Hattet Ihr irgend etwas mit?“
Tom zögerte und schaute verwirrt um sich.
„Na, sprich — mein Junge! Nicht zaghaft! DieWahrheit ist immer achtungswert. Was hattest du mit?“
„Nur — nur — ‘ne tote Katze!“
Ein schwaches Kichern entstand, wurde aber sofortvom Gerichtshof unterdrückt.
„Wir werden das Skelett der Katze vorlegen. Jetzt,mein Junge, sag‘ uns, was sich zutrug — sag‘s ganz aufdeine Weise — vergiß nichts und fürchte dich nicht.“
Tom begann — zuerst stammelnd, aber als er warmwurde, flossen seine Worte leichter und immer leichter;in kurzem verstummte jeder Laut außer seiner Stimme;jedes Auge heftete sich auf ihn; mit geöffneten Lippenund angehaltenem Atem hingen die Zuhörer an seinenWorten, vollkommen von der Spannung der Erzählungbeherrscht. Die Erregung erreichte den höchsten Grad, alser sagte: „Und wie der Doktor mit dem Brett haute undPotter fiel, da sprang der Indianer-Joe mit demMesser —“
Krach! — Schnell wie der Blitz sprang der Indianer-Joezum Fenster durch alle Zuschauer hindurch und warim Nu verschwunden!
Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Tom war schon wieder ein strahlender Held — derLiebling der Alten, der Neid der Jugend. Sein Namegelangte sogar zu den Ehren der Druckerschwärze, denndas Blättchen des Dorfes verherrlichte ihn. Es gab sogarLeute, die in ihm den zukünftigen Präsidenten sahen, ausgenommen,wenn er vorher gehenkt werde.
Wie gewöhnlich, drückte die gedankenlose Welt jetztMuff Potter an ihre Brust und überschüttete ihn mit Zärtlichkeiten,wie sie ihn bisher verlästert hatte. Aber dieseSinnesänderung spricht für die Welt; deswegen ist‘s besser,keine Glossen drüber zu machen.
Toms Tage waren Tage des Glanzes und des Frohlockens, aber seine Nächte waren Zeiten des Schreckens.Der Indianer-Joe spukte in all seinen Träumen undimmer mit haßerfüllten Augen. Schwerlich hätte irgendetwas den Jungen veranlassen können, nach Anbruch derNacht noch hinauszugehen. Der arme Huck befand sichgleichfalls im Zustand der Verzweiflung und Angst, dennTom hatte in der Nacht vor der Gerichtsverhandlung demVerteidiger alles gesagt, und Huck hatte gräßliche Angst,daß seine Beteiligung bei der Sache bekannt werdenmöchte, obwohl ihn des Indianers Flucht von der Qualbefreit hatte, vor Gericht Zeugnis ablegen zu müssen. Derarme Bursche hatte vom Verteidiger das Versprechen desSchweigens erhalten, aber was war das? Seit Tom,durch sein beladenes Gewissen getrieben, in jener Nachtins Haus des Verteidigers gegangen war und die schrecklicheGeschichte, die doch mit den bindendsten, furchtbarstenEiden in ihm verschlossen sein sollte, gebeichtet hatte, warHucks Glauben an die menschliche Rasse nahezu vernichtet.Jeden Tag ließen Muff Potters DankesbezeugungenTom sich freuen, daß er gesprochen hatte, aber nachtswünschte er, das Geheimnis bewahrt zu haben. Manchmalfürchtete er, der Indianer-Joe möchte niemals gefundenwerden, dann wieder zitterte er, daß er gefundenwerden könnte. Er fühlte nur zu sicher, daß er nicht mehrruhig atmen könne, bis dieser Mensch tot sei und er seineLeiche gesehen habe.
Belohnungen waren ausgesetzt, das Land durchsucht,aber kein Joe gefunden. Eins jener geheimnisvollen,ehrfurchtgebietenden Wunder, ein Detektiv, kam von St.Louis herauf, schnüffelte herum, schüttelte den Kopf, tatsehr weise und hatte den überraschenden Erfolg, den Angehörige dieser Berufsklasse stets haben, das heißt, „erfand den Schlüssel“. Aber man kann einen Schlüssel nichtals Mörder hängen und so, nachdem der Detektiv heimwärtsgegangen war, fühlte sich Tom genau so unsicherwie vorher. Trübselig schlichen die Tage, aber jeder nahmein klein wenig von seiner Besorgnis mit sich.
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
In jedes normal veranlagten Jungen Leben kommteine Zeit, wo er den rasenden Wunsch empfindet, irgendwonach vergrabenen Schätzen zu suchen.
Dieser Wunsch überfiel Tom eines Tages ganz plötzlich.Er machte sich auf den Weg, um Joe Harper zu suchen,hatte aber keinen Erfolg. Dann suchte er Ben Rogers; derwar zum Fischen gegangen. Plötzlich stieß er auf HuckFinn, den ‚Bluthändigen‘. Tom schleppte ihn an einenversteckten Ort und vertraute sich ihm an. Huck warsofort bereit. Huck war immer bereit, sich an einem Unternehmenzu beteiligen, das Zerstreuung versprach und keinKapital verlangte, denn er hatte schrecklichen Überfluß vonder Art Zeit, die nicht Geld ist.
„Wo wollen wir graben?“ fragte Huck.
„O — halt überall.“
„Was, ist überall welches vergraben?“
„Ach was, das nicht! ‘s ist an ganz besonderenPlätzen vergraben, Huck — manchmal auf Inseln, manchmalin alten verfaulten Kisten, unter den Wurzeln einesabgestorbenen Baumes, grad‘ da, wohin der Schatten beiMondschein fällt; besonders aber unter dem Fußbodenin ‘nem verfallenen Haus.“
„Wer vergräbt‘s denn?“
„Na, Räuber selbstverständlich — was dachtst dudenn? Sonntagsschul-Lehrer?“
„Weiß nicht. Wenn‘s mir gehörte, ich würd‘s nichtvergraben. Ich würd‘s ausgeben und mir ‘ne lustige Zeitmachen.“
„Tät‘ ich auch. Aber Räuber tun‘s nicht, die vergraben‘simmer und lassen‘s liegen.“
„Kommen sie gar nicht mehr hin?“
„Nein, — sie denken wohl, sie wollen wieder hinkommen,aber dann haben sie die Zeichen vergessen odersind auch inzwischen gestorben. Manchmal liegt‘s ‘nelange, lange Zeit da und wird rostig. Und schließlich find‘dann mal jemand so ‘n altes vergilbtes Papier, da mußer über ‘ne Woche drüber brüten, denn ‘s sind schwereZeichen und Hieroglyphen drauf geschrieben.“
„Hiero — was?“
„Hieroglyphen — Bilder und Zeug, weißt du, dasgar nichts vorzustellen scheint.“
„Hast du schon mal so ‘n Papier gehabt, Tom?“
„Nee.“
„Na, wie willst du denn die Zeichen rauskriegen?“
„Ach was, brauch‘ keine Zeichen. Sie vergraben‘sja immer unter ‘nem verfallnen Haus oder auf ‘ner Inseloder unter ‘nem abgestorbenen Baum, der ‘ne Wurzel vonsich streckt. Na, wir haben‘s ja schon mal mit der Jackson-Inselversucht und können ja leicht noch mal hingehn;und dann ist da das alte verfallne Haus auf dem Stillhaus-Hügel,und dann gibt‘s ‘ne Menge Wurzeln vontoten Bäumen — massenhaft!“
„Ist unter allen was?“
„Was schwatzt du! Nee!“
„Woher kannst du denn wissen, wohin wir gehenmüssen?“
„Na — zu allen!“
„Verflucht, Tom — ‘s wird den ganzen Sommerdauern.“
„Na, was schad‘s? Denk‘, du findst ‘nen Messingtopf,ganz rostig oder ‘ne verfaulte Kiste voll Diamanten— he?“
Hucks Augen glänzten.
„Wär‘ grad‘ was für mich, Tom, wär‘ ganz extrawas für mich! Ader die Diamanten nehm‘ ich nicht fürhundert Dollars!“
„Na, schon gut. Aber ich würd‘ die Diamanten nichtverschmähn! Einige von ihnen sind zwanzig Dollar wert.Alle nicht — aber auch die andern sind sechs Cent bis‘nen Dollar wert.“
„Nee — ist das so?“
„Sicher — alle sagen‘s. Hast du nie einen gesehn,Huck?“
„Nicht, daß ich wüßte.“
„O, Könige haben Haufen davon.“
„Na, ich kenn‘ aber keinen König, Tom!“
„Denk‘ wohl, daß du keinen kennst. Aber, wenn dunach Europa gingst, würdst du ‘ne Menge rumhüpfensehn.“
„Hüpfen die?“
„Hüpfen, du Schafskopf? Nee!“
„Na — warum sagtest du denn, daß sie‘s täten?“
„Nachtmütze! Meint‘ doch nur, du würdst siesehn, — nicht hüpfend natürlich — warum sollten siedenn hüpfen? Meint‘ nur, du würdst sie sehn — überall,verstehst du — überall! Zum Beispiel beim alten buckligenRichard.“
„Richard? Wie ist sein anderer Name?“
„Er hat keinen anderen Namen — Könige habennur ‘nen Vornamen.“
„Nicht?“
„Aber nein — sag‘ ich dir!“
„Na, wenn‘s so ist, Tom, meinetwegen. Aber ichmöcht‘ nicht König sein und nur ‘nen Vornamen habenwie ‘n Nigger. Aber, sag mal — wo willst du zuerstgraben?“
„Weiß noch nicht. Denk‘ wir nehmen den abgestorbenenBaum auf dem Hügel hinter Stillhaus?“
„Mir recht.“
So trieben sie denn eine ausrangierte Hacke und eineSchaufel auf und machten sich auf den Weg von dreiMeilen. Sie kamen heiß und erschöpft an und warfensich im Schatten einer benachbarten Ulme nieder, um auszuruhenund ein bißchen zu rauchen.
„So gefällts mir,“ meinte Tom.
„Mein‘ ich auch.“
„Sag‘, Huck — wenn wir hier ‘nen Schatz finden,was machst du mit deiner Hälfte?“
„Na, dann muß ich jeden Tag ‘ne Pastete und ‘nGlas Sodawasser haben, und dann geh‘ ich in jedenZirkus, der herkommt. Soll ‘ne famose Zeit werden!“
„Na, und du willst gar nichts sparen?“
„Sparen? Wozu?“
„Nu, damit du später mal was zu leben hast!“
„Ach, das ist ja Unsinn! Pap wird eines schönenTags in dies liebliche Nest zurückkommen und seine Klauendrüber legen, wenn ich‘s noch nicht verbraucht hätt‘, undich sag‘ dir, er hätt‘s bald genug durchgebracht. Waswillst du tun, Tom?“
„Ich werd‘ mir ‘ne neue Trommel kaufen und ‘n richtigesSchwert und ‘n rotes Halstuch, und ‘ne junge Bulldogge— und dann würd‘ ich heiraten.“
„Heiraten!!?“
„Na ja!“
„Tom, du — na, wenn du nicht recht bei Verstandbist!“
„Wart‘ nur — wirst‘s ja sehn.“
„Na, das ist doch ‘s Dümmste, was du tun könntest.Sieh doch nur meinen Pap und seine Alte. Teufel — wasdie sich prügeln! Weiß noch ganz gut!“
„Das ist ‘n anderes Ding. Das Mädchen, das ichheiraten will, prügelt sich nicht!“
„Tom — denk‘ doch, sie sind alle gleich! Wolleneinen alle striegeln. Wirst nach ‘ner Weile wohl vernünftigerdrüber denken. Wie heißt denn ‘s Mädel?“
„‘s ist überhaupt kein Mädel — ‘s ist ‘nMädchen!“
„Denk‘ doch, ‘s ist alles eins; die einen sagen Mädel,die anderen Mädchen — ‘s ist ganz gleich. Aber wieheißt sie denn, Tom?“
„‘n andermal, sag‘ ich‘s dir, Huck — jetzt nicht.“
„Na — ‘s auch recht. Aber wenn du heiratest, werd‘ich noch einsamer sein.“
„Unsinn, Huck, du kommst zu mir und wohnst hier.— Na, genug davon, wollen wir anfangen, zu graben?“
Sie arbeiteten und schwitzten eine halbe Stunde hindurch.Kein Resultat. Sie mühten sich noch eine halbeStunde. Noch kein Erfolg.
Huck meinte: „Graben sie immer so tief?“
„Manchmal — nicht immer. Denk, wir haben nichtdie rechte Stelle erwischt.“ Sie wählten eine andereStelle und begannen nochmals. Die Arbeit stockte diesmalein bißchen, aber sie kamen doch vorwärts. Wieder grubensie stillschweigend eine Zeitlang. Schließlich lehnte sichHuck auf seine Schaufel, wischte den Schweiß von seinerStirn und sagte: „Wo woll‘n wir graben, wenn wirhier fertig sind?“
„Denk‘, wir woll‘n den alten Baum über Cardiff Hill— hinter dem Haus der Witwe nehmen.“
„Glaub‘s auch, daß dort was ist. Aber, wenn‘s dieWitwe uns fortnimmt, Tom? ‘s ist ihr Land.“
„Sie wegnehmen! Soll sie‘s doch nur versuchen!Wenn einer so ‘nen vergrabenen Schatz findet, gehört erihm. Ich mach‘ keinen Unterschied, wem das Land grad‘gehört.“
Das war beruhigend. Die Arbeit wurde fortgesetzt.Dann sagte Huck wieder:
„Verdammt — wir müssen wieder an ‘nem falschenPlatz sein. Was meinst du?“
„‘s ist wirklich sonderbar, Huck. Versteh‘s nicht.Manchmal stören‘s die Hexen. Denk‘ ‘s wird das sein,was uns hier stört.“
„Unsinn, Hexen haben tags keine Macht!“
„Na ja, ‘s ist wahr! Dachte nicht dran. Halt —jetzt weiß ich, wie‘s ist! Was für verdammt große Schafsköpfewir sind! Man muß ja doch erst wissen, wohin derSchatten bei Mondschein fällt, und da muß man danngraben!“
„Na ja, dann glaub‘ ich‘s, daß wir all die Arbeit umsonstgemacht haben. Jetzt hol‘s der Teufel alles, müssenhalt zur Nachtzeit wiederkommen. ‘s ist ‘n verteufeltweiter Weg. Kannst du fortkommen?“
„Werd‘s schon machen. Diese Nacht woll‘n wir‘s alsomachen, denn wenn jemand diese Gruben da sieht, weißer doch gleich, was da los ist und gräbt‘s selbst aus.“
„‘s ist gut, ich werd‘ nachts kommen und miauen.“
„Recht — aber jetzt wollen wir noch das Werkzeugin den Büschen verstecken.“
Nachts, zur verabredeten Stunde waren die Jungenwieder da. Wartend saßen sie im Schatten. Es war eineinsamer Platz und eine durch lange Tradition unheimlichgewordene Stunde. Geister wisperten im raschelndenLaub. Geister spukten in allen Ecken, das klagende Heuleneines Hundes tönte aus einiger Entfernung herüber, eineEule antwortete mit Grabesstimme. Die Jungen fühltensich von ihrer unheimlichen Umgebung bedrückt undsprachen nur mit leiser Stimme. Schließlich nahmen siean, es möchte zwölf Uhr sein; sie bezeichneten die Stelle,wohin der Schatten fiel und begannen zu graben. IhreHoffnung wuchs; das Interesse wurde lebhafter, und ihrFleiß hielt gleichen Schritt. Das Loch wurde tiefer undtiefer, aber so oft ihre Herzen zu klopfen begannen, wennein scharfer Ton von unten hervordrang, erfuhren sie eineneue Enttäuschung. Jedesmal war‘s nur ein Stein oderHolzstrunk. Schließlich sagte Tom: „‘s ist nicht richtig.Huck, wir haben‘s wieder verfehlt!“
„Unsinn, wir können ‘s nicht verfehlt haben. Wirhaben doch den Schatten zu genau getroffen.“
„Ja, ich weiß, aber vielleicht ist sonst was schuld.“
„Was denn?“
„Wir haben die Zeit bloß abgeschätzt. Leicht genugwar‘s später oder früher.“
Huck ließ die Schaufel sinken. „Das ist‘s.“ sagte er.„Das ist‘s, was uns gestört hat. Wir müssen‘s aufgeben.Wir können doch nicht immer die rechte Zeit abpassen, unddann, das Ding hier ist zu unheimlich, hier diese Nachtzeitmit Geistern und Gespenstern, die um einen rumfliegen.Ich bild‘ mir immer ein, ‘s ist wer hinter mir, und hab‘doch Angst, mich umzusehn, denn ‘s könnten auch welchevor mir sein und nur auf ‘ne Gelegenheit warten. Solang‘ ich hier bin, läuft‘s mir kalt über.“
„Na, mir ist‘s nicht viel besser gegangen, Huck. Meistenshaben sie ‘nen toten Mann begraben, wo sie ihreSchätze hintun, der muß drauf achthaben.“
„Herr Gott!“
„Ja, ‘s ist so. Hab‘ immer so sagen gehört.“
„Tom, möcht mir doch nicht viel zu schaffen machen,wo ‘n Toter liegt. So ‘n toter Schädel könnt‘ einemdoch höllisch Angst machen.“
„Möcht‘ keinen aufstöbern, Huck. Zu denken, daß hierplötzlich einer den Kopf rausstreckt und anfängt, zusprechen.“
„Still, Tom — ‘s ist schrecklich!“
„Na, das ist‘s gewiß, Huck. Würd‘ mich auch nichtgemütlich dabei fühlen!“
„Du, Tom, komm, wollen‘s hier sein lassen, und ‘swo anders versuchen.“
„Ja, ich denk‘ auch, ‘s wird besser sein.“
„Wo denn?“
Tom dachte eine Weile nach und sagte: „Das Beinhaus— das ist‘s.“
„Teufel! Beinhäuser lieb‘ ich gar nicht, Tom! Dasind Gespenster, und die sind noch schlimmer als Tote.Tote können vielleicht mal ‘n bißchen schwatzen, aber siefahren nicht herum und kommen nicht ‘rangeschlichen, wennman nicht dran denkt und gucken einem nicht plötzlich überdie Schulter und knirschen nicht mit den Zähnen, wie Gespenstertun. Ich könnt‘s nicht ertragen, Tom — niemandkönnt‘s.“
„Ja; aber, Huck, Geister dürfen nur nachts herumhuschen — bei Tage können sie uns nicht hindern, da zugraben.“
„Ja, das ist wohl so. — Aber du weißt wohl, daßüberhaupt niemand gern in die Nähe vom Beinhausgeht — weder bei Tag noch bei Nacht.“
„Na, ‘s ist aber doch nur, weil sie nicht hingehenmögen, wo mal einer gemordet worden ist. Aber ‘s hatdoch nie jemand was Verdächtiges im Beinhaus gesehn —nur ‘n bißchen blaues Licht im Fenster — keine Geister.“
„Na, ich sag‘ dir, Tom, wo du so ‘n blaues Lichtsiehst, kannst du sicher sein, daß da ‘n Geist dahinter steckt.‘s ist doch mal so bekannt. So ‘n Licht, weißt du, brauchtniemand als Gespenster.“
„‘s ist wahr, Huck. Aber bei Tag‘ kommen sie dochnicht ‘raus; da brauchen wir uns doch nicht zu fürchten?“
„Na, meinetwegen, wenn du meinst, woll‘n wir ‘sBeinhaus vornehmen — aber — aber ich denk doch, ‘sist gewagt.“
Inzwischen waren sie den Hügel hinuntergekommen.Dort, mitten im Mondlicht, im Tal stand das Beinhausvor ihnen, gänzlich einsam, die Umzäunung längst zerbrochen,die Tür umgeben von allerhand Schlinggewächsen,das Dach halb zerfallen, leere Fensterhöhlenund der Schornstein eingesunken. Die Jungen standeneine Weile still, halb in der Erwartung, ein blaues Lichtin den Fenstern zu sehen; sie sprachen, wie Zeit und Umständees verlangten, mit halber Stimme. Dann machtensie, daß sie fortkamen, umkreisten das unheimliche Gebäudein weitem Bogen und schlichen durch den Wald von CardiffHill nach Hause.
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Gegen Mittag des nächsten Tages kamen die Jungenbei dem abgestorbenen Baum an; sie wollten ihr Werkzeugholen. Tom hatte es sehr eilig, zum Beinhaus zukommen. Huck, etwas weniger hitzig, sagte plötzlich:
„Wart mal, Tom, weißt du auch, was heut für ‘nTag ist?“
Tom ließ die Tage der Woche Revue passieren undmachte erschreckte Augen:
„Donnerwetter, Huck, hab‘ noch gar nicht drandacht!“
„Na, ich hab‘s bisher auch nicht getan, aber plötzlichfiel‘s mir eben ein, heut ist Freitag!“
„Verdammt! Man kann doch nicht vorsichtig genugsein, Huck. Hätten in ‘ne schöne Patsche geraten können,wenn wir so was an ‘nem Freitag begonnen hätten!“
„Will ich meinen! Sag‘ lieber: wären gekommen!‘s gibt Glückstage, aber der Freitag ist gewiß keiner vonihnen!“
„Das weiß jeder Dummkopf. Denk doch, du bistnicht der erste, der das rauskriegt.“
„Na, das hab‘ ich ja doch auch nicht gesagt, oder? Undder Freitag ist noch nicht alles. Hab‘ ‘nen verflucht bösenTraum gehabt, letzte Nacht — hab‘ von Ratten geträumt.“
„Na, ist ‘n schönes Zeichen, daß was passiert! Kämpftensie?“
„Nee.“
„Na, dann ist‘s gut, Huck. Wenn sie nicht kämpfen,ist‘s nur ein Zeichen, daß was in der Luft liegt, weißt du.Wir brauchen also bloß gut aufzupassen und uns in achtzu nehmen. Wollen wir also das für heute lassen undspielen. — Kennst du Robin Hood, Huck?“
„Nee, wer ist Robin Hood?“
„Na, das war einer von den größten Menschen, dieje in England gelebt haben — und einer der besten. ‘swar ein Räuber.“
„Wetter, wünscht‘, ich wär‘ auch einer. Wen beraubteer denn?“
„Nur Sheriffs und Bischöfe und reiche Leute undKönige und solches Volk. Arme beraubte er nie. Erliebte sie. Er teilte alles mit ihnen bis auf den letztenPenny.“
„Muß ein verflucht guter Bursche gewesen sein.“
„Will ich meinen, Huck. O, er war der edelste Mensch,der je gelebt hat. Solche Leute gibt‘s jetzt gar nicht mehr,sag‘ ich dir. Er konnte alle Menschen in England besiegen,auch wenn seine eine Hand gebunden war. Und dannkonnte er mit seinem Eibenbogen und seinem Pfeil einZehn-Centstück jederzeit treffen — anderthalb Meilendavon.“
„Was ist ‘n Eibenbogen?“
„Weiß nicht; ‘s ist halt irgend ein Bogen. Und wenner das Stück nur am Rande traf, setzte er sich hin undweinte — wahrhaftig. Aber laß uns Robin Hoodspielen — ‘s ist ‘n famoser Spaß. Werd‘s dir beibringen.“
„Mir recht.“
So spielten sie Robin Hood den ganzen Nachmittag,zuweilen sehnsüchtige Blicke auf das Beinhaus werfendund eine Bemerkung über die Aussichten und möglichenEreignisse des nächsten Tages fallen lassend. Als dieSonne im Westen zu sinken begann, schlenderten sie heimwärtsdurch die langen Schatten der Bäume und warenbald im Walde von Cardiff Hill verschwunden.
Am Samstag, kurz nach Mittag, waren die Jungenabermals am Fuße des bewußten Baumes. Sie rauchtenein bißchen und hielten ein Schwätzchen im Schatten derBäume, und stocherten dann ein wenig in ihrer Grube,nicht mit großen Hoffnungen, sondern mehr, weil Tomsagte, es wäre schon oft vorgekommen, daß Leute einenSchatz schon aufgegeben, nachdem sie ihm bis auf sechs Zollnahe gekommen seien, und dann sei irgend ein anderer gekommenund habe ihn mit einem einzigen Spatenstich ausgehoben.Diesmal war‘s indessen nichts, so nahmen dieJungen ihr Werkzeug auf die Schultern und marschiertenab, im Gefühl, daß sie beim Graben zwar kein Glückgehabt, aber alles getan hätten, was beim Schatzsuchenvonnöten sei.
Als sie das Beinhaus erreichten, lag etwas so Geheimnisvolles,Unheimliches in dem toten Schweigen, dashier unter der brütenden Sonne herrschte, und etwas soNiederdrückendes in der Verlassenheit und Trostlosigkeitdes Ortes, daß sie für einen Augenblick nicht den Muthatten, einzutreten. Dann schlichen sie zur Tür undspähten vorsichtig hinein. Sie erblickten einen von Unkrautüberwucherten, ungepflasterten Raum, einen altenFeuerherd, leere Fensterhöhlen, eine halb zerfalleneTreppe, und hier und da und dort hingen zerrissene, verlasseneSpinnengewebe. Sie traten sogleich vorsichtig ein,mit klopfenden Pulsen, sich im Flüsterton besprechend, dieOhren für das geringste Geräusch gespitzt, die Muskelnangespannt, um unverzüglich davonlaufen zu können.
Aber in kurzem wurden sie heimisch, verloren ihreFurcht und unterzogen die Szenerie einer kritischen, aufmerksamenInspektion, dabei immer mehr ihre eigeneKühnheit bewundernd. Danach richteten sich ihre Blickeauf die Treppe. Es hieß, sich den Rückzug abschneiden,aber sie ermutigten sich gegenseitig, und so konnte es nichtfehlen — sie warfen ihre Geräte in eine Ecke und klettertenhinauf. Oben zeigten sich dieselben Spuren des Verfalls.In einem Winkel fanden sie einen vielversprechendenWandschrank, aber die Hoffnung war trügerisch — es warnichts drin. Jetzt waren sie wieder ganz im Besitz ihresMutes und ihrer Unternehmungslust. Gerade wolltensie wieder hinunter und ihr Werk beginnen, da —
„Pst,“ flüsterte Tom.
„Was gibt‘s?“ Huck ebenso, schneeweiß vor Schreck.
„Pscht — du — hörst du nichts?“
„Ja — o Himmel — laß uns fortlaufen!“
„Halt‘s Maul! Rühr‘ dich nicht! Sie kommen richtigauf die Tür zu!“
Die Jungen kauerten sich auf den Fußboden nieder,spähten durch Ritzen auf dem Fußboden und warteten inFurcht und Elend.
„Sie halten — — nein — sie kommen — da sind sie!Kein Wort mehr, Huck! Mein Gott — ich wollt‘, ichwär‘ hier raus!“
Zwei Männer traten ein. Beide Jungen sagten zusich selbst: „‘s ist der alte taubstumme Spanier, der einpaarmal letzthin im Dorfe war — den anderen hab‘ ich niegesehn.“
Der „andere“ war ein zerlumpter, ungekämmterStrolch mit wenig einladenden Gesichtszügen. Der Spanierwar in eine „Serape“ gehüllt, er hatte einen struppigenweißen Bart, langes, weißes Haar flatterte unter demRäuberhut hervor, er trug grüne Augengläser. Indemsie hereinkamen, sprach der „andere“ mit leiser Stimme;sie setzten sich auf die Erde, das Gesicht zur Tür, den Rückengegen die Wand, und der Sprecher fuhr fort. Sein Benehmenwurde ungenierter und seine Sprache entschiedener.
„Nein,“ sagte er, „hab‘ drüber nachgedacht — ‘s gehtnicht; ‘s ist zu gefährlich.“
„Gefährlich,“ höhnte der taubstumme Spanier zurhöchsten Überraschung der Jungen. „Waschlappen!“
Diese Stimme ließ die Jungen erzittern wie Espenlaub.Es war der Indianer-Joe! Einen Augenblickherrschte Schweigen. Dann fuhr Joe fort: „Was ist wohlgefährlicher als der letzte Streich — und doch ist nichtspassiert.“
„Das ist ‘n Unterschied. Weit draußen am Fluß undkein Haus in der Nähe! Wer sollt‘ denn wissen, daßwir was versucht haben, wo wir doch nichts erreichthaben!“
„Na, wie kann was gefährlicher sein, als bei Tagehierher kommen? Wer uns säh‘, müßt‘ doch Verdachthaben.“
„Weiß wohl. ‘s gab aber keinen besseren Platz nachdem mißglückten Streich. Muß fort von hier. Wollt‘sauch gestern schon, ‘s war aber nicht möglich, von hierauszuziehen, solange diese Teufelsjungen da oben ganzin der Nähe spielten.“
„Diese Teufelsjungen“ zuckten unter dieser Bemerkungzusammen und dachten, wie gut es doch sei, daß sie sichnoch zur rechten Zeit an den Freitag erinnert und beschlossenhatten, bis Samstag zu warten. Sie wünschtennur, ein Jahr gewartet zu haben.
Die beiden Männer holten ein paar Lebensmittelhervor und hielten eine Mahlzeit. Nach langem, gedankenvollenSchweigen sagte Joe: „Paß auf, Kerl, mache, daßdu wieder stromaufwärts kommst, wo du hingehörst.Warte dort, bis du von mir hörst. Werd‘ mir mal dieGelegenheit ansehen im Dorf. Wenn ich ‘n bißchen rumgeschnüffelthab‘ und alles sich gut anläßt, wolln wir das‚gefährliche Stückchen‘ ausführen. Dann nach Texas!Wollen‘s zusammen machen!“
Das war befriedigend. Beide fingen an zu gähnen,und Joe sagte:
„Bin todmüde! Die Reihe ist an dir, zu wachen.“
Er warf sich nieder und begann bald zu schnarchen.Der andere stieß ihn ein paarmal an, und er wurde ruhig.Plötzlich begann der Wächter zu nicken; sein Kopf sanktiefer und tiefer; dann schliefen beide.
Die Jungen taten einen langen, erleichterten Atemzug.Tom flüsterte:
„Jetzt gilt‘s — komm!“
Huck aber meinte: „Kann nicht — wär‘ tot, wennsie aufwachten!“
Tom drängte, Huck hielt zurück. Schließlich erhob sichTom leise und furchtsam und schlich allein davon. Aberder erste Schritt, den er tat, erzeugte auf dem Holzbodenein solches Krachen, daß er halbtot vor Angst wiederniederkauerte. Er machte keinen zweiten Versuch. DieJungen lagen da, die schrecklichen Augenblicke zählend, bises ihnen schien, die Zeit habe aufgehört und die Ewigkeitbeginne. Und dann erleichterte sie der Gedanke, daßschließlich die Sonne untergehen müsse. Jetzt rührte sichder eine Schläfer. Joe richtete sich auf, starrte um sich,lächelte verächtlich auf seinen Spießgesellen nieder, dessenKopf auf seine Knie gesunken war, stieß ihn mit demFuße an und rief: „Auf! Bist mir ‘n schöner Wächter,Kerl!“
„Na ja, was denn — ‘s ist ja nichts passiert.“
„Na — hast du denn jetzt ausgeschlafen?“
„‘s geht halb und halb.“
„Jetzt heißt‘s aber aufbrechen. Was machen wir nurmit dem bißchen Geld, was wir noch haben?“
„Weiß nicht — lassen‘s hier, wie sonst, denk‘ ich. Wersollt‘s fortnehmen, wenn wir weg sind? Sechshundertundfünfzigin Silber ist auch zu viel zum Mitschleppen.“
„Na ja — ist recht — wenn wir doch noch mal herkommenmüssen.“
„Dann ist‘s aber doch besser, in der Nacht herzukommen,wie sonst.“
„Ja — aber denk‘ mal, ‘s könnt‘ doch ‘ne ziemlicheZeit dauern, bis ich zu dem Streich kommen kann, ‘skönnt sich was zutragen und ‘s liegt hier grad‘ an keinemguten Platz. Wollen‘s doch lieber richtig vergraben —und tief vergraben.“
„‘s ist ‘n guter Gedanke,“ sagte der andere, ging durchden Raum, kniete nieder, riß einen der Herdsteine aufund holte einen Sack heraus, der vielversprechend klang.Er nahm zwanzig bis dreißig Dollar für sich und ebensovielfür Joe heraus und gab den Sack letzterem, der inder Ecke kniete, mit seinem Messer die Erde aufwühlend.
Die Jungen vergaßen alle Angst, all ihre Verlegenheitbei diesem Anblick. Mit glänzenden Augen verfolgtensie jede Bewegung. Der Glanz da unten übertraf all ihreVorstellungen! Sechshundert Dollar war Geld genug,ein halbes Dutzend kleiner Jungen reich zu machen! Hierließ sich unter den glücklichsten Aussichten nach Goldgraben, da gab‘s kein Kopfzerbrechen, wo man grabenmüsse. Jeden Augenblick stießen sie einander an — einleichtes Verständigungsmittel, denn ihr einziger Gedankewar: Freust dich, daß wie hier sind.
Joes Messer stieß auf etwas.
„Holla,“ sagte er.
„Was gibt‘s?“ fragte der andere Strolch.
„‘n halb verfaulter Balken — nee, glaub‘, ‘s ist ‘nKasten. Hier, hilf mal, wollen sehn, was es gibt. Ho,da hab‘ ich ‘n Loch hineingebrochen.“
Er griff mit der Hand hinunter und zog sie wiederheraus.
„Mensch — ‘s ist Geld!“
Die beiden untersuchten die Handvoll Münzen. Eswar wirklich Gold. Die Jungen oben waren ebenso erregtund entzückt wie sie.
Joes Spießgeselle sagte: „Wollen gleich ganzeArbeit damit machen. Dort liegt ‘ne alte verrostete Hackein der Ecke, dort auf der anderen Seite vom Herd — sahsie vorhin.“
Er lief hin und brachte Hacke und Schaufel derJungen. Joe nahm die Hacke, betrachtete sie mit kritischerMiene, schüttelte den Kopf, murmelte etwas vor sich hinund begann damit zu hantieren.
Die Kiste war bald ausgegraben. Sie war nicht sehrgroß; sie hatte Eisenbänder und war sehr stark gewesen,bevor der Zahn der Zeit sie angefressen hatte. Der Kerlbetrachtete den Schatz eine Weile aufmerksam, schweigend,aber vergnügt.
„Kerl, ‘s sind gewiß tausend Dollar,“ sagte er.
„‘s hat ja immer schon geheißen, daß Murrels Bandevorigen Sommer hier gehaust hat,“ bemerkte der Fremde.
„Weiß wohl,“ entgegnete Joe, „und mir scheint, ‘ssieht ganz danach aus.“
„Jetzt brauchst du deinen Streich nicht mehr auszuführen,sollt‘ ich denken.“
Der Indianer runzelte die Stirn und sagte: „Dukennst mich nicht. Wenigstens weißt du nichts von dieserSache. Hier will ich nicht rauben — ‘s ist Rache!“Und mit flammenden Augen sprang er auf. „Brauch‘deine Hilfe dazu nicht! Wenn‘s geschehen ist — nachTexas. Geh‘ du nur heim zu deiner Hure und der Brut— und sei bereit, wenn du von mir hörst!“
„‘s ist gut, wenn du‘s sagst. Was woll‘n wir hiermitmachen — wieder vergraben?“
„Ja. (Freude und Entzücken oben.) Nein, beimgroßen Geist, nein! (Tiefe Niedergeschlagenheit.) ‘skönnt‘ leicht vergessen werden. — Die Hacke da hat frischeErdspuren! (Die Jungen wurden fast ohnmächtig vorplötzlichem Schreck.) Was haben ‘ne Hacke und ‘neSchaufel hier zu tun? Wie kommt frische Erde dran?Wer hat sie hier gebraucht — und wo sind die Burschenhin? Hast du was gehört — was gesehn? Zum Teufel— wieder vergraben und sie kommen lassen und die Erdefrisch aufgewühlt sehen? Wär‘ so was! Glaub‘s. Wirnehmen das mit.“
„Na, meinetwegen. Aber überleg‘ erst, wohin. Meinstdu Nummer eins?“
„Nein — Nummer zwei — unter dem Kreuz. Derandere Platz ist schlecht — zu gewöhnlich.“
„Recht. ‘s ist bald dunkel genug, aufzubrechen.“
Joe richtete sich auf und ging von Fenster zu Fenster,vorsichtig hinausspähend. Plötzlich sagte er: „Wer könnt‘doch nur das Handwerkszeug da hergebracht haben?Glaubst du, sie könnten oben sein?“
Den Jungen stand der Atem still. Joe legte die Handans Messer, zögerte einen Moment unentschlossen, dannbegann er die Treppe zu ersteigen. Die Jungen dachtenan den Schrank, aber die Kräfte versagten ihnen. DieSchritte näherten sich knarrend — die verzweifelte Lagestachelte die gesunkenen Lebensgeister wieder auf — siewaren im Begriff, zum Schrank zu laufen, als plötzlichdas Krachen brechenden Holzes ertönte und Joe wiederunten ankam, mit den Trümmern der Treppe.
Fluchend rappelte er sich empor und der andereStrolch sagte: „Na, wozu das alles! Wenn jemand daist und er steckt oben — laß ihn stecken — was kümmert‘suns? Wenn einer runter kommen will und sich hier Ungelegenheitenzuzieht — meinetwegen! In fünfzehn Minutenwird‘s dunkel — dann soll uns folgen, wer will.Meine Meinung ist: die Kerls, die die Sachen hierher geschleppthaben, haben uns gesehen und uns für Gespensterund Geister gehalten. Will wetten, sie laufen noch!“
Joe brummte noch ‘ne Weile, dann stimmte er demanderen bei, das letzte Tageslicht zur Ausführung der nötigenVorbereitungen zu benützen. Kurz danach schlüpftensie aus dem Haus ins Zwielicht und wandten sich mitihrer kostbaren Last dem Flusse zu.
Tom und Huck erhoben sich, warteten, bis alles stillwar und starrten dann durch Ritzen im Gebälk ihnen nach.Folgen! Kein Gedanke — sie waren zufrieden, den Bodenzu erreichen, ohne sich den Hals gebrochen zu haben,und machten sich über den Hügel auf den Heimweg. Siesprachen nicht viel, sie waren zu ärgerlich auf sich selbst —ärgerlich über die Dummheit, Hacke und Spaten mit hierherzu nehmen. Denn ohne das würde Joe niemals Verdachtgeschöpft haben. Er hätte Silber und Gold vergraben,um erst seine „Rache“ auszuführen — und dannwürde er das Unglück gehabt haben, nichts mehr vorzufinden!Bitteres, bitteres Verhängnis, daß sie ihr Werkzeugmitschleppen mußten! Sie nahmen sich vor, auf denSpanier zu achten, wenn er ins Dorf kommen sollte, umdas Terrain für seinen Racheplan zu sondieren, und ihmdann nach „Nummer zwei“ zu folgen, mochte es sein, woes wollte. Da kam Tom ein schrecklicher Gedanke:
„Rache? Wenn er uns meinte. Huck?“
„Er wird doch nicht?“ stotterte Huck, fast umfallend.
Sie sprachen eifrig darüber und einigten sich in derAnnahme, daß er jemand anders gemeint haben müsse —im schlimmsten Fall könne er nur Tom meinen, da nurdieser Zeugnis abgelegt habe.
Was ein sehr, sehr schwacher Trost für Tom war,allein in Gefahr zu sein! Ein Leidensgefährte würde hierein besserer Trost sein — dachte er.
Achtundzwanzigstes Kapitel.
Das Abenteuer des Tages quälte Tom nachts imTraum. Manchmal hielt er den Schatz in Händen, manchmalzerrann er ihm zwischen den Fingern in nichts, bisihn der Schlaf verließ und das Erwachen ihn von derschrecklichen Wirklichkeit seiner Lage überzeugte. Als eram frühen Morgen, die Einzelheiten seines Abenteuersüberdenkend, dalag, erschienen sie ihm immer undeutlicherund unklarer, als wenn sie sich in irgend einer anderenWelt ereignet hätten oder in längst vergangener Zeit.Dann schien ihm das große Ereignis wie ein Traum!Es sprach sehr viel dafür, namentlich, daß die Menge Geld,die er gesehen hatte, gar zu groß schien, um wirklichexistieren zu können. Er hatte nie mehr als fünfzig Dollarin einem Haufen gesehen und wie alle Jungen seinesAlters und seiner Lebenslage, glaubte er, daß alle „Hunderte“und „Tausende“ nichts anderes seien als glänzendeRedensarten, und daß eine solche Summe in Wirklichkeitgar nicht denkbar sei. Nicht einen Augenblick hatte er gedacht,daß sich in irgend jemandes Besitz eine solcheSumme, wie hundert Dollar war, finden könne. Wenner sich seine vergrabenen Schätze vorstellte, rechnete erhöchstens mit ‘ner Handvoll Schillinge.
Aber die Einzelheiten seines Abenteuers traten ihm,je mehr er daran dachte, um so schärfer und klarer vor dieSeele und plötzlich ertappte er sich über dem Gedanken,daß möglicherweise doch nicht alles ein Traum gewesensei. Diese Ungewißheit mußte abgeschüttelt werden.Schnell wollte er sein Frühstück hinunterschlingen unddann Huck aufsuchen.
Huck saß auf dem Rande eines Bootes, seine Füßeins Wasser baumeln lassend und mit sehr melancholischemGesichtsausdruck. Tom beschloß, Huck selbst auf den Gegenstandkommen zu lassen. Tat er‘s nicht, dann waralles ein Traum gewesen.
„Holla, Huck!“
„Morgen, Tom!“
Minutenlanges Stillschweigen.
„Tom, hätten wir den verdammten Spaten obenbeim Baum gelassen, hätten wir‘s Geld bekommen. Ach,‘s ist zum Verrücktwerden!“
„‘s war also kein Traum, ‘s war kein Traum! Möcht‘fast, ‘s wär einer gewesen.“
„Was ist kein Traum?“
„O, die Geschichte von gestern. Dachte halb, ‘s wäreiner gewesen.“
„Traum! Wär‘ die Treppe nicht gebrochen, hättestdu was von ‘nem Traum erleben können! Hab‘ die ganzeNacht von dem verdammten grünäugigen Spanier geträumt,wie er auf mich losging. Der Henker hol‘ ihn!“
„Nicht hol‘ ihn! Find ihn! Find‘s Geld!“
„Tom — wollen ihn lieber nicht wiederfinden! Michwürd‘s schütteln, wenn ich ihn bloß wieder zu sehenkriegte.“
„Gut, so tu ich‘s. Möcht‘ ihn schon sehen und ihmnachschleichen — nach Nummer zwei.“
„Nummer zwei; ja, das ist‘s. Denk‘ immerfort drübernach. Aber ich kann‘s nicht rauskriegen. Was denkstdu?“
„Weiß nicht. Ist zu tief. Sag‘, Huck — könnt‘snicht die Nummer von ‘nem Haus sein‘?“
„Goddam! — Nein, Tom, das ist‘s nicht. Wenn‘sist, ist‘s doch nicht hier im Dorf. Hier gibt‘s keine Nummern.“
„Ja, das ist wohl so. Laß mich ‘ne Minute denken.He — ‘s ist die Nummer von ‘nem Zimmer — in ‘nemWirtshaus — weißt du!“
„Das ist‘s! Das ist ‘n Kniff! ‘s gibt aber nur zweiWirtshäuser. Wir können‘s leicht finden.“
„Wart‘ hier, Huck, bis ich wiederkomm‘.“
Im Nu war Tom verschwunden. Er wollte sich aufoffener Straße nicht mit Huck sehen lassen. Eine halbeStunde war er fort. Er fand, daß im besseren WirtshausNummer zwei seit langer Zeit von einem jungen Advokatenbewohnt war und noch wurde.
Im andern Wirtshaus war Nummer zwei in geheimnisvollesDunkel gehüllt. Der Sohn des Wirtessagte, daß sie stets geschlossen gehalten werde und daß ernie jemand habe hineingehen oder herauskommen sehen— ausgenommen zur Nachtzeit; Näheres wußte er nicht,er selbst schon habe den Gedanken gehabt, es spuke in demZimmer und schließlich wußte er nichts von einem Lichtdarin in der letzten Nacht.
„Das hab‘ ich alles rausgekriegt, Huck. Ich denke, ‘sist die Nummer zwei, die wir brauchen.“
„Denk‘ auch, Tom. Und was willst du jetzt tun?“
„Laß mich nachdenken.“
Tom dachte lange nach, dann sagte er: „Will‘s dirsagen. Die Hintertür von Nummer zwei geht auf denGang zwischen Wirtshaus und der alten Mauer. Nunsollst du alle Schlüssel, die du nur auftreiben kannst, zusammentragenund ich will alle von meiner Tante nehmenund in der ersten dunklen Nacht wollen wir hingehen undsie versuchen. Und dann sollst du auf Joe aufpassen, weiler doch gesagt hat, daß er hier ‘ne Gelegenheit für seineRache aushorchen will. Wenn du ihn siehst, folgst duihm; und wenn er dann nicht nach Nummer zwei geht,dann ist‘s nicht der rechte Ort.“
„Herr Gott, ich wag‘s nicht, ihm zu folgen!“
„Unsinn, bei Nacht ist‘s sicher. Er braucht dich janicht zu sehen — und wenn er‘s tut, denkt er sich nichtsdabei.“
„Na, ‘s ist gut: wenn‘s dunkel ist, denk‘ ich, ich folg‘ihm. Werd‘s versuchen.“
„Aber sicher, Huck — wenn du nicht gut aufpaßt,wird‘s nichts!“
Neunundzwanzigstes Kapitel.
Nachts waren Tom und Huck bereit für ihr Abenteuer.Bis nach neun Uhr trieben sie sich in der Nachbarschaftdes Gasthofes herum, einer stets den bewußtenGang aus einiger Entfernung bewachend, der andere dievordere Tür. Niemand passierte den Gang; niemand, derdem Spanier ähnlich gesehen hätte, passierte die Tür. DieNacht versprach klar zu werden; so ging Tom nach Hause,mit der Verabredung, daß, sollte sich der Himmel noch bewölken,Huck kommen und miauen solle, worauf er wiederherauskommen und die Schlüssel probieren würde. Aberdie Nacht blieb klar, Huck beschloß seine Wacht und zog sichgegen 12 Uhr zum Schlafen in eine leere Zuckertonnezurück.
Am Dienstag hatten die Jungen ebensowenig Erfolg;auch am Mittwoch. Aber die Donnerstagnacht ließsich besser an. Tom schlüpfte zu guter Zeit mit der altenBlechlaterne seiner Tante und einem großen Tuch zum Zudeckenaus dem Haus. Er versteckte die Laterne in HucksZuckertonne und die Wache begann. Eine Stunde vorMitternacht wurde das Gasthaus geschlossen und seineLichter (überhaupt die einzigen) erloschen.
Kein Spanier hatte sich gezeigt. Niemand war imGange gesehen worden. Alles versprach günstigen Erfolg.Absolute Finsternis herrschte, und die tiefe Stillewurde nur zuweilen von fernem Donner unterbrochen.
Tom holte seine Laterne, hüllte sie fest in das Tuch,und die beiden Abenteurer tasteten sich in der Finsternisdem Wirtshaus zu, Huck blieb als Schildwache zurück,Tom begab sich weiter den Gang hinauf. Dann folgteeine Zeit ängstlicher Erwartung, die gleich einer schwerenLast auf Hucks Geist lastete. Er begann zu hoffen, esmöge sich wenigstens ein schwacher Schimmer von der Laternezeigen — es hätte ihm Furcht eingejagt, aber wenigstenshätte es ihm gezeigt, daß Tom noch am Lebensei.
Stunden schienen vergangen, seit Tom verschwundenwar. Sicher war er verunglückt. Vielleicht war er gartot; vielleicht war sein Herz vor Schreck und Aufregunggebrochen. In seiner Unruhe ließ sich Huck immer mehrden Gang hinauflocken, alles mögliche Unheil witterndund jeden Augenblick in Erwartung eines schrecklichen Unglücks,das ihn das Leben kosten werde.
Es gehörte vielleicht nicht mehr viel dazu, denn erschien nur mehr fähig, Fingerhut-Portionen Luft einzuatmenund sein Herz mußte bald springen, so heftig schluges. Plötzlich blitzte vor ihm Licht auf und Tom kam herangerast, ihm zurufend: „Fort — fort — wenn dir deinLeben lieb ist!“
Er brauchte nicht zu wiederholen; einmal war genug.Huck rannte mit dreißig bis vierzig Meilen Schnelligkeit,ehe Tom noch ausgesprochen hatte.
Die Jungen standen nicht eher, als bis sie den Schattendes Schlachthauses am entferntesten Ende des Dorfeserreicht hatten. Im Moment ihrer Ankunft an diesem geschütztenOrt begann der Sturm einzusetzen und Regenstürzte nieder. Sobald Tom wieder atmen konnte, sagteer: „Huck, ‘s war schrecklich! Ich versuchte zwei Schlüssel,so leise ich konnte, aber die schienen solch ‘nen mächtigenSpektakel zu machen, daß ich ganz atemlos vor Schreckwar. Na, ohne zu wissen, was ich tat, drückte ich auf denGriff und die Tür sprang auf! Sie war gar nicht zu! Ichtrat ein und hob das Tuch auf, und beim Geist des großenCäsar —“
„Was — was sahst du, Tom?“
„Huck — ich wär beinahe auf die Hand des Indianer-Joegetreten!“
„Nein!“
„Ja. Er lag da auf dem Boden fest schlafend, dasalte Pflaster über dem Auge, die Arme weit ausgebreitet.“
„Herrgott, was tatst du? Wachte er auf?“
„Kein Gedanke. Denk‘, er war besoffen. Ich raffteschnell das Tuch auf und rannte davon!“
„Hätt‘ gewiß nicht an das Tuch gedacht, glaub‘ ich!“
„Na, ich sollt‘ wohl! Meine Tante hätt‘ mich schondrangekriegt, wenn ich‘s verloren hätt‘.“
„Sag‘, Tom, hast du die Kiste gesehen?“
„Huck — hab‘ mir keine Zeit genommen, mich lang‘umzusehen. Weder die Kiste hab‘ ich gesehen noch ‘sKreuz. Nur ‘ne Flasche und ‘n Zinnbecher auf der Erdebeim Indianer-Joe hab‘ ich gesehen; und dann zwei Fässerund ‘ne Menge Flaschen. Weißt du jetzt, warum dieBude ‚verhext‘ ist?“
„Na?“
„Na — mit Schnaps ist sie verhext! Ob all dieTemperenzler-Gasthäuser so ‘ne verhexte Bude haben, he,Huck?“
„Na — ich denk wohl! Wer hätt‘ aber so was gedacht!Aber sag‘, Tom, ist jetzt nicht ‘ne verwünscht guteGelegenheit, die Kiste zu erwischen? Wenn Joe doch betrunkenist!“
„Teufel auch — versuch‘s!“
Huck schauderte.
„Na — ich denk‘ doch nicht.“
„Na — ich auch, Huck. Bloß eine leere Flasche beiJoe ist nicht genug. Wären‘s drei gewesen, wär‘ er wohlbesoffen genug, und ich tät‘s.“
Langes, nachdenkliches Schweigen, dann sagte Tom:
„Will dir was sagen, Huck, wollen die Sache nichtwieder probieren, wenn wir nicht wissen, daß Joe nichtdrin ist. ‘s ist zu gräßlich! Wenn wir jede Nacht Wachehalten, ist‘s todsicher, daß wir ihn mal ‘rausgehen sehen,dann ist‘s ‘ne Kleinigkeit, die Kiste ‘rauszuholen!“
„Na, ist mir recht. Werd‘ die ganze Nacht wartenund so jede Nacht, wenn du dann das andere machenwillst.“
„Schon gut, werd‘s schon machen. Alles, was dutun sollst, ist, daß du kommst und wirfst ‘ne Handvoll Erdeans Fenster, dann werd‘ ich schon aufwachen. — Jetzt,Huck, scheint mir, ‘s Wetter ist vorüber, werd‘ nach Hausegehen. In ‘ner halben Stunde wird‘s Tag. Geh zurückund wach‘ noch so lange — willst du?“
„Sagte, ich würd‘s, und so werd‘ ich, Tom! ‘n ganzesJahr werd‘ ich jede Nacht wachen! Ich schlaf denganzen Tag, und nachts halt‘ ich Wache.“
„‘s ist gut. Aber wo willst du jetzt schlafen?“
„Auf Ben Rogers Heuboden. Er läßt mich, undauch seines Alten Nigger, Onkel Jack. Onkel Jack hab‘ ichWasser geholt, wenn er‘s verlangt hat, und manchmal,wenn ich ihn bitte, gibt er mir zu essen — wenn er wasüber hat. ‘s ist ‘n verdammt feiner Nigger, Tom. Erliebt mich, weil ich nie tu‘, als ständ‘ ich über ihm. Manchmalhab‘ ich mich richtig hingesetzt und mit ihm gegessen.Aber sag‘s niemand! Wenn man schrecklich hungrig ist,tut man wohl was, kümmert man sich den Henker umwas.“
„Na, Huck, werd‘ dich tags nicht stören, kannst ruhigschlafen. Und wenn du was siehst nachts, komm nur gleichund miaue!“
Dreißigstes Kapitel.
Das erste, was Tom am Freitagmorgen vernahm,war eine freudige Nachricht — Familie Thatcher war inder Nacht vorher zurückgekommen! Beides, Joe und derSchatz, sanken für den Augenblick zu sekundärer Bedeutungherunter, und Becky nahm Toms ganzes Interessein Anspruch. Er sah sie und sie verlebten wundervolleStunden mit einigen Schulkameraden, „Blindekuh“ und„Fangen“ spielend. Der Tag war tadellos und wurdein ganz besonders befriedigender Weise beschlossen.
Becky erbettelte von ihrer Mutter die Erlaubnis, dennächsten Tag für das lang‘ versprochene und lang‘ ersehntePicknick festzusetzen, und diese willigte ein. Das Entzückender Kinder war grenzenlos, Toms nicht am wenigsten.Noch vor Sonnenuntergang wurden die Einladungen versandtund das gesamte junge Volk im Dorfe geriet in einwahres Fieber von Vorfreude und angenehmer Erwartung.
Tom wurde durch seine Aufregung bis zu späterStunde wachgehalten und hoffte beständig Huck miauen zuhören und am nächsten Tage Becky und alle Teilnehmeram Picknick mit seinem Schatz in Erstaunen setzen zu können. Aber er wurde enttäuscht. Kein Zeichen ließ sichhören.
Endlich brach der Morgen an, und um zehn oder elfUhr versammelte sich eine ausgelassene, freudestrahlendeGesellschaft bei Thatchers, alles war zum Aufbruch bereit.
Es war nicht die Gewohnheit der Erwachsenen, Picknicksmit ihrer Gegenwart zu stören. Man glaubte dieKinder unter den Fittichen von ein paar jungen Damenvon achtzehn und ein paar jungen Herren von dreiundzwanzigoder so sicher genug. Das alte Dampfboot warfür die Gelegenheit gemietet worden. Bald war der ganzeWeg von der lustigen, mit Vorratsbeuteln bepackten Bandeerfüllt. Sid war krank und hatte zu Hause bleiben müssen;Mary blieb gleichfalls, um ihm Gesellschaft zu leisten.
Das letzte, was Mrs. Thatcher zu Becky sagte, war:„Komm‘ nur nicht zu spät zurück. Vielleicht wird‘s bessersein, Kind, du bleibst zur Nacht bei einem von den Mädchen,das näher bei der Überfahrt wohnt.“
„Dann bleib‘ ich bei Susy Harper, Mama!“
„Schon gut. Und benimm dich ordentlich und treib‘keinen Unsinn!“
Sobald sie fort waren, sagte Tom zu Becky: „Du —ich will dir sagen, was wir tun! Statt zu Joe Harperzu gehn, klettern wir auf den Hügel rauf und gehn zurWitwe Douglas. Die hat sicher Eiscreme! Sie hat fastimmer was — ‘nen ganzen Haufen. Und sie wird sichschrecklich freuen, uns zu haben!“
„Ach, das wird schön werden!“ Dann dachte Beckyeinen Augenblick nach und sagte: „Aber was wird Mamasagen?“
„Woher soll sie‘s denn erfahren?“
Das Mädchen überlegte sich die Sache und sagte zögernd:„Ich denk‘ doch, ‘s ist unrecht — aber —“
„Aber — Unsinn! Deine Mama erfährt‘s nicht, wasschad‘s also? Sie will doch nur, daß du irgendwo gutaufgehoben bist, und glaub‘ nur, sie würd‘ selbst gesagthaben, du solltst dahin gehen, wenn sie nur dran gedachthätt‘. Ich weiß, sie hätt‘s!“
Die glänzende Gastfreundschaft der Witwe Douglaswar ein verlockender Köder. Das und Toms Beredsamkeitbehielten die Oberhand. So wurde beschlossen, niemandwas von dem Programm für die Nacht zu sagen.
Plötzlich fiel Tom ein, Huck könne gerade in dieserNacht kommen und das Zeichen geben. Der Gedankemachte ihn ein wenig nachdenklich. Schließlich konnte er‘saber doch nicht übers Herz bringen, das Projekt mit derWitwe Douglas aufzugeben. Und warum sollte er esaufgeben — war das Zeichen in der letzten Nacht nicht gekommen,warum sollte es denn wohl gerade in dieserNacht kommen? Die Aussicht auf das sichere Vergnügendes Abends schlug die unbestimmte auf den Schatz ausdem Felde. Und — wie Kinder sind — er beschloß ganzder stärkeren Anziehungskraft zu folgen und sich währenddes ganzen Tages keinen Gedanken an das Geld zu gestatten.
Drei Meilen unterhalb des Dorfes legte das Dampfbootan einem bewaldeten Hügel an. Die Gesellschaftschwärmte hinaus und bald hallten die entlegensten Teiledes Waldes und die unzugänglichsten Höhen von Geschreiund Lachen wider. Alle Mittel, heiß und müde zuwerden, wurden gewissenhaft angewandt, und allmählichströmten alle Ausflügler zurück zum Lager, mit tüchtigemHunger ausgestattet und dann begann die Vernichtung derguten Sachen. Nach dem Frühstück wurde eine erfrischendeRuhepause im Schatten breitästiger Eichen gemacht. Dannrief auf einmal jemand: „Wer will mit zur Höhle?“
Alles wollte. Bündel von Kerzen wurden zusammengerafftund geradenwegs hinauf auf den Hügel. DieMündung der Höhle war hoch oben, ein offenes Tor inder Form des Buchstabens A. Die massive eichene Türstand offen. Dahinter tat sich ein kleiner Raum auf, kaltwie ein Eiskeller und von der Natur durch solide Kalkmauerneingefaßt, die von kalter Feuchtigkeit bedecktwaren.
Es war romantisch und geheimnisvoll, hier in tieferDunkelheit zu stehen und auf die grünen, in der Sonneglänzenden Laubmassen hinauszuschauen. Aber der überwältigendeEindruck nahm schließlich doch bedeutend abund das Umhertollen begann wieder. Jeden Augenblickwurde eine Kerze angezündet, dann stürzte sich alles aufden, der sie trug, ein Kampf und mutige Verteidigungfolgten, aber die Kerze war bald zu Boden geschlagenoder ausgeblasen, und dann gab‘s allgemeines Gelächterund eine neue Jagd. Aber alles hat ein Ende. Allmählichbegab sich der Zug tiefer in die Höhle hinab, immertiefer, wobei der flackernde Schein der Lichter die mächtigenFelswände fast bis zu ihrer vollen Höhe von sechzigFuß ungewiß beleuchtete.
Der Weg war hier nicht mehr als acht oder zehn Fußbreit. Alle paar Schritt taten sich noch engere, hohe Gängenach beiden Seiten auf, denn die Douglashöhle war nichtsals ein wildes Labyrinth von verzweigten Gängen, dieüberall auseinander liefen, um sich doch immer wieder zutreffen. Man sagte, es könne jemand viele Tage undNächte durch dies unglaubliche Gewirr von Gängen undSpalten irren, ohne jemals das Ende der Höhle zu finden;und daß er tiefer und immer tiefer, bis in den Mittelpunktder Erde dringen könne, und es wäre doch immer dasselbe— Labyrinth unter Labyrinth, und nirgends einEnde. Niemand „kannte“ die Höhle; das war unmöglich.Die meisten der jungen Leute kannten einen Teildavon und so leicht wagte sich niemand über diesen bekanntenTeil hinaus. Tom Sawyer kannte so viel vonder Höhle wie alle anderen.
Ungefähr dreiviertel Meilen marschierte man in geschlossenemZug durch den Hauptgang, dann begannen sicheinzelne Haufen und Paare seitwärts in die Nebengängezu zerstreuen, durch die unheimlichen Gänge laufend, umsich schließlich zu gegenseitiger Überraschung an irgendeinem Punkt wieder zu treffen. Man konnte wohl einehalbe Stunde auch hier im bekannten Teil herumstreifen,ohne einander zu begegnen.
Schließlich kam Paar auf Paar zur Höhle zurückgeschlendert,mit Talg bespritzt, kalkbeschmiert und ganz berauschtvon den Herrlichkeiten des Tages. Dann warenalle ganz überrascht, daß sie so wenig auf die Zeit geachtethatten und es schon fast Nacht war. Schon seit einer halbenStunde hatte die Schiffsglocke zum Aufbruch gemahnt.Indessen, auch diese Art, die Abenteuer des Tages zu beschließen,war romantisch und deshalb befriedigend. Alsdas Dampfboot mit seiner ausgelassenen Fracht vom Uferabstieß, kümmerte sich niemand ‘nen Deut um die versäumteZeit — außer dem Kapitän.
Huck befand sich bereits auf seinem Wachposten, alsdie Lichter des Dampfbootes an der Landungsstelle vorbeiglitten.Er hörte keinen Ton an Bord, denn das Volkwar so zahm geworden, wie man zu sein pflegt, wenn mansich halbtot gehetzt hat.
Er grübelte darüber, was für ein Boot das sein mögeund warum es nicht am gewöhnlichen Ort anlege — unddann vergaß er es und richtete seine ganze Aufmerksamkeitauf seine eigene Angelegenheit. Die Nacht war bewölktund dunkel. Zehn Uhr schlug‘s, das Wagengerasselschwieg, die Lichter begannen zu verlöschen, der Lärm derFußgänger verstummte nach und nach — das Dorf gingzur Ruhe und überließ den kleinen Wächter dem Schweigenund den Gespenstern. Elf Uhr schlug‘s, und das Lichtim Wirtshaus erlosch; jetzt herrschte überall Finsternis.Huck wartete, schien ihm, sehr lange Zeit, aber nichts geschah.Unruhe überkam ihn. Wenn alles umsonst war?Wenn er genarrt wurde? Warum nicht die Sache aufgebenund sich davon machen?
Da hörte er eine Stimme. Sofort war er ganz Aufmerksamkeit.Vorsichtig wurde die Gangtür geschlossen.Schnell drückte er sich in eine Ecke an der Mauer. Imnächsten Augenblick huschten zwei Männer vorbei, undeiner schien etwas unter dem Arm zu haben. Das mußtedie Kiste sein! So wollten sie also heute den Schatz vergraben.Ob er Tom weckte? Es wäre Wahnsinn gewesen— die Leute wären mit der Kiste entwischt und niemandhätte sie jemals gefunden. Nein, er wollte ihnen folgen;er wollte sich unter dem Schutze der Finsternis ihnen andie Fersen heften. So mit sich selbst sprechend, kam Huckhervor und glitt hinter den Männern her, leise wie eineKatze, barfuß, gerade so weit von ihnen entfernt, um nichtgesehen zu werden.
Eine Zeitlang gingen sie die Flußstraße aufwärts undwandten sich dann durch eine kleine Gasse seitwärts.Immer steil hinauf kamen sie schließlich an den Weg, dernach Cardiff Hill hinaufführte; diesen schlugen sie ein. Siekamen am Haus des alten Wallisers vorbei, in halberHöhe des Hügels, und stiegen, ohne sich aufzuhalten,immer noch höher. Gut, dachte Huck, sie werden‘s imalten Steinbruch vergraben. Aber auch da hielten sie nichtan. Sie gingen vorbei, ganz auf den Hügel. Dannschwenkten sie in den Weg durch den großen Sumachwaldein und waren auf einmal in der Finsternis verschwunden.Huck beeilte sich die Entfernung zu verringern, denn er warsonst nicht mehr imstande, sie im Auge zu behalten. EineWeile rannte er vorwärts; dann hielt er inne, aus Furcht,zu weit geraten zu sein; rannte wieder ein Stück vorwärts,und hielt wieder; horchte; nichts zu hören; nur, daß er dasKlopfen des eigenen Herzens hörte. Der Schrei einer Euleertönte — unheilverkündend; aber keine Fußtritte. Himmel,hatte er sie verloren? Er war im Begriff, Hals überKopf vorwärts zu stürzen, als jemand nicht vier Fuß vorihm sich räusperte. Das Herz fuhr Huck in die Kehle, aberer bezwang sich. Und dann stand er da, zitternd, als hättenihn tausend Fieber auf einmal gepackt, und so schwach,daß er gleich umfallen zu müssen meinte. Er wußte, woer war. Er wußte, er war nicht fünf Schritt von demZaun entfernt, der um den Grund und Boden der WitweDouglas führte. „Famos,“ dachte er, „mögen sie‘s hiervergraben, ‘s wird nicht schwer sein, es hier wieder zufinden.“
Jetzt hörte er eine leise Stimme — eine sehr leiseStimme — die des Indianer-Joe:
„Hol sie der Teufel — muß sie grad‘ heut Gesellschafthaben — ‘s ist Licht, so spät‘s auch ist!“
„Kann nicht sehn!“
Dies war des Fremden Stimme — des Fremden ausdem Beinhaus. Tödlicher Schreck durchfuhr Hucks Herz— dies also war die „Rache!“ Sein erster Gedanke warauszureißen. Dann erinnerte er sich, wie die Witwe Douglasmehr als einmal freundlich gegen ihn gewesen sei —und wer weiß, ob diese da nicht die Absicht hatten, sie zuermorden! Er sehnte sich nach einer Gelegenheit, sie zuwarnen. Aber er wußte, er könnte ‘s nicht wagen; siewürden ihn kriegen und umbringen. All dies und nochanderes ging ihm in einem Augenblick durch den Kopfzwischen den Worten des Fremden und den nächsten Joes.
„Weil der Busch dir im Wege ist. So — hierher —kannst du jetzt sehn?“
„Ja. Denk auch, ‘s ist Gesellschaft da. Besser, wirgeben‘s auf.“
„Aufgeben, wo ich dies Land für immer verlassensoll! Aufgeben und nie wieder ‘ne Gelegenheit haben!Sag‘ dir nochmal, was ich dir schon mal gesagt hab‘ —brauch‘ ihre Pfennige nicht — kannst du haben. Aber ihrMann war gemein gegen mich — oft genug — und erwar der Richter, der mich zu ‘nem Landstreicher gemachthat. Und ‘s ist nicht alles! ‘s ist noch nicht der millionsteTeil davon! Gepeitscht hat er mich — gepeitscht vormGefängnis — wie ‘nen Nigger! Das ganze Dorf konnt‘ssehen! Gepeitscht!! Verstehst du? Er ist mir zuvorgekommen— er ist tot. Aber sie soll dran!“
„Bitt‘ dich — töt‘ sie nicht! Tu‘s nicht!“
„Töten? Wer spricht von töten? Ihn würd‘ ichabschneiden, wenn er hier wär‘ — sie nicht. Wenn mansich an ‘ner Frau rächen will — die muß man an derFratze packen! Schneid‘t ihr die Nase auf und stutzt ihrdie Ohren — wie ‘nem Schwein!“
„Teufel —“
„Behalt deine verdammte Meinung für dich! Wird‘sbeste für dich sein! Werd‘ sie ans Bett festbinden. Wennsie sich zu Tode blutet — was kann ich dafür? Werd‘nicht drum heulen, wenn sie‘s tut. Du, mein Freund —wirst mir dabei helfen — auf meine Rechnung — hab‘ dichnur dazu mitgenommen — möcht‘ für mich allein zu vielsein. Wenn du davonläufst, hau‘ ich dich zusammen —verstehst du? Und wenn ich dich töte, bring‘ ich sie auchum — und dann, denk‘ ich, kann keiner ‘rauskriegen, werdas Geschäft besorgt hat.“
„Na, wenn‘s geschehen muß, rasch dran! Je eher,desto besser — mir läufts ohnehin schon über.“
„Jetzt tun? Wo Gesellschaft da ist? Sollt‘ dir wahrhaftignicht trauen, scheint mir! — Nichts da — wollenwarten, bis die Lichter aus sind — ‘s hat keine Eile.“
Huck fühlte, daß jetzt Stillschweigen eintreten werde— schrecklicher als das mörderischste Geschrei; so hielt erden Atem an und zog sich vorsichtig zurück, wobei er dieFüße vorsichtig und fest aussetzte, immer auf einem Beinbalanzierend, tastend und sich auf eine Seite legend, baldauf diese; dann auf die andere; und dann knackte ein Zweigunter seinen Füßen! Er hielt den Atem an und horchte.Nichts zu hören — vollkommene Stille. Seine Dankbarkeit war grenzenlos. Nun wandte er sich um, so vorsichtig,als wäre er ein Schiff gewesen, und trabte dann rasch,aber vorsichtig davon. Beim Steinbruch angekommen,hielt er sich für sicher; so nahm er die Beine unter die Armeund rannte in gestrecktem Galopp davon. Hinunter, immerweiter hinunter, bis er das Haus des Wallisers erreichthatte. Er klopfte an die Tür und sofort erschienen dieKöpfe des alten Mannes und seiner zwei handfestenSöhne am Fenster.
„Wer spektakelt da? Was für‘n Lärm draußen?Was gibt‘s?“
„Laßt mich ein — schnell! Werd‘ euch alles sagen!“
„So — wer ist‘s denn?“
„Huckleberry Finn — schnell, laß mich rein!“
„Huckleberry Finn — so! ‘s ist ein Name, denk ich,dem sich nicht viel Türen öffnen! Aber laßt ihn ‘rein,Burschen, woll‘n sehen, was er hat.“
„In des Himmels Namen — sagt‘s niemand, daßich euch was erzählt hab‘,“ waren Hucks erste Worte, alser hineingelassen war. „Tut‘s nicht — würd‘ sicher getötet— aber die Witwe ist oft genug freundlich gegen michgewesen und ich werd‘s sagen — werd‘s sagen, wenn ihrversprecht, nicht zu sagen, daß ich‘s gesagt hab‘.“
„Bei St. Georg — er hat was zu sagen — oder ertät‘ nicht so,“ rief der Alte. „Heraus damit, und daß ihr‘sniemand sagt, Burschen!“
Drei Minuten später waren der Alte und seine Söhnewohlbewaffnet oben auf dem Hügel und drangen auf denZehen in den Sumachwald ein, die Büchse in derHand.
Huck begleitete sie nicht weiter. Er verbarg sich hintereinem Felsblock und lauschte.
Langes, angstvolles Schweigen — und dann plötzlichein Schuß und ein Schrei!
Huck wartete nichts weiter ab. Er sprang auf undrannte den Hügel hinunter, so schnell ihn seine Beine tragenwollten.
Einunddreißigstes Kapitel.
Beim ersten Tagesgrauen am nächsten Tage, einemSonntagsmorgen, kam Huck den Hügel hinaufgeschlichenund klopfte leise an des Wallisers Tür.
Die Inwohner schliefen, aber es war infolge der aufregendenEreignisse der Nacht ein sehr leichter Schlaf.Eine Stimme fragte durchs Fenster: „Wer da?“
Hucks schüchterne Stimme antwortete in leisem Ton:„Bitte, laß mich ‘rein — ‘s ist nur Huck Finn.“
„‘s ist ein Name, dem sich die Tür bei Tag und Nachtöffnen kann, Bursche — und willkommen!“
Dies waren ungewohnte Worte für die Ohren deskleinen Herumstreichers und die angenehmsten, die er jegehört hatte. Er konnte sich nicht erinnern, die Schlußwortejemals vorher gehört zu haben.
Die Tür wurde sofort geöffnet und er schlüpfte hinein.Huck bekam einen Stuhl, und der Alte und seineEnakssöhne kleideten sich rasch an.
„Nun, mein Junge, hoff‘, ‘s geht dir gut und du hastHunger, denn ‘s Frühstück wird mit der Sonne fertig seinund ‘s wird zudem tüchtig heiß sein — brauchst keine Sorgenzu haben. Ich und die Jungen hofften, würd‘st letzteNacht nochmal wieder hierher kommen.“
„Hatt‘ zu große Angst,“ sagte Huck, „und machte, daßich fortkam. Lief davon, als die Schüsse losgingen, undhielt erst nach drei Meilen an. Jetzt bin ich gekommen,weil ich wissen möchte von — Ihr wißt schon! und komm‘vor Tageslicht, weil ich den Teufeln nicht begegnen möcht,selbst wenn sie tot wären.“
„Glaub‘s, armer Kerl, siehst aus, als hättst du ‘neböse Nacht hinter dir — na, hier ist ‘n Bett für dich, wenndu gefrühstückt hast. Nun — tot sind sie nicht, leider —tut uns wahrhaftig leid genug. Du weißt, wir wußtennach deiner Beschreibung wohl, wo wir sie am Kragenkriegen würden, so schlichen wir auf den Zehen bis fünfzehnSchritt von ihnen entfernt — ‘s war dunkel wie in‘nem Loch — und gerade da fühlt‘ ich, daß ich niesenmüsse. ‘s war wohl grad‘ der rechte Augenblick! Ichversucht‘, es zurückzuhalten, aber keine Möglichkeit, ‘swollte kommen und ‘s kam! Ich war voran, die Pistoleschußfertig, und wie nun mein Niesen die Schufte aufschreckte,hört ich ‘n Rascheln vor mir, so rief ich: „Feuer,Jungens!“ und gab ‘nen Schuß, wo die Kerle waren.Ebenso meine Jungen. Aber wie ‘n Wind waren siefort, diese Halunken; wir hinterher, runter durch denWald. Denk, wir haben sie nicht getroffen. Im Laufengaben sie noch jeder ‘nen Schuß ab, aber die Kugeln fuhrenvorbei und taten uns nichts. Sobald wir sie nicht mehrhörten, gingen wir heim und weckten die Konstabler. Siewollten ‘ne Treibjagd machen und gingen runter, die Flußuferabzusuchen, und wenn‘s hell ist, woll‘n sie und derSheriff die Wälder vornehmen. Meine Jungen werdenauch dabei sein. Wollt‘ nur, wir hätten so was wie ‘neBeschreibung von diesen Galgenvögeln — ‘s würd ‘n gutTeil helfen. Du konntest wohl im Dunkeln nicht sehen,was es für Kerle waren, denk‘ ich?“
„Doch — sah sie schon im Dorf und folgte ihnen.“
„Famos! — Beschreib‘ sie — beschreib‘ sie, meinJunge!“
„Der eine ist der taubstumme Spanier, der hier ‘npaarmal ‘rumgeschlichen ist, der andere ein verdächtig aussehender,zerlumpter —“
„‘s ist genug, Junge, kenne die Kerle schon! Traf siemal in den Wäldern hinter dem Garten der Witwe, undsie machten sich auch gleich davon. Fort mit euch, Burschen,sagt‘s dem Sheriff — könnt euer Frühstück morgenessen!“
Sofort verschwanden die Söhne des Alten. Als siedas Zimmer verlassen hatten, sprang Huck auf und rief:„O, bitte, sagt‘s niemand, daß ich‘s war, der sie aufgespürthat — bitte!“
„Ist schon gut, Huck, wenn du‘s wünschst, aber dusollst doch den Lohn für das haben, was du da getan hast!“
„Ach, nein, nein! Bitte, sagt‘s nicht!“
„Sie werden‘s nicht sagen,“ beruhigte der Alte,„und ich auch nicht. Aber warum soll‘s keiner wissen?“
Huck wollte nichts weiter sagen, als daß er schon zuviel über einen der Strolche wisse und nicht wünschte, daßder von seiner Mitwisserschaft Wind bekomme, nicht umdie Welt, denn ‘s wär sicher, daß er dafür getötet werdenwürde.
Der alte Mann versprach nochmals Schweigen undsagte: „Aber, Bursche, wie kamst du denn drauf, diesenGaunern zu folgen? Kamen sie dir verdächtig vor?“
Huck schwieg einen Moment, während er über einermöglichst unverfänglichen Antwort brütete. Dann sagteer: „Na, seht Ihr, ich bin halt mal ‘n ungehobelter Bursche— jeder sagt‘s, und ich weiß nicht, was dagegen einzuwendenwäre — und manchmal kann ich nicht schlafenvor dem Gedanken daran, und nehm‘ mir vor, zu versuchen,mich zu ändern. ‘s war wieder so letzte Nacht. Ich konnt‘nicht schlafen und so kam ich um Mitternacht etwa, drübernachdenkend, auf die Straße, und wie ich an die alteMauer beim Temperenzler-Wirtshaus komme, lehn‘ ichmich so, ohne mir was zu denken, dran. Na, gerade indem Augenblick kamen die beiden Strolche angeschlichen,dicht an mir vorbei, was unterm Arm tragend; es ist gewißgestohlen, denk ich. Der eine rauchte, der andere wollt‘auch Feuer haben; blieben also gerade vor mir stehn, undbeim Anzünden der Zigarren wurden ihre Gesichter erleuchtet,und ich sah, daß der größere der taubstummeSpanier war — an den weißen Haaren und dem Pflasteraus dem Auge, — und der andere war ein roher, zerlumpterTeufel.“
„Konntst auch die Lumpen beim Leuchten der Zigarrensehen?“
Dies verwirrte Huck für ‘nen Augenblick. Dann sagteer: „Ja, ich weiß nicht — aber ‘s schien mir wenigstenso.“
„Dann gingen sie weiter, und du —?“
„Folgte ihnen — ja, ‘s war so. Wollt‘ doch sehen,was sie vorhätten — sie schlichen so verdächtig davon. Ichfolgte ihnen bis zum Garten der Witwe und stand dortim Dunkeln und hörte den Zerlumpten für die Witwe bitten,und der Spanier schwor, er wollt‘ der Witwe die Nasenlöcheraufschneiden; gerade so wie ich‘s Euch sagte undEuren —“
„Was, all das sagte der taubstumme Mann!“
Huck hatte wieder einen schrecklichen Mißgriff begangen.Er hatte sich die größtmöglichste Mühe gegeben, denAlten nicht erraten zu lassen, wer der Spanier sei, unddoch schien ihn seine Zunge trotz aller Vorsicht in Ungelegenheitenbringen zu wollen. Er machte krampfhafteAnstrengungen, aus seiner Verwirrung herauszukommen,aber das Auge des alten Mannes haftete auf ihm, schärferund immer schärfer. Plötzlich sagte der Walliser: „Meinguter Junge, brauchst dich nicht vor mir zu fürchten, möcht‘um alles in der Welt nicht ein Haar auf deinem Hauptekrümmen. Nein — ich würd‘ dich beschützen — verlaßdich drauf. Dieser Spanier ist nicht taubstumm. Da hastdu dir was entschlüpfen lassen. Du weißt was über diesenKerl, das du nicht verraten möchtest. Na, vertrau‘dich mir an — sag‘ mir, was es ist, vertrau‘ mir — werd‘dich nicht verraten!“
Huck blickte in des alten Mannes ehrliche Augen,dann beugte er sich hinüber und flüsterte ihm ins Ohr: „‘sist kein Spanier — ‘s ist der Indianer-Joe!“
Der Walliser fuhr fast von seinem Stuhl auf. Nachkurzer Pause sagte er dann:
„‘s ist jetzt klar genug. Als du von Nasenaufschlitzenund Ohrenstutzen sprachst, dacht‘ ich, ‘s wär deine eigeneErfindung, denn kein Weißer übt so ‘ne Rache. Aber einIndianer! Das ist freilich ‘n großer Unterschied.“
Während des Frühstücks ging die Unterhaltung weiter,in deren Verlauf der Alte erwähnte, das letzte, wassie getan hatten, bevor sie zu Bett gegangen seien, sei gewesen,mit einer Laterne die Kampfstelle nach Blutspurenzu untersuchen. Die hätten sie nicht gefunden, wohl aberein dickes Bündel mit —
„Mit was?“
Wären die Worte Blitze gewesen, sie hätten nichtschneller aus Hucks bleichen Lippen kommen können. SeineAugen waren weit aufgerissen, sein Atem stockte — indemer auf Antwort wartete. Der Walliser stutzte — zögertemit der Antwort — drei Sekunden — fünf Sekunden —zehn — dann endlich entgegnete er: „Mit Einbrecherwerkzeug.— Nanu, was ist‘s mit dir?“
Huck sank nieder, sein Herz klopfte stürmisch, aberer war dankerfüllt, unsagbar dankerfüllt. Der Wallisersah ihn wieder scharf an, erstaunt, und sagte:
„Ja — Einbrecherwerkzeug. Schien dich mächtig zufreun. Aber was geht das dich an? Was dachtest dudenn, was wir gefunden hätten?“
Huck saß schon wieder in der Klemme. ForschendeAugen richteten sich wiederum auf ihn — alles hätte erfür eine glaubliche Antwort gegeben. Nichts fiel ihmein; die forschenden Augen drangen tiefer und tiefer —eine unsinnige Antwort drängte sich ihm auf — Zeit zurÜberlegung gab‘s nicht, so stieß er auf gut Glück mitschwacher Stimme heraus:
„Sonntagsschulbücher, vielleicht —“
Der arme Huck war zu verwirrt, um lächeln zukönnen, aber der alte Mann lachte laut und vergnügt,wurde von Kopf bis zu Fuß vom Lachen geschüttelt undsagte schließlich, so ein Lachen wäre gerade so gut wie barGeld in der Tasche, denn es mache jede Doktorrechnungüberflüssig. Dann fügte er hinzu: „Kleiner Dummkopf,bist ja ganz blaß und zitterst; bist nicht wohl. ‘s ist keinWunder, daß du ein wenig aus der Balanze bist. Abersollst schon wieder ‘reinkommen. Ruhe und Schlaf wirddich wohl zurechtbringen — hoff‘ ich.“
Huck ärgerte sich, daß er ein solcher Esel gewesen undsolche Aufregung gezeigt hatte, hatte er doch seit dem Gesprächam Gartenzaun der Witwe ohnehin schon den Verdachtgehabt, daß jenes Bündel, das er vom Wirtshaushatte forttragen sehen, gar nicht sein Schatz gewesen sei.Indessen hatte er das doch nur vermutet, gewußthatte er es nicht; und so war die Erwähnung von der Auffindungdes Bündels zuviel gewesen für seine Selbstbeherrschung.Da er nun aber volle Gewißheit hatte, beruhigteer sich bald und wurde ganz vergnügt. Der Schatzmußte noch in Nummer zwei sein, die Kerle würden wohlnoch am gleichen Tage erwischt werden, so konnten er undTom ohne alle Angst oder Furcht vor Überraschung nachtsdas Geld abholen.
Gerade war das Frühstück beendet, da klopfte es andie Tür. Huck sprang schnell in ein Versteck, denn er hattegar keine Lust, mit den letzten Ereignissen in Verbindunggebracht zu werden. Der Walliser ließ einige Damenund Herren ein, unter ihnen die Witwe Douglas, undsah dabei noch verschiedene Gruppen von Bürgern denHügel heraufklettern, um sich den Schauplatz anzusehen.So war also die Sache schon allgemein bekannt. Er mußteden Besuchern die Geschichte der Nacht erzählen, woraufsich die Witwe Douglas bei ihm bedankte.
„Kein Wort davon, Madam. ‘s ist noch ‘n andererda, dem Sie mehr zu danken haben als mir und meinenJungen, denk‘ ich; aber er hat‘s mir nicht erlaubt, seinenNamen zu sagen. Ohne ihn wären wir überhaupt garnicht dazu gekommen.“
Dies rief solche Neugier hervor, daß schließlich dieHauptsache darüber vergessen wurde; aber der Walliserließ seine Besucher sich ruhig die Köpfe zerbrechen und behieltsein Geheimnis für sich, auch als das ganze Dorfvon der Sache erfuhr. Nachdem alle Einzelheiten erörtertwaren, sagte die Witwe: „Ich las noch vorm Einschlafenim Bett, dann schlief ich so fest, daß ich von all dem Lärmnichts hörte. Warum haben Sie mich nicht geweckt?“
„Hielten‘s nicht für nötig. Die Schufte würden dochnicht wiederkommen, würden sich wohl gehütet haben;wozu also Sie wecken und zu Tode erschrecken? Übrigenshaben meine drei Nigger die ganze Nacht vor IhremHaus Wache gehalten. Da kommen sie gerade zurück.“
Noch mehr Besucher kamen, und die Geschichte mußtewährend mehrerer Stunden wieder und immer wieder erzähltwerden.
Während der Schulferien fiel auch die Sonntagsschuleaus, trotzdem war heut alles frühzeitig in der Kirche. Dasaufregende Ereignis wurde lebhaft erörtert. Es wurdeerzählt, daß noch keine Spur von den Landstreichern gefundenworden sei. Als die Predigt zu Ende war, gingdie Frau des Richters Thatcher auf Frau Harper zu, diemit der großen Menge den Gang hinunterschritt, undsagte: „Will meine Becky denn den ganzen Tag schlafen?Habs mir aber wohl gedacht, daß sie todmüde seinwürde.“
„Ihre Becky?“
„Freilich.“ (Mit erschrockenem Blick): „Blieb sie dennabends nicht bei Ihnen?“
„Bewahre.“
Mrs. Thatcher wurde leichenblaß und sank auf eineBank in dem Augenblick, als Tante Polly, mit einer Bekanntensich unterhaltend, vorbeikam. „Guten Morgen,Mrs. Thatcher,“ sagte sie, „guten Morgen, Mrs. Harper.Hab‘ wieder mal ‘nen verlorenen Jungen. Denk‘ wohl,Tom ist die Nacht im Haus von einer von Ihnen geblieben.Nun hat er Angst, in die Kirche zu kommen.Werd‘ wieder mal Abrechnung halten müssen mit ihm.“
Frau Thatcher schüttelte schwach den Kopf und wurdenoch blasser.
„Bei uns ist er nicht gewesen,“ sagte unsicher FrauHarper.
In Tante Pollys Gesicht zeigte sich merkliche Unruhe.„Joe Harper, hast du meinen Tom diesen Morgen schongesehen?“
„Nein, Ma‘m.“
„Wann hast du ihn zuletzt gesehen?“
Joe versuchte sich zu erinnern, konnt‘s aber nicht bestimmtsagen. Die Leute blieben allmählich, neugieriggeworden, stehen. Geflüster entstand, lebhafte Erregungverbreitete sich unter ihnen, Kinder wurden ängstlich ausgehorcht,auch die jungen Wächter. Alle sagten sie, siehätten nicht acht gegeben, ob Tom und Becky bei der Heimfahrtan Bord gewesen seien; es war dunkel gewesen undniemand hatte daran gedacht, sich zu vergewissern, ob auchjemand fehle. Schließlich platzte ein junger Mann damitheraus, sie möchten noch in der Höhle stecken! Frau Thatcherfiel in Ohnmacht, Tante Polly begann zu weinen unddie Hände zu ringen.
Die schrecklichen Worte gingen von Mund zu Mund,von Gruppe zu Gruppe, von Straße zu Straße, und innicht ganz fünf Minuten hallten die Glocken wild, unddie ganze Ortschaft war in Aufregung. Die Geschichte vonCardiff Hill wurde zur gleichgültigen Episode, die Einbrecherwaren vergessen, Pferde wurden gesattelt, Bootebemannt, das Dampfboot instandgesetzt, und ehe der allgemeineSchreck eine halbe Stunde alt geworden, warenzweihundert Mann unterwegs, über den Fluß und aufdem Wege zur Höhle.
Den ganzen langen Nachmittag schien das Dorf totund verlassen. Eine Menge Frauen besuchten TantePolly und Frau Thatcher, und versuchten, sie zu trösten.Oder sie weinten mit ihnen — und das war noch besserals alle Worte.
Während der ganzen schrecklichen Nacht warteten dieFrauen auf Nachricht; aber als schließlich der Morgengraute, bekam man nichts zu hören als: „Schickt mehrKerzen und Lebensmittel“ Frau Thatcher war völlig verzweifelt,Tante Polly nicht weniger. Richter Thatcherschickte hoffnungsvolle Botschaften aus der Höhle, aber siebrachten keine rechte Erleichterung.
Gegen Morgen kam der alte Walliser, mit Lehmund Wachs beschmiert, nach Hause, zu Tode erschöpft. Erfand Huck noch im Bett, das für ihn hergerichtet wordenwar, und im Fieber irreredend. Die Ärzte waren allein der Höhle, so kam die Witwe Douglas, um sich nach demPatienten umzusehen. Sie sagte, sie wolle ihr Bestesfür ihn tun, denn, ob er nun gut, schlecht oder keins vonbeiden sei, er sei Gottes Geschöpf, und nichts, was vonGott sei, dürfe man mißachten. Der Walliser meinte,Huck habe wohl gute Seiten, worauf die Witwe entgegnete:„Sie können sich darauf verlassen. Er trägt desHerren Mal an sich. Er wird ihn nie verlassen. Ertut‘s nie. Er vergißt keine Kreatur, die von ihm stammt.“
Früh am Vormittag kamen einzelne Trupps vonMännern ins Dorf zurück, die meisten aber suchten nochimmer weiter. Alles, was zu berichten war, war, daßman so weit wie noch nie jemand in die Höhle vorgedrungensei; daß jeder Winkel, jede Spalte aufs sorgfältigsteabgesucht worden sei. Wo man auch gehe in denIrrgängen, überall könne man Lichter nah und fern hinund her huschen sehen; Rufe und Pistolenschüsse hättenihren Schall bis in die tiefsten Gänge hinuntergesandt. Aneiner Stelle, fern von dem gewöhnlich besuchten Teil, hatteman die Namen „Becky“ und „Tom“ mit Ruß an einemFelsen geschrieben gefunden, und nahe dabei ein beschmutztesBand. Frau Thatcher erkannte das Band und brachin Tränen aus. Sie klagte, es sei das letzte Andenken, dassie von ihrem Kinde haben solle, und daß keine andere Erinnerungjemals so kostbar sein könne; denn dieses Bandwar das letzte, was sie von dem kleinen Körper bekam,bevor ihn der schreckliche Tod zerstörte. Einige behaupteten,man könne in der Höhle zuweilen fernen Lichtscheinsehen, und dann machte sich jedesmal ein ganzer Truppunter lauten Freudenrufen dorthin auf — und dannfolgte jedesmal die traurigste Enttäuschung. Es ging nichtvon den Kindern aus, es war nur das Licht einesSuchenden.
Drei schreckliche Tage und Nächte schleppten ihre unendlichenStunden dahin, und das Dorf versank in stummeHoffnungslosigkeit. Für nichts anderes hatten die LeuteSinn. Die eben gemachte überraschende Entdeckung, daßder Besitzer des Temperenzler-Wirtshauses Spirituosenim Besitz habe, erregte kaum schwaches Aufsehen, so unerhörtsie auch war.
In einem lichten Moment begann Huck mit schwacherStimme von Wirtshäusern im allgemeinen zu sprechen undfragte schließlich, von vornherein das Schlimmste fürchtend,ob, seit er krank sei, etwas in dem Temperenzler-Wirtshausentdeckt worden sei.
Die Witwe bejahte. Huck fuhr im Bett in die Höhe,die Augen rollend: „Was — was ist‘s?“
„Spirituosen! Und ‘s ist daraufhin zugesperrt worden.Lieg‘ still, Kind — wie hast du mich erschreckt!“
„Nur noch das sagen Sie mir — nur das noch —bitte: — War‘s Tom Sawyer, der‘s entdeckt hat?“
Die Witwe brach in Tränen aus: „Still, still, Kind!habs dir doch gesagt, du sollst nicht sprechen. Du bistsehr, sehr krank!“
Also war nichts als Schnaps gefunden; wär‘s dasGeld gewesen, hätt‘s doch sicher mächtiges Aufsehen erregt.So war also der Schatz für immer verloren — fürimmer! — Aber warum weinte sie denn? Sonderbar,daß die Frau da weinte.
Solche trüben Gedanken gingen Huck durch den Kopf,und infolge der dadurch erzeugten Erschöpfung schlief erein. Die Witwe dachte bei sich: „So da — jetzt schläfter wieder — armer Kerl! Tom Sawyer es finden! Erbarm‘dich — wenn doch jemand den Tom Sawyer findenwollte! Viele gibt‘s sicher nicht, die noch Hoffnung oderauch nur Kraft genug haben, auf die Suche zu gehen!“
Zweiunddreißigstes Kapitel.
Kehren wir jetzt wieder zu Toms und Beckys Anteilam Picknick zurück. Mit der übrigen Gesellschaft trieben siesich durch die finsteren Gänge, die bekannten Wunder derHöhle betrachtend — mit hochtrabenden Bezeichnungenwie „Gesellschaftszimmer“, „Kathedrale“, „Aladins Palast“usw. ausgestattete Wunder. Als dann das lustigeFangen und Verstecken begann, beteiligten sich Tom undBecky eifrig daran, bis auch das allmählich langweiligwurde. Darauf spazierten sie eine gewundene Felsgassehinunter, indem sie mit hochgehaltenen Kerzen die halbvon Spinnweben verdeckten Namen, Daten, Postorteund Mottos lasen, mit denen die Wände verziertwaren.
Als sie so allein und plaudernd weitertrieben, merktensie schließlich, daß sie sich bereits in einem Teil derHöhle befanden, der keine solchen Inschriften aufwies. Siekritzelten ihre eigenen Namen mit Kerzenrauch unter einenFelsvorsprung und gingen weiter. Plötzlich kamen sie aneine Stelle, wo eine Quelle, über Geröll herunterrieselndund Kalkstückchen mit sich treibend, durch endlose Jahrhunderteeinen kleinen Niagara über in ewige Finsternisgehüllte unveränderbare Felsen bildete. Tom zwängteseinen kleinen Körper darunter, um den Wasserfall zu illuminieren.Er fand, daß er eine Art natürliche steinerneTreppe in die Tiefe verbarg, welche zwischen schmalenWänden eingeklemmt war. Die Begierde, den Entdeckerzu spielen, ergriff ihn sofort. Becky stimmte ihm bei, undsie machten zur Sicherheit wieder ein Rauchzeichen undmachten sich auf die Suche. Sie verfolgten diesen Weg,brachten tief in den tiefsten Abgründen der Höhle nochmehrere solche Zeichen an und trieben sich dann kreuz undquer herum, um Dinge zu entdecken, mit denen sie dieOberwelt verblüffen könnten. Irgendwo fanden sie einegroße Höhle, von deren Wölbung eine große Mengeschimmernder Tropfsteine, von der Länge und dem Umfangeeines Mannes herunterhingen. Staunend und sichverwundernd gingen sie hindurch und plötzlich mündetedie Höhle in einen engen Gang, und dieser brachte sie zueinem bezaubernd schönen Springbrunnen, dessen Beckenmit einer Eisschicht glänzenden Kristalls bedeckt war. Erbefand sich in der Mitte eines hallenartigen Raumes,dessen Wände getragen wurden von einer Reihe phantastischgeformter, aus Tropfstein gebildeter Säulen, dasResultat durch Jahrtausende ruhelos fallender Wassertropfen.Unter der Wölbung hatten sich riesige Ballenvon Fledermäusen gebildet, viele tausend aneinanderhängend; die Lichter schreckten die Tiere auf, und sie kamenhundertweise herunter, quiekend und wahnsinnig auf dieFlammen der Kerzen losstürzend. Tom kannte ihre Artund die Gefahr, die hier entstand. Er griff Becky bei derHand und zog sie in den ersten sich auftuenden Gang; undnicht zu früh, denn eine Fledermaus löschte mit ihremFlügel Beckys Licht aus, während sie aus der Höhlerannten. Die Tiere verfolgten die Kinder noch eine guteStrecke, aber die Flüchtlinge stürzten sich in jeden neuenGang und entgingen so schließlich der gefährlichen Situation.Tom entdeckte einen unterirdischen See, dessendüsteres Wasser weit entfernt sich im Schatten des Unbekanntenverlor. Tom wollte seine Ufer umwandern,meinte aber, es möchte besser sein, sich vorher zu setzenund eine Weile zu ruhen. Jetzt, zum erstenmal legte sichdie tiefe Stille der Umgebung gleich einer feuchten Handauf die Gemüter der Kinder.
Becky sagte: „Weißt du, drauf geachtet hab‘ ich janicht, aber es scheint mir so lange her, seit ich die anderngehört hab‘.“
„Na, Becky, denk‘ doch nur, wir sind doch tief unterihnen, und ich weiß nicht, wie weit nördlich oder südlichoder westlich oder was sonst. Können sie hier unmöglichhören.“
Becky wurde ängstlich. „Möcht‘ doch wissen, wielang‘ wir schon hier unten sind, Tom. Laß uns lieberumkehren.“
„Ja, denk auch, ‘s ist besser. Vielleicht ist‘sbesser.“
„Kannst du den Weg finden, Tom? Für mich ist‘sein reiner Irrgarten.“
„Denk wohl, ich könnt ‘n finden. Aber dann dieFledermäuse, wenn die uns die Kerzen ausmachen, ist‘s‘ne schreckliche Sache. Laß uns ‘nen anderen Weg versuchen,wo wir nicht durch müssen.“
„Ja, aber ich hoff‘, wir werden uns nicht verlaufen.‘s wär doch zu gräßlich.“
Und das Kind schüttelte sich schaudernd beim bloßenGedanken an die furchtbare Möglichkeit.
Sie verfolgten einen Gang lange Zeit schweigend,nach jeder neuen Öffnung schauend, ob sich dort nicht einsihrer Merkmale sehen lasse; aber nichts war zu sehen. Sooft Tom seine Untersuchung anstellte, durchforschte Beckysein Gesicht nach einem ermutigenden Zeichen, und ersagte zuversichtlich: „O, ‘s ist schon recht! Der da ist‘snoch nicht, aber wir werden schon zum rechten kommen!“Aber bei jedem mißlungenen Nachforschen fühlte erweniger und weniger Zuversicht, und schließlich beganner auf gut Glück in jeden sich öffnenden Gang einzulenken,in der verzweifelten Hoffnung, zu finden, was so bitternot tat. Er sagte immer noch: „‘s wäre recht,“ aber aufseinem Herzen lastete solch lähmende Angst, daß die Worteihren Klang verloren hatten und klangen, als habe ergesagt: „Alles ist verloren.“ Becky, halbtot vor Furcht,schmiegte sich an ihn und versuchte, krampfhaft die Tränenzurückzuhalten, aber sie kamen doch. Schließlich sagte sie:„O, Tom, was tun die Fledermäuse. Laß uns denselbenWeg zurückgehen! Wir kommen ja weiter und immerweiter ab.“
Tom blieb stehen „Horch,“ sagte er.
Tiefe Stille; so tiefe Stille, daß sogar ihr Atem hörbarwurde. Tom schrie. Der Schall dröhnte durch diehohlen Gänge und erzeugte hundertfaches Echo, um in derFerne in einem schwachen Ton zu ersterben, der wie höhnischesLachen klang.
„O, tu‘s nicht wieder, Tom! ‘s ist zu gräßlich,“flehte Becky.
„‘s ist gräßlich, aber ‘s muß sein, Becky. Sie könntenuns doch hören, weißt du.“
Und er schrie abermals. Dieses „könnte“ war ebensoschrecklich wie das höhnische Lachen, es sprach so völligeHoffnungslosigkeit daraus. Die Kinder verharrten inSchweigen und lauschten. Aber nichts war zu hören.Plötzlich wandte Tom sich auf demselben Weg zurück undbeeilte seine Schritte. Es dauerte gar nicht lange, da enthüllteeine gewisse Unsicherheit in seinen BewegungenBecky eine neue schreckliche Tatsache: er konnte den Wegnicht wiederfinden!
„Ach, Tom, du hast keine Zeichen mehr gemacht!“
„Becky, was war ich für ‘n Esel! Was für ‘n Esel!Dachte gar nicht dran, daß wir wieder zurück müßten.Und jetzt kann ich den Weg nicht mehr finden; ‘s geht jaso durch‘nander!“
„Tom, Tom, wir sind verloren! wir sind verloren!Nie, nie wieder kommen wir aus dieser gräßlichen Höhleheraus! Ach, warum sind wir nicht bei den anderengeblieben!“
Sie sank nieder und brach in so herzzerreißendes Weinenaus, daß Tom von dem Gedanken gepackt wurde, siemöchte sterben oder den Verstand verlieren. Er setzte sichzu ihr und legte seinen Arm um sie, sie verbarg ihr Gesichtan seiner Brust, sie weinte sich aus, klagte sich an,zerfloß in nutzloser Reue; und das ferne Echo gab allesals höhnisches Gelächter zurück. Tom bat sie, wieder Mutzu fassen, und sie sagte, sie könne es nicht. Er begann, sichselbst bitter anzuklagen, da er sie in diese fürchterliche Lagegebracht habe. Dies wirkte. Sie sagte, sie wolle wiederHoffnung zu fassen versuchen, sie wolle sich aufraffen undihm folgen, wohin er sie auch führen würde, wenn er nurso etwas nicht wieder reden wolle; denn er sei nicht schlimmerals sie selbst.
So setzten sie sich also wieder in Bewegung — ziellos,lediglich dem Zufall sich überlassend. Alles, was sietun konnten, war ja, vorwärts zu gehen. Währendkurzer Zeit belebte sie schwache Hoffnung, nicht auf Grundirgendwelcher Überlegung, sondern lediglich, weil es inder Natur liegt, zuversichtlich zu sein, so lange Alter unddie Gewohnheit des Mißlingens ihr noch nicht die Schwingengebrochen haben. Plötzlich nahm Tom Beckys Kerzeund blies sie aus. Diese Sparsamkeit sprach schrecklichdeutlich. Worte waren nicht nötig. Becky verstand, undihre Hoffnung starb wieder. Sie wußte, Tom hatte eineganze Kerze und drei oder vier Stückchen in der Tasche —und doch mußte er sparen!
Dann begann sich Müdigkeit geltend zu machen. DieKinder versuchten, ihr nicht nachzugeben, denn der Gedanke,sich zu setzen und dadurch eine Menge kostbarer Zeitzu verlieren, stachelte sie wieder auf; sich bald in dieser,bald in jener Richtung fortzubewegen, war doch immerhinFortschritt und konnte irgend welchen Erfolg haben;aber sich setzen, hieß den Tod herbeirufen und beschleunigen.
Schließlich versagten Beckys zarte Glieder denDienst, sie setzte sich. Tom blieb bei ihr, und sie sprachenvon zu Hause, ihren Freunden, ihren bequemen Betten,und vor allem — dem Tageslicht! Becky weinte, undTom zermarterte sich das Hirn, um etwas zu ihrer Aufheiterungzu finden, aber all seine ermunternden Wortewaren längst verbrauchte Argumente und klangen wieHohn. Schließlich drückte die Erschöpfung so schwer aufBecky, daß sie in Schlaf verfiel. Tom war glücklich. Ersaß da, starrte in ihr bekümmertes Gesichtchen und sah essich immer mehr aufhellen unter dem Einfluß angenehmerTräume; schließlich breitete sich ein Lächeln darüber aus.Auch auf ihn schien aus diesen friedvollen Gesichtszügenetwas wie Frieden und Vergessenheit überzugehen, seineGedanken verloren sich in vergangenen Tagen und zaubertenschöne Erinnerungen hervor. Während er tief darinversunken war, wachte Becky mit einem reizenden, kleinenLachen auf — aber es erstarb ihr auf den Lippen, und einStöhnen folgte ihm.
„O, wie konnte ich schlafen! Ich wollt‘, ich wär‘nie, nie wieder aufgewacht! Nein, nein, Tom, ‘s ist janicht wahr, Tom! Schau nicht so! Ich will‘s ja nichtwiedersagen!“
„Becky, ich war so froh, daß du schliefst; jetzt bist duwieder stark, und wir werden den Weg heraus schonfinden!“
„Wollen‘s versuchen, Tom! Aber ich hab‘ im Traumso ‘n schönes Land gesehen. Ich glaub‘ dahin gehen wirbeide jetzt.“
„Nein, nein! Sei lieb, Becky, und laß uns gehenund ‘s versuchen.“
Sie standen auf und gingen weiter, Hand in Handund hoffnungslos. Sie versuchten, sich vorzustellen, wielange sie schon in der Höhle seien, aber alles, was siewußten, war, daß es Tage und Wochen schienen, unddoch war‘s nicht möglich, da ihre Kerzen ja immer nochbrannten.
Eine lange Zeit war vergangen — sie hätten nichtsagen können, eine wie lange — als Tom vorschlug, leisezu gehen und zu horchen, ob sie nicht irgendwo Wassertropfen hörten, sie müßten eine Quelle finden. Bald fandensie wirklich eine, und Tom meinte, es sei wieder an derZeit, auszuruhen. Beide waren schrecklich müde, dochBecky erklärte, noch weiter gehen zu können. Sie wundertesich, daß Tom widersprach. Sie verstand das nicht.Sie setzten sich und Tom befestigte seine Kerze an derWand vor ihnen. Wieder wurde ihnen schwer zumute.Lange herrschte tiefes Schweigen. Da wimmerte Becky:„Tom, ich bin so hungrig!“
Tom zog etwas aus der Tasche. „Kennst du das?“fragte er.
Becky lächelte beinahe. „‘s ist unser Hochzeitskuchen,Tom!“
„Ja — wollt‘, ‘s wär‘ so groß wie ‘n Balken, denn‘s ist alles, was wir haben.“
„Ich hab‘s vom Picknick aufbewahrt, Tom, umdavon zu träumen, wie ‘s die erwachsenen Leute mit demHochzeitskuchen machen — aber nun wird‘s unser —“
Sie ließ den Satz unvollendet. Tom teilte denKuchen und Becky aß mit Appetit, während er nur daranherumknapperte. Es gab eine Menge kaltes Wasser —zum Beschluß der Mahlzeit. Bald schlug Becky vor, weiterzu gehen. Tom schwieg einen Augenblick, dann sagte er:
„Becky, kannst du‘s ertragen, wenn ich dir wassage —?“
Becky wurde totenblaß, aber sie sagte, sie dächte.
„Na also, Becky, wir müssen hier bleiben, wo‘s Trinkwassergibt. Dies kleine Stückchen da ist unser letztesLicht!“
Nun brach Becky doch in Tränen aus und wimmerteleise. Tom tat, was er konnte, sie zu beruhigen, aber mitschwachem Erfolg. Schließlich hauchte Becky: „Tom!“
„Na, Becky?“
„Sie müssen uns doch vermissen und nach unssuchen!“
„Gewiß, müssen sie! Selbstverständlich müssen sie!“
„Suchen sie uns wohl jetzt schon, Tom?“
„Na, ich denk‘ doch, sie tun‘s! — Hoff‘ wenigstens,sie tun‘s.“
„Wann mögen Sie uns vermißt haben, Tom?“
„Denk‘ doch — wie sie zum Dampfboot zurückgingen.“
„Tom, ‘s mußte doch dunkel sein — konnten sie‘smerken, daß wir nicht kamen?“
„Glaub‘ kaum. Aber dann mußte deine Mutter esmerken, wie die andern nach Haus kamen.“
Ein erschreckter Blick aus Beckys Augen brachte Tomzur Besinnung, und ihm fiel ein, daß er sich da einemtraurigen Irrtum hingegeben hatte. Becky sollte zur Nachtja gar nicht heimkommen! Die Kinder wurden still undnachdenklich. Dann belehrte ein neuer Anfall von Verzweiflungbei Becky Tom, daß sie denselben Gedankenhatte wie er — daß der Sonntagmorgen zur Hälfte vergehenkonnte, bevor Frau Thatcher erfuhr, daß Becky nichtbei Harpers gewesen sei. Die Kinder hefteten die Augenauf das Kerzenrestchen und beobachteten, wie es erbarmungsloskleiner und immer kleiner wurde; sahen, wieschließlich nur noch ein halber Zoll Docht übrig war; sahendie Flamme flackern, auf und nieder, eine kleine Rauchsäulevon dem Docht aufsteigen, und dann — dann herrschte derSchrecken vollkommener Finsternis.
Wie lange danach Becky allmählich zu dem Bewußtseingelangte, daß sie weinend in Toms Armen lag,wußten beide nicht. Alles, was sie wußten, war, daß nachanscheinend sehr langer Zeit beide aus totenähnlichemSchlaf erwachten und sich ihres Elends wieder bewußtwurden. Tom meinte, es könne Sonntag sein, vielleichtauch Montag. Er versuchte, Becky zum Sprechen zubringen, aber ihr Kummer war zu niederdrückend, sie hattealle Hoffnung verloren. Tom tröstete sie mit der Bemerkung, sie müßten schon lange vermißt sein, und es sei keinZweifel, daß die Suche schon begonnen habe. Er wollteschreien, vielleicht würde doch jemand kommen. Er versuchtees — aber in der Dunkelheit tönte das ferne Echoso gräßlich, daß er‘s nicht zum zweitenmal tun mochte.
Die Stunden flossen dahin, wieder stellte sich quälenderHunger ein. Ein Stück von Toms Kuchenhälfte warnoch da; sie teilten und aßen sie. Aber sie schienen nurhungriger zu werden. Die armseligen Krümel erwecktennur das Verlangen nach mehr.
Plötzlich sagte Tom: „Pscht! Hörst du nichts?“
Beide hielten den Atem an und horchten. Es wurdeetwas wie ein ganz entfernter Ruf hörbar. Sofort antworteteTom, und, Becky an der Hand führend, lief er inder entsprechenden Richtung den Gang entlang. Dannhorchte er wieder; wieder war der Ton hörbar, und, wiees schien, noch näher.
„Sie sind‘s!“ jubelte Tom. „Sie kommen! Kommmit! Becky — jetzt ist alles gut!“
Die Freude der Gefangenen war nahezu überwältigend.Das Vorwärtskommen war indessen schwer, weiles hier zahlreiche Spalten gab, man mußte daher äußerstvorsichtig sein. Bald kamen sie an eine und mußten halten.Sie konnte drei Fuß tief sein, aber auch hundert — es warkein Hinüberkommen. Tom legte sich platt nieder undreichte so tief es ihm möglich war. Kein Boden. Siemußten bleiben und warten, bis die Retter kommenwürden. Sie horchten; augenscheinlich klangen die Rufeimmer entfernter. Ein bis zwei Minuten, dann waren sieganz verklungen! Herzbrechende Verzweiflung! Tombrüllte, bis er heiser war, aber vergebens. Er sprach Beckyhoffnungsvoll zu, aber eine Ewigkeit angstvollen Wartensverging, kein Ruf ertönte.
Die Kinder tasteten zur Quelle zurück. Endlosschleppte sich die Zeit hin. Sie schliefen wieder und erwachtenhungrig und trostlos. Tom glaubte, es müsse jetztschon Dienstag sein.
Jetzt kam ihm ein neuer Gedanke. Es gab dichtdabei ein paar Seitengänge. Es würde besser sein, einigevon ihnen zu untersuchen, als die Last der Verzweiflungin Untätigkeit zu tragen. Er nahm eine Drachenleine ausder Tasche, befestigte sie an einer Felskante und er undBecky gingen, Tom voran, indem sich die Leine allmählichabwickelte, vorwärts. Nach zwanzig Schritt endete derGang in einen abfallenden Platz. Tom warf sich auf dieKnie, tastete herum und suchte mit der Hand um die Eckedes Felsens herumzukommen; er machte eine heftige Anstrengung,möglichst weit zu reichen, und sah, nicht zwanzigMeter entfernt, eine menschliche Hand, ein Licht haltend,um eine Ecke erscheinen! Tom stieß ein Triumphgeschreiaus, und plötzlich folgte der Hand der dazu gehörigeKörper — der des Indianer-Joe! Tom erstarrte; er konntekein Glied rühren. Dabei war er höchst überrascht, den„Spanier“ sich Hals über Kopf davonmachen zu sehen.Er wunderte sich, daß Joe seine Stimme nicht erkannt undihm nicht für seine Aussage vor Gericht den Hals abgeschnittenhabe. Das Echo mußte also wohl seineStimme unkenntlich gemacht haben. Zweifellos war esso, dachte er. Der Schreck hatte jeden Muskel in ihm erschlafft.Er beschloß, wenn er noch Kraft genug habe, zurQuelle zurückzukehren, dort bleiben zu wollen, und nichtssolle ihn wieder veranlassen können, sich der Gefahr einesZusammentreffens mit dem Indianer-Joe auszusetzen.Er war besorgt, Becky von dem, was er gesehen habe,nichts merken zu lassen. Er sagte, er habe nur auf gutGlück nochmals gerufen.
Aber Hunger und Trostlosigkeit wurden immer schlimmer.Nochmals eine Zeit tödlichen Einerleis an derQuelle und nochmals ein langer Schlaf brachten ihn zueinem anderen Entschluß. Sie erwachten, von rasendemHunger gequält. Tom glaubte, es müsse Mittwoch oderDonnerstag, vielleicht gar Freitag oder Samstag sein, unddaß die Suche längst aufgegeben sei. Er schlug vor, einenanderen Gang zu untersuchen. Er war jetzt bereit, es mitJoe und allen Schrecken aufzunehmen. Aber Becky warsehr schwach. Sie war in tiefe Empfindungslosigkeit versunkenund wollte nicht gestört sein. Sie erklärte, wo siejetzt sei, warten zu wollen — und zu sterben; es werde janicht mehr lange dauern. Tom solle nur mit der Drachenleineweiter suchen; aber sie beschwor ihn, zuweilenwiederzukommen und mit ihr zu sprechen; und wenn dieschreckliche Stunde gekommen sei, solle er bei ihr sein undihre Hand halten — bis alles vorüber sein würde. Tomküßte sie mit erstickendem Gefühl in der Kehle und zeigtedabei nach Kräften Zuversicht, die Suchenden zu findenoder aber einen Ausweg aus der Höhle. Dann nahm erdie Drachenleine und machte sich, auf Händen und Füßenkriechend, davon, von Hunger gequält und elend vortrüben Ahnungen des Kommenden.
Dreiunddreißigstes Kapitel.
Dienstag-Nachmittag kam und wurde von der Dämmerungabgelöst. Das Dorf St. Petersburg lag wie imTotenschlaf. Die verlorenen Kinder waren nicht gefundenworden. Öffentliche Gebete waren für sie abgehaltenworden; wieviel ungehörte Gebete mochten außerdemzum Himmel gestiegen sein! Aber noch immer kam keinehoffnungsvollere Nachricht aus der Höhle. Die meistenSuchenden hatten ihre Bemühungen aufgegeben undwaren zu ihren täglichen Beschäftigungen zurückgekehrt, danach ihrer Meinung die Kinder endgültig aufgegeben werdenmüßten. Frau Thatcher war sehr krank und lagmeistens im Delirium. Man sagte, es sei herzbrechend, ihrRufen nach ihrem Kinde zu hören, sie den Kopf hebenund minutenlang horchen und sie dann unter Stöhnen sichmutlos wieder in die Kissen werfen zu sehen. Tante Pollywar in vollkommene Schwermut versunken, ihr grauesHaar war fast weiß geworden. Traurig und mutlos beschloßdas Dorf den Dienstag-Abend.
Ungefähr um Mitternacht ertönte wildes Glockengeläut,im Augenblick waren die Straßen erfüllt von halbbekleideten,verschlafenen Menschen, die schrien: „Heraus,heraus — sie sind gefunden! Sie sind gefunden!“ Blechpfannen und Hörner vermehrten noch den Spektakel, dasVolk bildete große Trupps, die dem Fluß zuliefen, umdie Kinder in Empfang zu nehmen, welche in offenemWagen, umgeben von schreienden Bürgern, herangezogenkamen; Hurra über Hurra brüllend, wälzte sich der Zugdurch die Straßen.
Das Dorf wurde illuminiert, niemand ging wiederzu Bett, es war die größte Nacht, die das kleine Nest jeerlebt hatte. Während der ersten halben Stunde zog einewahre Prozession von Bürgern nach Richter ThatchersHaus, riß die Geretteten an sich, um sie zu küssen, drückteFrau Thatchers Hand, suchte vergebens nach Worten, undströmte wieder hinaus, alles mit Tränen überschwemmend.
Tante Pollys Seligkeit war vollkommen und FrauThatchers beinahe. Vollkommen konnte sie erst sein, wennein Bote mit der Glücksnachricht bei ihrem noch immer inder Höhle herumirrenden Mann angelangt sein würde.
Tom lag auf dem Sofa, von begierigen Zuhörernumgeben und erzählte die Geschichte seiner großartigenAbenteuer, hie und da kleine Ausschmückungen anbringend;er schloß mit der Beschreibung, wie er Becky verließ, umeinen neuen Streifzug zu machen; wie er zwei Gänge,so weit seine Leine reichte, verfolgte; wie er auch einedritte untersuchte und eben im Begriff war, umzukehren,als er in weiter Ferne einen schwachen Lichtschimmer entdeckte,der wie Tageslicht erschien; wie er die Leine fortwarfund darauf zukroch, Kopf und Schultern durch eineenge Öffnung preßte und die Ufer des Mississippi vor sichsah. Und wäre es zufällig Nacht gewesen, hätte er denLichtschimmer nicht gesehen und wäre umgekehrt, ohne denGang weiter zu untersuchen! Er erzählte, wie er zu Beckyzurückkehrte, ihr die Nachricht brachte, und sie ihn bat, sienicht durch solchen Unsinn aufzuregen, denn sie sei müde,im Begriff zu sterben und wolle sterben; welche Müheer sich gab, sie zu überzeugen, und wie es ihm endlich gelang,und wie sie dann fast starb vor Freude, als sie hingekrochenund den Tagesschein selbst gesehen habe; wie erzuerst durch das Loch gekrochen sei und dann auch ihr hindurchgeholfenhabe; wie sie dasaßen und vor Entzückenweinten; wie ein paar Leute in einem Boot vorbeikamen,er sie anrief und ihnen ihre Lage und ihren verhungertenZustand schilderte; wie die Leute die ganze Erzählung erstnicht glaubten, „denn,“ sagten sie, „ihr seid fünf Meilenstromabwärts vom Eingang der Höhle,“ sie dann zu sichnahmen, sie in ihr Haus brachten, sie essen und dann biszwei oder drei Stunden nach Dunkelwerden ruhen ließenund sie dann schließlich hierher geleiteten.
Drei Tage und Nächte Aufregung und Hunger in derHöhle ließen sich nicht auf einmal abschütteln, wie Tomund Becky bald bemerkten. Mittwoch und Donnerstagmußten sie das Bett hüten und schienen dabei immerschwächer und schwächer zu werden. Donnerstag konnteTom ein bißchen herumkriechen; am Freitag war er wiederauf den Beinen und am Samstag fast wie sonst. Beckyaber konnte ihr Zimmer erst am Sonntag verlassen, unddann sah sie noch aus, als habe sie eben eine schwereKrankheit durchgemacht.
Tom hörte von Hucks Krankheit und ging am Freitaghin, um ihn zu sehen, wurde aber nicht zugelassen; ebensowenigSamstags und Sonntags. Danach durfte er täglichden Kranken besuchen, doch war ihm verboten, von seinenAbenteuern zu erzählen, um keine Aufregung bei demFreund hervorzurufen. Die Witwe Douglas saß dabeiund paßte auf, daß er gehorchte. Zu Hause erfuhr Tomdas Cardiff Hill-Abenteuer; auch daß der Körper deseinen Strolches, des „Fremden“, im Fluß nahe der Landungsstelledes Dampfbootes gefunden worden sei. Wahrscheinlichwar er auf der Flucht angeschossen worden.
Ungefähr vierzehn Tage nach seiner Wiederherstellungging Tom zu Huck, der inzwischen wieder so weit beiKräften war, um aufregende Neuigkeiten vertragen zukönnen; und Tom wußte einige, die, dachte er, ihn wohlinteressieren könnten. Richter Thatchers Haus lag anToms Weg, und er ging hinein, nach Becky zu sehen. DerRichter und ein paar Freunde zogen Tom ins Gespräch,und jemand fragte ihn ironisch, ob er wohl Lust habe, nochmalsin die Höhle zu gehen. Tom sagte, ja, er glaubewohl, daß er möchte.
Der Richter lachte: „‘s gibt wohl noch mehrere außerdir, Tom, daran zweifle ich nicht im geringsten. Aberdafür ist gesorgt. Niemand soll nochmals in der Höhleverloren gehen.“
„Wieso?“
„Weil ich schon vor zwei Wochen die Eichentür miteisernen Bändern und ‘nem dreifachen Schloß habe versichernlassen; und die Schlüssel habe ich selbst in Verwahrung.“
Tom wurde weiß wie die Wand.
„Was ist‘s mit dem Jungen? Ho — lauf maljemand nach ‘nem Glas Wasser!“
Das Wasser wurde gebracht und Tom ins Gesicht gespritzt.
„Aha — ‘s hilft schon! Na, was war denn Tom?“
„Gott, Herr Richter — in der Höhle drinnen war derIndianer-Joe!“
Vierunddreißigstes Kapitel.
Wenige Minuten genügten, um die Neuigkeit bekanntzu machen, und ein Dutzend Bootsladungen Männerwar unterwegs nach der Douglas-Höhle, denen bald dasvollgestopfte Dampfboot folgte. Tom Sawyer befand sichim gleichen Boot mit dem Richter Thatcher. Als die Türzur Höhle geöffnet wurde, bot sich in der ungewissen Dämmerungdes Ortes ein trauriger Anblick. Der Indianer-Joelag auf der Erde ausgestreckt, tot, das Gesicht fest aneine Lücke in der Tür gepresst, als wenn seine Augen biszum letzten Augenblick an den Anblick der hellen, freienWelt dort draußen geheftet gewesen wären. Tom fühltesich gerührt, denn aus eigener Erfahrung wußte er, wasder Schuft gelitten haben mußte. Sein Mitleid war erregt,aber trotzdem empfand er ein überwältigendes Gefühlder Freiheit und Sicherheit, das ihm deutlich zeigte,was er bisher nur dunkel in sich getragen hatte; wie großseine Furcht vor einem gewaltsamen Tode bei ihm gewesensei, seit er vor Gericht gegen den Blutmenschen Zeugnisabgelegt hatte.
Joes Messer lag dicht bei ihm, die Klinge war abgebrochen;mit grenzenloser Ausdauer hatte er den eichenen,starken Grundbalken der Tür durchschnitten. Freilichwar es vergebliche Ausdauer gewesen, denn der Felsenbildete eine natürliche Schwelle, und an der Härtedieses Hindernisses mußte sein Messer machtlos abgleiten;eine Wirkung zeigte sich auch nur an diesem selbst.Aber auch ohne diesen Steinwall würde alle Mühe umsonstgewesen sein, denn hätte der Indianer auch denBalken ganz entfernen können, so konnte er sich doch unmöglichdurch diesen engen Spalt durchzwängen — under wußte das. So hatte er denn die Arbeit nur verrichtetum etwas zu tun, um die fürchterliche Zeit totzuschlagen,um seinen Geist abzulenken. Gewöhnlich konnte man einhalbes Dutzend Kerzenreste in den Nischen des Eingangsfinden, die von Besuchern dort zurückgelassen waren. Jetztwar nicht eine einzige da. Der Gefangene hatte sie zusammengesuchtund sie gegessen. Auch hatte er ein paarFledermäuse gefangen und sie verzehrt, nichts als dieFlügel übrig lassend. Der arme, unglückliche Menschwar Hungers gestorben. In der Nähe hatte sich durchundenkliche Zeiten ein Tropfsteingebilde vom Bodenherausgebildet — infolge beständigen Wassertropfens vonder Decke. Er hatte die Spitze dieser Säule abgebrochenund einen etwas ausgehöhlten Stein darauf gelegt, woriner die von zwanzig zu zwanzig Minuten regelmäßig wiedurch ein Uhrwerk herunterfallenden Tropfen auffing —einen Teelöffel voll in vierundzwanzig Stunden! DieserTropfen fiel schon, als die Pyramiden neu waren, alsTroja sank, als Rom gegründet wurde, bei der KreuzigungChristi, als der Eroberer nach England kam, als Columbusaussegelte, als das Blutbad von Lexington „neu“ war.Er fällt noch; er wird noch fallen, wenn all die jetzigenDinge durch Vergangenheit Geschichte geworden, durchdie Dämmerung der Sage in die Nacht der Vergessenheitversunken sein werden. Hat alles einen Zweck und eineBestimmung? Mußte dieser Tropfen durch fünftausendJahre fallen, weil er einmal für dieses menschliche Insektnötig werden sollte, und hat er vielleicht in zehntausendJahren noch einmal einen Zweck zu erfüllen? Aber genug.Es sind viele, viele Jahre vergangen, seitdem dieser hilfloseIndianer den Stein aushöhlte, um ein paar unschätzbareWassertropfen aufzufangen; aber bis zum heutigenTage betrachtet jeder Reisende, der die Wunder derDouglas-Höhle kennen zu lernen kommt, am längsten vonallem diesen merkwürdigen Stein und den langsam fallendenTropfen. „Der Becher des Indianer-Joe“ steht unterden Sehenswürdigkeiten der Höhle an erster Stelle; selbst„Aladins Palast“ kann nicht mit ihm verglichen werden.
Der Indianer wurde nahe der Mündung der Höhlebegraben. Das Volk strömte dahin aus dem Dorfe undaus allen Farmen und Niederlassungen sieben Meilen inder Runde zusammen; man schleppte die Kinder und eineMenge Lebensmittel heran und war schließlich von demBegräbnis so befriedigt, als wäre Joe gehängt worden.
Die Beerdigung machte einer äußerst wichtigen Sacheein Ende — der Petition an den Gouverneur für desIndianer-Joes Begnadigung. Sie trug eine endloseMenge Namen; mehrere gerührte, redselige Versammlungen hatten getagt, ein Komitee weiser Frauen lag demGouverneur mit Murren und Klagen in den Ohren undbestürmte ihn, eine mächtige Eselei zu begehen und seinePflicht mit Füßen zu treten. Der Indianer galt alsMörder von fünf Bürgern des Dorfes — aber was tatdas? Wäre er der Teufel selbst gewesen, es hätte sichdoch eine Anzahl Schwächlinge gefunden, die ihre Namenunter ein Begnadigungsgesuch gekritzelt und eine Träneaus ihren beständig übervollen Wasserwerken darauf fallengelassen hätten.
Am Morgen nach dem Begräbnis zog Tom Huck zueiner wichtigen Unterredung an einen geheimen Ort. Huckhatte bereits durch den Walliser und die Witwe Douglasvon Toms Abenteuern gehört, aber Tom meinte, es gäbewohl noch etwas, wovon jene ihm nichts gesagt habendürften; darüber eben wollten sie jetzt sprechen. HucksGesicht verfinsterte sich.
„Weiß schon, was es ist,“ sagte er. „Warst inNummer Zwei und fandst nichts als Schnaps. ‘s hat mirzwar niemand gesagt, daß du‘s warst, aber ich wußtewohl, daß du‘s sein mußtest, sobald ich von dieser Schnaps-Geschichtehörte; und wußte, du hättst das Geld nicht erwischt,weil du sonst auf irgend ‘ne Weise zu mir gekommenwärst und mir‘s gesagt hättest, auch wenn dusonst gegen alle stumm gewesen wärst. Tom, ich glaub‘fast, wir kriegen nie was von dem Schatz zu sehen.“
„Was, Huck, kein Wort red‘ ich von dem Schnapswirt.Du weißt doch, den Sonntag, als ich zum Picknick ging,war in seiner Schenke noch alles in Ordnung. Erinnerstdu dich nicht, daß du in der Nacht wachen solltest?“
„O, sicher. Zwar, ‘s kommt mir vor, als wär‘s einJahr her. ‘s war dieselbe Nacht, wo ich dem Joe zurWitwe nachschlich.“
„Du schlichst ihm nach?“
„Freilich — aber reinen Mund halten! Denk‘ doch,der Joe hat Freunde hinterlassen. Möcht‘ sie doch nichtauf mich hetzen! Wär‘ ich nicht gewesen, säß‘ er jetzt inSicherheit unten in Texas!“
Dann erzählte Huck Tom sein ganzes Abenteuerim Vertrauen, der bisher nur von des Wallisers Anteilan der Sache wußte.
„Aber,“ unterbrach er sich plötzlich, auf die Hauptfragezurückkommend, „wer den Schnaps in NummerZwei entdeckt hat, hat auch‘s Geld in die Finger bekommen,denk‘ ich — auf jeden Fall ist‘s für uns verloren,Tom.“
„Huck — das Geld war gar nicht in Nummer Zwei.“
„Was!?“ Huck starrte seinen Kameraden verdutztan. „Tom, hast du wieder ‘ne Spur von dem Geld?“
„Huck — ‘s ist in der Höhle!“
Hucks Augen leuchteten. „Sag‘s noch mal, Tom!“
„Das Geld ist in der Höhle!“
„Tom — Allmächtiger — jetzt — ist das Ernst oderScherz?“
„Ernst, Huck, so ernst wie alles bei mir. Willst dumitgehn und ‘s rausholen?“
„Denk‘ doch, daß ich will! — Wenn‘s wo liegt, wowir‘s leicht finden können — ohne den Weg zu verlieren —“
„Huck, wir können‘s ohne die geringste Gefahr vonder Welt.“
„Ist mal was! Aber, warum denkst du, daß dasGeld —“
„Huck, du mußt warten, bis wir drin sind. Wennwir‘s nicht finden, geb‘ ich dir meine Trommel — undalles, was ich sonst noch hab‘; verlaß dich drauf!“
„‘s ist gut — ist ‘n Wort. Wann wolln wir?“
„Meinetwegen gleich, wenn du magst. Bist du starkgenug?“
„Ist‘s weit in der Höhle? Bin zwar schon drei bisvier Tage wieder auf den Beinen, aber mehr als ‘neMeile — Tom, ich glaub‘, mehr kann ich nicht.“
„‘s sind ungefähr fünf Meilen auf dem gewöhnlichenWeg, aber den wolln wir nicht gehn, Huck, sondern ‘nenganz kurzen, den niemand kennt außer mir. Huck, ichwerd‘ dich in ‘nem Boot hinfahren. Werd‘ das Boot daanlegen und ‘s wieder zurückrudern, alles ganz allein.Brauchst dich gar nicht drum zu kümmern.“
„Na, Tom, laß uns schnell hin!“
„Schon recht, aber wir brauchen Brot und Fleischund unsere Pfeifen, und ‘nen kleinen Sack und zwei oderdrei Drachenschnüre, und dann noch ‘n paar von den neuartigenDingern, die sie Zündhölzer nennen. Sag‘ dir,ich hätt‘ welche davon brauchen können, wie ich neulichdrin war.“
Kurz nach Mittag liehen sich die Jungen ein kleinesBoot von einem Bürger, der gerade abwesend war undmachten sich auf den Weg. Als sie ein paar Meilen unterhalbder Höhlenbucht waren, sagte Tom: „Sieh mal hier,dies schroffe Ufer da sieht genau so aus, wie sonst an ‘nerbeliebigen Stelle — kein Haus, kein Garten, nichts alsGestrüpp. Aber siehst du die weiße Stelle, wo ein Erdrutschmal gewesen sein mag? Na, das ist eins vonmeinen Kennzeichen. Wollen landen.“
Sie landeten. „Jetzt, Huck — wo wir jetzt stehn,kannst du das Loch berühren, aus dem ich neulich herausgekrochenbin. Schau mal, ob du‘s finden kannst.“
Huck suchte überall herum, fand aber nichts. Tomging stolz auf ein dickes Gewirr von Sumachbüschen zuund sagte: „Hier ist‘s! Schau her, Huck. ‘s ist dieverborgenste Höhle in diesem gesegneten Lande. Daß duaber den Mund hältst! Hab‘ ja schon immer Räuber seinwollen, aber ich wußt‘, daß ich erst so ‘n Ding habenmüßt‘, wie das da, wohin man sich mal verstecken kann.Jetzt haben wir‘s und müssen‘s geheim halten; höchstensdarf‘s der Joe Harper und Ben Rogers wissen, weil‘sdoch ‘ne rechte Bande sein muß, oder ‘s hat gar keinenSchick. ‚Tom Sawyers Räuberbande‘, ‘s klingt mächtiggroßartig, Huck, was?“
„Na, das will ich wohl meinen, Tom! Und wenwollen wir berauben?“
„Na, so ziemlich alle Leute. Auf der Straße auflauern— das ist so die rechte Manier.“
„Und töten die Kerls.“
„Nein — nicht immer. Sperren sie in die Höhle, bissie sich auslösen.“
„Aus — was ist ‚auslösen‘?“
„Na — Geld zahlen. Man zwingt sie, daß ihre Freundefür sie alles, was sie auftreiben können, zusammenscharren;und wenn man sie ‘n Jahr festgehalten hat, und dasGeld ist noch nicht da — dann tötet man sie. ‘s ist allgemeine Sitte so. Bloß die Frauen tötet man nie. Mansperrt sie ein, aber man tötet sie nicht. Sie sind immerganz verdammt schön und reich und schrecklich furchtsam.Man nimmt ihnen die Uhren weg und alles, was sie sonsthaben, aber man nimmt bei ihnen immer den Hut ab undist furchtbar höflich. Niemand ist so höflich wie Räuber —du kannst das in allen Büchern lesen. Und dann — dannverlieben sich die Weiber in uns, und wenn sie ein oderzwei Wochen in der Höhle gewesen sind, hören sie auf, zuheulen, und noch später kannst du sie gar nicht wieder loswerden. Schmeißt man sie ‘raus, kehren sie sofort um undkommen zurück. ‘s ist in allen Büchern so.“
„Na, das ist aber unangenehm, Tom. Glaub‘ doch,Pirat sein ist noch besser.“
„Ja, ‘s ist besser in manchen Dingen, aber Räubersind näher bei zu Hause, und dann haben sie ‘n Zirkusund all das andere.“
Inzwischen waren sie herangekommen und krochen indie Höhle, Tom voran.
Sie gingen bis ans andere Ende des Ganges, befestigtenihre Drachenschnüre und setzten den Weg fort.Wenige Schritte brachten sie an die Quelle, und Tom fühlteeinen kalten Schauder. Er zeigte Huck den noch an derWand klebenden Rest des Kerzendochtes und beschrieb, wieer und Becky das letzte Aufflackern und Erlöschen derFlamme beobachtet hatten.
Die Jungen verfielen jetzt unwillkürlich in Flüsterton,denn die Stille und Finsternis des Ortes lasteten schwerauf ihrem Geist. Sie gingen weiter und bogen dannplötzlich in Toms anderen Gang ein, den sie bis zu dem„Abgrund“ verfolgten, an dem Tom hatte Halt machenmüssen. Die Lichter zeigten ihnen jetzt, daß es ein solchereigentlich nicht sei, sondern nur ein steiler Lehmabhang,zwanzig oder dreißig Fuß tief.
Tom flüsterte: „Jetzt will ich dir was zeigen, Huck!“Er hielt die Kerze in die Höhe und sagte: „Schau‘ soweit um den Felsvorsprung herum, wie du kannst. Siehstdu? Da — auf dem großen Felsblock über dir —“
„Tom, ‘s ist ein Kreuz!“
„Na, und wo ist deine ‚Nummer Zwei‘? ‚Unter demKreuz‘, he? Gerade dort, wo ich den Indianer-Joe seinLicht hinhalten sah, Huck!“
Huck starrte eine Weile auf das geheimnisvolle Zeichenund sagte dann mit zitternder Stimme: „Tom, laß unsmachen, daß wir von hier fortkommen!“
„Wa — a — as? Und den Schatz hier lassen?!“
„Ja — hier lassen! ‘s ist sicher, Joes Geist spukthier herum!“
„Denkt nicht dran, Huck, denkt nicht dran! ‘s ist janicht der Platz, wo er gestorben ist — der ist weit von hieran der Mündung der Höhle — fünf Meilen von hier.“
„Nein, Tom, ‘s ist nicht so. Er geht um, wo ‘s Geldliegt. Ich weiß, wie‘s bei den Geistern ist, so machensie‘s.“
Tom begann zu befürchten, Huck könne recht haben.Mißbehagen beschlich ihn. Aber plötzlich kam ihm eineIdee.
„Schau doch, Huck, was für Schafsköpfe wir wiedermal sind! Indianer-Joes Geist kann nirgends umgehn,wo ‘n Kreuz ist!“
Diese Beweisführung schlug durch. Es ließ sich nichtsdagegen sagen.
Tom machte sich als erster daran, rohe Stufen in dieLehmwand zu hauen. Huck folgte. Vier Gänge öffnetensich von der kleinen Höhlung aus, in der sich der bewußtegroße Felsen befand. Die Jungen untersuchten drei ohneErfolg. In dem der Basis des Felsens am nächsten befindlichenfanden sie eine kleine Nische, in der sich eine AnzahlWolldecken, ein alter Gürtel, ein paar Schinkenschwartenund die sauber abgenagten Knochen von zweibis drei Hühnern vorfanden. Aber keine Geldkiste.
Die Jungen durchsuchten alles wieder und immerwieder — aber vergebens.
Dann meinte Tom: „Er sagte, unter dem Kreuz!Na, dies ist beinahe unter dem Kreuz. Unterm Felsenselbst kann‘s nicht sein, denn der sitzt zu fest.“
Sie suchten immer wieder und wieder und setzten sichschließlich mutlos nieder. Huck wollte nichts einfallen.Aber Tom sagte plötzlich: „Schau mal her, Huck! Aufder einen Seite des Felsens sind ‘n paar Fußspuren undKerzen-Spritzer, auf der anderen Seite sind keine! Wasmeinst du nun? Bitt‘ dich, das Geld ist unter demFelsen! Werd‘ mal gleich im Lehm nachgraben.“
„Kein übler Gedanke, Tom,“ entgegnete Huck mitBewunderung.
Toms „echtes Barlow-Messer“ war im Nu heraus,und er hatte noch nicht fünf Striche getan, als er auf Holzstieß.
„Hoho, Huck, hörst du das?“Huck begann ebenfalls zu graben und zu wühlen. Einpaar Bretter waren bald ausgegraben und beiseite geworfen. Siehatten eine natürliche Spalte verborgen, dieunter den Felsen führte. Tom kroch hinein und leuchtete,so tief er konnte, vermochte das Ende der Spalte aber nichtzu sehen. Er schlug vor, noch weiter zu forschen, krochhinein und geradeswegs hinunter. Er folgte allen Windungendes Spalts, erst nach rechts, dann nach links, Huckimmer hinterdrein. Plötzlich machte Tom eine kurzeWendung und schrie:
„Bei Gott, Huck, schau her!“
Es war die Geldkiste in einem kleinen Loch, danebenein Pulverbehälter, eine Menge Flinten in verschiedenenHüllen, zwei Paar alte Mocassins, ein alter Gürtel und einpaar Kleinigkeiten, alles gründlich durchnäßt durch dasheruntertropfende Wasser.
„Gott im Himmel!“ schrie Huck, mit den Händen imGold wühlend, „sind wir jetzt aber reich, Tom!“
„Huck, ich hab‘ ja immer drauf gerechnet. ‘s ist aberfast zu schön, um dran zu glauben, aber wir haben‘s malsicher — endlich! Wollen‘s nicht hier liegen lassen, sondernmitnehmen; laß mal sehen, ob ich die Kiste aufheben kann!“
Die wog aber über 50 Pfund, Tom konnte sie mitgroßer Anstrengung ein bißchen heben, an Fortschaffenaber war gar nicht zu denken.
„Dacht‘s mir,“ meinte er. „Damals im Gespensterhaustrugen sie, schien‘s, schwer genug daran — merkt‘swohl. Denk‘, ‘s wird gut sein, die kleinen Beutel herzunehmen.“
Bald war das Geld verpackt, und sie schleppten‘sheraus.
„Nun laß uns noch Gewehre und sonst so ‘n Zeugmitnehmen.“ schlug Huck vor.
„Nein, Huck, da lassen! Sind gerad‘ Sachen, diewir brauchen, wenn wir erst Räuber sind. Nehmen‘sseiner Zeit zu unsern Orgien; ‘s ist ein verdammt feinerPlatz für Orgien.“
„Was sind Orgien?“
„Weiß nicht. Aber Räuber halten immer Orgien.also müssen wir doch auch welche halten. Nun komm‘aber, Huck, wir sind hier lang genug gewesen. ‘s ist schonspät, denk‘ ich. Bin außerdem mächtig hungrig. Im Bootwolln wir essen und rauchen.“
Sie schlüpften also hinaus ins Sumachgebüsch, lugtenvorsichtig herum, fanden die Luft rein und waren bald imBoot in vollem Schmausen und Rauchen. Als die Sonnesank, stießen sie vom Ufer und machten sich auf den Weg.Tom huschte im Zwielicht an die Küste heran, und kurzdarauf landeten sie in voller Dunkelheit.
„Jetzt, Huck,“ sagte Tom, „wollen wir ‘s Geld aufdem Boden des Holzschuppens der Witwe verstecken,morgen komm‘ ich dann, wir können‘s zählen und teilen,und dann suchen wir im Wald ‘nen Platz, wo wir‘s sichervergraben können. Jetzt halt dich mal ganz still und bewachdas Zeug, bis ich hinlauf‘ und Benny Taylorskleinen Schubkarren leih‘. Bin in ‘ner Minute wieder da.“
Er verschwand, kehrte sogleich mit dem Karren zurück,legte die zwei kleinen Säcke drauf, befestigte zwei Drachenleinendran und zog an, seinen Schatz hinter sich. Als dieJungen das Haus des Wallisers erreichten, standen siestill, um auszuruhen. Gerade, als sie sich wieder auf denWeg machen wollten, kam der Walliser heraus und rief:
„Hallo, wer da?“
„Huck und Tom Sawyer.“
„‘s ist gut! Kommt nur mit, Jungens, werdet schonüberall gesucht. Na — vorwärts, sputet euch mal! Willden Karren für euch ziehen. Alte Ziegelsteine drin oderaltes Metall?“
„Altes Metall,“ stotterte Tom.
„Dacht‘ mir‘s; alle Jungen machen sich mehr Müheund brauchen mehr Zeit, um für sechs Pence altes Eisenzusammenzuscharren, als sie brauchten, um doppelt so vielGeld durch ordentliche Arbeit zu verdienen. Aber ist maldie menschliche Natur so!“
Die Jungen hätten gern gewußt, wozu die großeEile sei.
„Weiß nicht; werdet‘s sehn, wenn wir zur WitweDouglas kommen.“
Huck sagte ein wenig beunruhigt — denn er warlängst daran gewöhnt, unschuldig angeklagt zu werden:„Mr. Jones, wir haben‘s gewiß nicht getan!“
Der Alte lachte. „Na, weiß doch nicht, Huck, meinJunge. Weiß doch nicht, seid ihr mit der Witwe gutFreund?“
„J — a! Wenigstens ist sie immer freundlich mit mirgewesen.“
„Na also! Warum dann Angst haben?“
Die Frage war noch nicht ganz von Huck beantwortet,als er sich mit Tom in der Witwe Besuchszimmer gestoßenfühlte. Mr. Jones ließ die Karre draußen und folgte.
Das Zimmer war glänzend erleuchtet und alles, wasirgend dazu gehörte, erschienen. Thatchers waren da, Harpers,Rogerses, Tante Polly, Sid, Mary, der Pfarrer, derRedakteur und viele andere, und alle mit feierlichen Gewändernangetan. Alle zeigten feierliche Mienen. TantePolly wurde vor Verlegenheit blutrot und schüttelte denKopf zornig gegen Tom. Niemand konnte indessenleiden wie die beiden Buben. Mr. Jones erklärte: „Tomwar leider nicht zu Haus, so gab ich ihn auf, stieß abergerade bei meiner Tür auf ihn und Huck — so bracht‘ ichsie denn Hals über Kopf mit hierher.“
„Und ‘s war recht von Ihnen,“ entgegnete die Witwe.„Kommt mit, Jungen.“ Sie zog sie in ein Schlafzimmerund sagte: „Jetzt wascht euch und zieht euch ordentlich an.Hier sind zwei neue Anzüge — Hemden, Strümpfe —alles da. Sie sind für dich, Huck, — nein, keinen Dank,Huck! — einer von Mr. Jones, der andere von mir. Denk‘,sie werden euch beiden passen. Zieht sie an. Wir wollenwarten — kommt runter, wenn ihr schön genug seid.“
Damit ging sie.
Fünfunddreißigstes Kapitel.
Tom, wenn wir ‘n Seil finden, können wir famosdurchbrennen,“ sagte Huck, „die Fenster sind nicht hoch!“
„Unsinn — wozu denn durchbrennen?“
„Na, so ‘ne Menge Menschen kann ich nicht aushalten.Kann ich nicht! Ich will raus, Tom!“
„Ach was ‘s ist ja gar nichts! Fürcht‘ mich nicht ‘nbißchen. Will schon für dich mit aufpassen.“
Sid erschien. „Tom,“ sagte er, „Tante hat den ganzenNachmittag auf dich gewartet. Mary hatte deine Sonntagskleiderzurecht gelegt, alles wartete nur auf dich. —Sag‘ mal, ist das da nicht Lehm und Talg auf deinenKleidern?“
„Na, Mr. Siddy, möcht‘ dir raten, nach deinen eigenenSachen zu sehen! — Wozu ist die ganze Geschichte daunten?“
„‘s ist einfach so ‘ne Gesellschaft, wie die WitweDouglas sie ja immer mal gibt. Diesmal ist‘s für denWalliser und seine Söhne, von wegen heut nacht. Unddann — kann auch noch was sagen, wenn ihr‘s wissenwollt —“
„Na, was denn?“
„Der alte Jones wollt‘ der Gesellschaft heut abend ‘negroße Sache erzählen, aber ich hört ‘s ihn heut morgenTante Polly als großes Geheimnis anvertraun, denk‘ aber,‘s ist kein großes Geheimnis mehr. Jedermann weiß es —auch die Witwe, obwohl sie alles tut, um ‘s nicht merkenzu lassen. Oho, Mr. Jones wollte dafür sorgen, daß Huckhier wäre — konnt‘ mit seinem großen Geheimnis nichtohne den Huck fertig werden, wißt ihr!“
„Geheimnis — wovon?“
„Na, daß Huck die Räuber angezeigt hat. Denk‘, Mr.Jones wird ‘ne große Sache aus seinem Geheimnismachen, aber, könnt‘ euch denken, ‘s wird ins Wasserfallen.“
„Sid, wer hat‘s verraten?“
„Na — wer weiß? Irgend jemand hat‘s gesagt, dasist doch genug.“
„Sid, ‘s gibt im ganzen Dorf nur einen, der gemeingenug ist, so was zu tun, das bist du! Wärst duan Hucks Stelle gewesen, du hättest dich schleunigst davongemachtund niemand von den Räubern gesagt. Du kannstnichts tun, was nicht gemein ist, und kannst‘s nicht vertragen,wenn andere für was Gutes gelobt werden. Da— keinen Dank — wie die Witwe sagt!“ Und Tom packteSid an den Ohren und half ihm unter Püffen aus derTür. „Jetzt geh, sag‘s Tante Polly und morgen rechnenwir dann ab!“
Wenige Minuten danach saßen die Gäste an einerlangen Speisetafel; nach guter, alter Sitte waren die Kinder— ein Dutzend — an einem kleinen Seitentischchenzusammengesteckt. Zur rechten Zeit hielt Mr. Jones seineAnsprache, worin er der Witwe für ihre Dankbarkeit dankte,und sagte dann, es gäbe einen anderen, dessen Bescheidenheit —
Und so weiter und so weiter. Da alles die Geschichtekannte, so war die Überraschung etwas mäßig, nur dieWitwe selbst machte verzweifelte Anstrengungen, zu tun,als wisse sie noch von nichts. Sie bewies Huck ihre Dankbarkeitauf so stürmische und zärtliche Manier, daß ihm seinjetziger Zustand noch weit entsetzlicher erschien als derZwang der neuen Kleider und des gesitteten Benehmens.
Die Witwe erklärte, Huck unter ihrem Dach aufnehmenund ihm eine sorgfältige Erziehung geben zuwollen; und wenn sie so viel Geld zurücklegen könne, wollesie ihm später ein anständiges Geschäft übergeben.
Toms Zeit war gekommen. „Huck braucht‘s gar nicht— Huck ist reich,“ sagte er.
Nur die gute Lebensart der Gesellschaft konnte beidiesem vermeintlichen Witz ein allgemeines Gelächter hintanhalten.Aber das Schweigen war doch ein wenigdrückend.
Tom brach es. „Huck hat Geld! Wenn Sie‘s nichtglauben — Huck kann‘s beweisen. O, Sie brauchen nichtzu lächeln, denk‘, ich kann‘s beweisen. Warten Sie nur ‘neMinute.“
Tom rannte hinaus. Die Gesellschaft schaute sichüberrascht an und drang in Huck, der stumm zu sein schien.
„Sid, was ist‘s mit Tom?“ fragte Tante Polly. „Er— na, werd‘ ein anderer klug aus dem Jungen. Ichkann‘s nicht —“
Tom erschien, sich mit den Säcken abschleppend, undTante Polly ließ ihren Satz unbeendet. Tom schüttete dasGeld auf den Tisch und meinte trocken: „Da — was hab‘ich gesagt? Halb Huck seins — halb meins!“
Dieser Anblick machte alle atemlos. Alles schaute nur,niemand konnte sprechen. Dann folgten unartikulierteLaute des Entzückens. Tom sagte, er könne es erklären,und tat‘s. Die Erzählung war lang, aber mächtig spannend.Niemand unterbrach ihn, außer durch Ausrufe, wiesie hier angebracht waren. Als er geendet hatte, meinteMr. Jones: „Dachte ‘ne kleine, besondere Überraschungfür diese Gelegenheit in Hinterhalt zu haben, aber jetzt denk‘ich, ‘s war nichts. Dies da läßt meins furchtbar lumpigerscheinen — kann‘s nicht leugnen.“
Das Geld wurde gezählt. Die Summe belief sichauf etwas über zwölftausend Dollar. Das war mehr, alsirgend einer der Anwesenden jemals beisammen gesehenhatte, obwohl verschiedene unter ihnen waren, die über vielmehr als das in Grundbesitz verfügten.
Sechsunddreißigstes Kapitel.
Der Leser kann sich vorstellen, was für ein kolossalesAufsehen Tom und Huck in dem armen, kleinen DörfchenSt. Petersburg gemacht hatten. Eine solche Summe, aufeinem Fleck, schien nahezu unglaublich. Es wurde darübergeschwatzt, disputiert, phantasiert, bis der Verstand mancherBürger unter dem Einfluß dieser ungesunden Erregungzu wanken begann. Jedes „verhexte“ Haus inSt. Petersburg und der Nachbarschaft wurde durchstöbert,Balken für Balken, die Grundmauern bloßgelegt und aufverborgene Schätze hin untersucht, — und nicht durch Kinder— nein, durch Männer, verflucht ernste, ganz unromantischeMänner meistens. Wo Tom und Huck erschienen,wurden sie gefeiert, bewundert, angestarrt. Sie konnten sichnicht erinnern, daß ihren Bemerkungen bisher Wert beigelegtworden war; jetzt aber waren sie gesucht und geschätzt;alles, was sie taten, erschien bemerkenswert; augenscheinlichhatten sie die Fähigkeit verloren, etwas Gewöhnlicheszu tun oder zu sagen; noch mehr — ihre Vergangenheitwurde unter die Lupe genommen, und man erklärte, essprächen ganz wunderbare Begabungen aus allem, wassie bisher getan hatten. Sogar das Käseblättchen brachtebiographische Skizzen über die beiden Buben.
Die Witwe Douglas legte Hucks Geld zu sechs Prozentan, der Richter Thatcher tat auf Pollys Wunsch dasselbemit Toms Anteil. Jeder von ihnen hatte jetzt einEinkommen, das einfach märchenhaft erschien — einenDollar für jeden Wochentag des Jahres und die Hälfte derSonntage. Es war so viel wie der Geistliche erhielt, —nein, es war das, was er hätte erhalten sollen, denn erbekam nicht alles. Für gewöhnlich genügten in dieseneinfachen Zeiten ein und ein viertel Dollar wöchentlich,um einen Jungen zu ernähren, zu kleiden, zu waschen, ihmWohnung zu schaffen und den Schulbesuch zu ermöglichen.Richter Thatcher hatte eine hohe Meinung von Tomgefaßt. Er sagte, kein gewöhnlicher Junge würde seineTochter jemals aus der Höhle herausgebracht haben. AlsBecky ihrem Vater im strengsten Vertrauen erzählte, wiesie Tom in der Schule vor Prügel bewahrt habe, war ersichtlich bewegt; und als sie gar die heldenhafte Lüge,durch die Tom ihre Schuld auf die eigenen Schultern geladenhatte, berichtete, sagte er im Tone der Überzeugung,es wäre eine edle, großmütige, glänzende Lüge — eineLüge, die wert sei, von Geschlecht zu Geschlecht in Ehrengehalten zu werden, unmittelbar nach George Washingtonsberühmter Wahrheitsliebe.
Becky dachte, ihr Vater habe niemals so stolz undgroßartig ausgesehen, als während er auf und niederlief, mit dem Fuß aufstampfte und dies sagte. Sie gingsofort davon und erzählte Tom davon. Der Richter hoffte,Tom einmal als großen Gesetzgeber oder großen Soldatenoder so zu sehen. Er versicherte, dafür sorgen zu wollen,daß Tom auf die Nationale Militärschule und nachher aufdie beste Gesetzesschule des Landes komme, damit er sichdort für eine dieser Karrieren ausbilden solle — oder auchfür beide.
Huck Finn wurde durch seinen Reichtum und durchden Umstand, daß er sich unter dem Schutze der WitweDouglas befand, in die Gesellschaft eingeführt — nein,hineingestoßen, hineingezerrt — und seine Leiden wurdenbald so schlimm, daß er sie nicht mehr tragen konnte. DieDienerschaft der Witwe striegelte ihn rein und sauber,bürstete ihn und packte ihn nachts in ein gräßliches Bett,in dem sich nicht ein einziger Fleck fand, den er hätte ansHerz pressen und Freund nennen können. Er sollte mitMesser und Gabel essen. Schüsseln, Becher und Tellersollte er benützen; aus Büchern lernen; in die Kirche gehen;sich so manierlich ausdrücken, daß ihm die eigene Sprachefremd erschien. So daß es ihm schließlich vorkam, alswerde er durch diese „Kultivierung“ an Händen undFüßen gebunden.
Drei Wochen trug er sein Mißgeschick tapfer, dannschüttelte er es eines Tages gewaltsam ab. AchtundvierzigStunden hindurch suchte die Witwe in höchster Bestürzungnach ihm. Das ganze Dorf war tief ergriffen; man suchteüberall herum und ließ den Fluß ab nach seiner Leiche.Früh am dritten Tage schlenderte Tom zu ein paar alten,leeren Fässern, die hinter dem jetzt unbenutzten Schlachthausevergessen ihr Dasein fristeten; in einem derselbenfand er den Flüchtling. Huck hatte da geschlafen; ebenhatte er mit einigen gestohlenen Kleinigkeiten sein Frühstückgehalten und lag jetzt gemütlich da, die Pfeife imMunde. Er war ungekämmt, ungewaschen und in dieselbenRuinen von Kleidern gehüllt, die ihm in den goldenenTagen der Freiheit und vollen Glückseligkeit ein sopittoreskes Aussehen gegeben hatten. Tom schalt ihn,erzählte ihm von der durch ihn verursachten, Bestürzungund drängte ihn, nach Haus zurückzukommen. Hucks Gesichtverlor seinen ruhig-zufriedenen Ausdruck und wurdeimmer melancholischer.
„Sag‘ nichts davon, Tom,“ bat er. „Hab‘s versucht,aber ‘s geht nicht, Tom! ‘s ist nichts für mich, pass‘ nichtdafür! Die Witwe ist gut und freundlich gegen mich; aberich kann‘s nicht aushalten. Jeden Tag weckt sie michzur selben Zeit, läßt mich waschen — sie schrubben michnoch zu Tode! läßt mich im Bett schlafen; dann soll ichdiese verdammten Kleider tragen, die mich ersticken, Tom;sie scheinen gar keine Luft durchzulassen und sind so verteufeltfein, daß ich nicht drin sitzen, liegen, mich nirgendshinwerfen kann. Auf ‘ner Kellertreppe bin ich nicht mehrhinuntergerutscht seit — na, ‘s ist wohl schon Jahre her!In die Kirche gehn soll ich und schwitzen und schwitzen —wie ich diese langweiligen Predigten hasse! Nicht mal ‘neFliege fangen darf man, nicht rauchen; dafür soll manalle Sonntage Schuhe tragen! Wenn die Witwe ißt,läutet‘s, wenn sie zu Bett geht, läutet‘s, wenn sie aufsteht,läutet‘s — ‘s ist alles so gräßlich regelmäßig — dashalt der Teufel aus!“
„Na, Huck, das muß aber doch jeder.“
„Tom, ich will ‘ne Ausnahme machen; ich bin nichtjeder, ich kann‘s nicht aushalten! ‘s ist schrecklich, sogezogen zu werden. Und ‘s Essen wird einem so bequemgemacht — so macht‘s mir gar keinen Spaß. Soll fragen,wenn ich fischen will, fragen, wenn ich baden will — Herrgott,um jedes und jedes fragen! Na, und dann nichtsprechen dürfen, wie man‘s gewohnt ist. Könnt‘ ich nichtjeden Tag auf den Heuboden und dort ‘n bißchenschwatzen in meiner Manier, ich müßt‘ krepieren, Tom!Die Alte läßt mich auch nicht rauchen und nicht ‘n bißchenbrüllen, nicht gähnen — nicht mal kratzen, wennjemand dabei ist!“ Dann mit einem Ausbruch ganz besonderenIngrimms: „Und das weiß der Henker — betentut sie den ganzen Tag! Nie hab‘ ich so ‘n Weib gesehen!Mußte fort, Tom, mußte! — Tom, in all das Elendwär‘ ich nicht gekommen, wär‘ nicht das Geld gewesen!Jetzt sei so gut, Tom, nimm du‘s und gib mir zuweilenzehn Cent — nicht zu oft, denn ich geb‘ nichts um ‘neSache, wenn sie nicht schwer zu kriegen ist; und dann —geh‘ hin, bitt‘ mich von der Witwe frei!“
„Ach, Huck, du weißt doch, daß ich das nicht tunkann! ‘s wär‘ unanständig; und dann, wenn du‘s noch‘ne Weile versuchst, wirst du dich schon dran gewöhnen!“
„Dran gewöhnen! Könnt‘ mich auch wohl an ‘nenheißen Ofen gewöhnen, wenn ich lang‘ genug drauf sitzenmüßte! Nein, Tom, ich mag nicht reich sein, und ich willnicht in dem verdammten schläfrigen Hause wohnen. Hab‘den Wald zu lieb und den Fluß und die Berge — und zudenen will ich zurück! Verdammt! Jetzt, wo wir Geldhaben und ‘ne Höhle und alles, was wir als Räuberbrauchen, wirft einem so ‘ne verrückte Tollheit alles übernHaufen!“
Tom ersah seinen Vorteil. „Na, weißt du, Huck, dasReichsein hat mich gar nicht davon abgebracht, Räuberzu werden.“
„Nicht! All ihr guten Geister, sprichst du in wirklichem,todsicherem Ernst, Tom?“
„So todsicher, wie ich hier sitze! Aber, Huck, weißtdu, wir können dich nicht unter uns aufnehmen, wenn dunicht gut erzogen bist.“
Hucks Freude war schon wieder zu Ende. „Könnt‘snicht, Tom? Würd‘s nicht als Pirat gehn?“
„Ja, aber das ist ‘n Unterschied. Ein Räuber ist vielwas Nobleres, als was so ‘n Pirat ist — für gewöhnlich.In den meisten Ländern sind sie furchtbar nobel! ‘s sindHerzöge dabei und so was!“
„Ach, Tom, du bist doch sonst immer so‘n guter Kameradgewesen! Du wirst mich doch nicht ausschließen, Tom,nicht wahr? Du wirst doch das nicht tun, Tom —?“
„Huck, ich möcht‘s ja nicht tun — und ich tät‘sauch nicht, aber was würden die Leute sagen? Pah!würden sie sagen — Tom Sawyers Bande! Schön‘lump‘ge Kerle darunter! Sie würden dabei dich meinen,Huck! Das möchtst du doch nicht, Huck, oder —?“
Huck schwieg eine Weile, in tiefes Nachdenken versunken.Schließlich sagte er:
„Na, dann will ich zur Witwe zurück — auf ‘nenMonat oder so, und sehn, ob ich durchkomm‘ — wenn ichdann eintreten kann, Tom.“
„‘s ist recht, Huck, ist recht! Komm‘ mit, alter Dummkopf,und ich will sehen, ob ich die Witwe bereden kann,dir ‘n bißchen nachzulassen, Huck.“
„Willst du, Tom? Nein, willst du?! ‘s ist wundervoll!Wenn sie mir nur die schlimmsten Sachen nachläßt,will ich heimlich rauchen und fluchen und sehen, daßich durchkomm‘ — oder krepieren. — Wann willst du denndran gehen und ‘ne Bande gründen?“
„O, recht bald, Huck. Meinetwegen können wirnoch diese Woche die Jungen zusammentrommeln und dieEinschwörung vornehmen.“
„Vornehmen — was?“
„Die Einschwörung.“
„Was ist das?“
„Na, halt schwören, zusammenhalten, nie ‘n Geheimniszu verraten, wenn man auch drum gevierteilt werdensollte — und jeden zu töten, und seine ganze Familie, derwas schwatzt.“
„Großartig, Tom — sag‘ dir‘s, einfach großartig!“
„Na, ich glaub‘, ‘s ist‘s! Und das muß natürlich umMitternacht sein, am einsamsten, schrecklichsten Ort, denman finden kann. Ein Gespensterhaus ist das beste, aberso was gibt‘s ja kaum noch.“
„Mitternacht ist gut, Tom!“
„Ja — ‘s ist gut. Und aufs Schwert schwören mußtdu und mit Blut unterzeichnen.“
„Na, das laß ich mir gefallen! ‘s ist ja tausendmalbesser, als Pirat sein. Na, Tom, will mich jetzt an dieWitwe halten und alles tun, bis ich verfaul‘! Und wennich dann mal so ‘n richtiger Räuber bin und alle Welt vonmir spricht, denk‘ ich, wird sie noch stolz sein, daß sie michaus dem Schmutz gezogen hat.“
Schluß.
So endet diese Geschichte. Da es nur die Geschichteeines Jungen sein soll, muß sie hier enden; sie könnte nichtweiter gehen, ohne die eines Mannes zu werden. Wennjemand eine Erzählung über erwachsene Leute schreibt,weiß er genau, wo er aufzuhören hat — bei der Heirat;schreibt er aber über ein unreifes Kind, so muß er aufhören,wo er‘s für passend hält.
Die meisten der in diesem Buch vorkommenden Personenleben noch, sind glücklich und mehren sich.
Vielleicht erscheint es eines Tages als angebracht, dieGeschichte der Jugend wieder aufzunehmen und zu sehen,was für Männer und Frauen aus ihnen geworden sind;darum wird‘s am besten sein, von ihrem jetzigen Lebenhier nichts mehr zu verraten.
*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 30165 ***